4. Fürstin Mary.

[91] 11. Mai.


Ich bin gestern Abend in Pjätigorsk angekommen. Ich habe mir am Ende der Stadt auf dem höchsten Punkte, am Fuße des Maschuk eine Wohnung gemiethet. Bei Sturmwetter werden die Wolken sogar mein Dach berühren. Als ich heut' Morgen gegen fünf Uhr das Fenster öffnete, füllte sich mein Zimmer mit dem Duft der Blumen, die neben dem Hause in einem bescheidenen Garten blühen. Die Zweige der duftenden Süßweichselbäume schauen zu meinem Fenster herein und heißen mich willkommen, – und von Zeit zu Zeit bestreut der Wind meinen Schreibtisch mit ihren kleinen weißen Blättern. Nach drei Seiten habe ich eine herrliche Aussicht: nach Westen die fünf Kuppen des Beschtu mit seiner bläulichen Farbe – gleichend »der letzten Wolke, wenn der Sturm sich gelegt«. Im Norden erhebt sich der Maschuk wie eine persische Mütze und nimmt mir diesen ganzen Theil des Horizonts weg. Nach Osten ist die Aussicht heiterer: Zu meinen Füßen liegt ein junges hübsches Städtchen, worin die Warmbäderquellen sprudeln, und die Sprachen verschiedener Länder ertönen, – und etwas weiter erheben sich amphitheatralisch bläuliche und neblige Berge; und am Horizont zieht sich eine lange silberne Kette schneebedeckter Bergkämme[91] hin, die mit dem Kasbek beginnt und mit dem doppelköpfigen Elbrus schließt ... Wie herrlich muß es sich leben auf einem solchen Flecken Erde! Ein gewisses Gefühl des Wohlbehagens durchströmt alle meine Adern. Die Luft ist rein und frisch wie der Kuß eines Kindes; die Sonne hell, der Himmel blau – was kann ich noch mehr wünschen? Warum sollte man sich durch Leidenschaften, Wünsche oder Bedauern aufregen lassen? ... Allein, es ist Zeit, daß ich mich nach der Elisabethquelle begebe; dort soll sich früh morgens die ganze Badegesellschaft versammeln.

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Als ich den Mittelpunkt der Stadt erreicht hatte, ging ich über den Boulevard, wo ich einigen Gruppen von Badegästen begegnete, die einen ziemlich trübseligen Anblick gewährten und langsamen Schrittes zum Berge hinanstiegen. Es waren zum größten Theil Gutsbesitzerfamilien aus den Steppen. Man erkennt sie als solche sofort an den abgetragenen altmodischen Ueberröcken der Männer und den geschmacklosen Toiletten der Frauen und Töchter. Offenbar kennen diese braven Leute bereits die ganze »badende« Jugend; denn sie sahen mich mit einer gewissen Neugier an; der Petersburger Schnitt meines Ueberrockes schien einen lebhaften Eindruck auf sie zu machen, aber sobald sie meine Epauletten bemerkten, wandten sie sich voll Verachtung ab.

Die Frauen der hier angesessenen Familien, gewissermaßen die Patroninnen des Bades, zeigten sich gnädiger gegen mich. Sie tragen Lorgnetten und haben eine weniger starke Abneigung gegen die Uniform. Mehr als einmal haben sie hier im Kaukasus Gelegenheit gehabt, unter dem numerirten Militärknopfe ein glühendes Herz und unter der weißen Mütze einen gebildeten Kopf zu finden. Diese Damen sind sehr anmuthig, und sie bleiben es lange Zeit! Alljährlich wechseln sie ihre Anbeter, und darin besteht[92] vielleicht das Geheimniß ihrer dauerhaften Liebenswürdigkeit.

Dem schmalen Pfade folgend, der nach der Elisabethquelle führt, begegnete ich einem Haufen Civil- und Militärbeamten, welche, wie ich später erfuhr, eine besondere Menschenklasse bilden unter den Leuten, die an die Kraft des Wassers glauben. Sie trinken, aber kein Wasser; sie gehen wenig spazieren und beschäftigen sich mit den Frauen nur so nebenbei, sie spielen und beklagen sich über Langeweile. Trotzdem spielen sie doch gern den Stutzer: Wenn sie ihr Glas in die Schwefelquelle tauchen, nehmen sie eine akademische Haltung an. Die, welche dem Civildienste angehören, tragen hellblaue Cravatten; die Militärs lassen gern ihre Halskrause über den Uniformskragen hervorblicken. Die Einen wie die Andern tragen eine tiefe Verachtung gegen die Damen in der Provinz zur Schau und seufzen nach den aristokratischen Salons der Hauptstadt, in welchen sie niemals Zutritt haben.

Da bin ich endlich an der Quelle ... In der Nähe derselben, auf einem freien Platze, steht ein Häuschen mit einem rothen Dach, unter welchem sich die Badewanne befindet, und etwas weiter eine Galerie, wo man bei Regenwetter spazieren geht.

Auf einer Bank saßen einige verwundete Offiziere, die Krücken trugen – blasse trübselige Gestalten. Verschiedene Damen gingen raschen Schrittes auf dem Platze auf und ab und erwarteten die Wirkung des Wassers. Ich bemerkte zwei oder drei recht hübsche Gesichtchen unter ihnen.

In den von Weinranken beschatteten Alleen, die sich am Abhange des Maschuk hinziehen, zeigte sich von Zeit zu Zeit der bunte Hut einer Dame, die vermuthlich die Einsamkeit zu zweien liebte, denn so oft sie sichtbar wurde, bemerkte ich neben ihr eine Militärmütze oder einen runden Hut. An einem steilen Abhang ist ein Pavillon erbaut, den man mit dem Namen »Aeolische Harfe« geschmückt[93] hat. Dort vereinigten sich die Liebhaber von schönen Aussichten um ein auf den Elbrus gerichtetes Fernrohr. Unter ihnen befanden sich zwei Erzieher mit ihren Zöglingen, die hier im Bade Genesung von den Skropheln suchten.

Ermüdet blieb ich am Ende des Berges stehen, und mit dem Rücken an eine Ecke des Häuschens gelehnt, betrachtete ich die malerische Landschaft, als mir plötzlich eine bekannte Stimme zurief:

»Petschorin! Bist du schon lange hier?«

Ich wende mich um – Gruschnitzki!

Wir umarmten uns. Ich hatte ihn bei einem Regiment der activen Armee kennen gelernt. Er wurde durch einen Schuß am Fuße verwundet und befindet sich seit einer Woche hier im Bade. Gruschnitzki ist Fähndrich. Er ist erst seit einem Jahr im Dienst. Mit einer ganz besonderen Stutzermanier trägt er seinen dicken Soldatenmantel, an welchem man das Militärkreuz der Georgischen Armee bemerkt. Er ist schön gebaut, hat einen braunen Teint und schwarzes Haar. Auf den ersten Blick möchte man ihn auf fünfundzwanzig Jahre schätzen, obgleich er kaum einundzwanzig hat. Beim Sprechen wirft er den Kopf zurück und zupft jeden Augenblick mit der linken Hand am Schnurrbart, während er sich mit der rechten auf seine Krücke stützt. Er spricht schnell und viel. Er gehört zu jenen Leuten, die für jede Gelegenheit wohlklingende Phrasen in Bereitschaft haben, – die nicht begreifen, wie schön die Einfachheit ist, und die sich wichtig machen mit erhabenen Leidenschaften, ungewöhnlichen Gefühlen und außerordentlichen Leiden. Effect machen – das ist der einzige Genuß, den sie kennen; den Damen in der Provinz verdrehen sie die Köpfe durch ihr romantisches Wesen. Bei herannahendem Alter werden sie entweder friedliche Gutsbesitzer oder Trunkenbolde; zuweilen auch Beides. Sie besitzen oft manche gute Eigenschaft, aber nicht eine Spur von Poesie.[94]

Gruschnitzki declamirt gern. Sobald sich die Unterhaltung nur ein wenig aus dem Kreise der gewöhnlichen Ideen entfernt, gleich überschüttet er Einen mit großen schönen Worten. Es ist mir nie möglich gewesen, mit ihm zu disputiren. Nicht blos, daß er auf die gemachten Einwürfe nicht antwortet, er hört sie nicht einmal an. Sobald man sich einen Augenblick unterbricht, beginnt er eine lange Tirade, die scheinbar in einem gewissen Zusammenhange steht mit dem, was man gesagt, in Wirklichkeit aber nur die Fortsetzung ist seiner eigenen Rede.

Es fehlt ihm nicht an Geist. Seine Epigramme sind bisweilen amüsant, aber niemals treffend und beißend: Er wird niemals seine Gegner mit einem Worte vernichten. Er kennt weder die Menschen noch ihre schwachen Seiten, weil er sich sein ganzes Leben lang nur mit sich selbst beschäftigt hat. Sein Ziel ist – ein Romanheld zu werden. Er hat sich so viel Mühe gegeben, Andere glauben zu machen, daß er ein ganz besonderes, für diese Welt nicht geschaffenes Wesen sei und an irgend einem geheimen Kummer leide, daß er das schließlich fast selbst glaubt. Darum trägt er auch mit solchem Stolz seinen dicken Soldatenmantel. Ich habe ihn durchschaut und deshalb mag er mich nicht leiden, obgleich wir äußerlich in der freundschaftlichsten Weise verkehren. Man betrachtet Gruschnitzki als einen sehr tapfern Soldaten. Ich habe ihn in der Schlacht gesehen: er schwingt seinen Säbel, schreit und stürzt sich mit funkelnden Augen vorwärts. Das ist nicht die echte russische Tapferkeit! ...

Ich mag ihn ebenfalls nicht leiden. Ich fühle, daß wir uns eines Tages auf einem engen Pfade stoßen werden – und daß wird für ihn oder für mich verhängnißvolle Folgen haben.

Seine Abreise nach dem Kaukasus war eine Folge seiner romantischen Ueberspanntheit. Ich bin überzeugt, daß er in dem Augenblick, wo er das väterliche Haus verließ,[95] mit finsterer Miene zu irgend einer hübschen Nachbarin sagte:

»Ich gehe nicht lediglich fort, um die militärische Carrière zu ergreifen, – nein, ich gehe fort, um den Tod zu suchen und um ...«

Und bei diesen Worten wird er, die Augen mit den Händen bedeckend, vermuthlich also fortgefahren haben:

»Nein, Sie werden (oder du wirst) niemals den Grund meiner Verzweiflung erfahren! Ihre reine Seele würde erbeben! Und wozu sollte ich es Ihnen auch sagen? Was bin ich Ihnen? Können Sie mich verstehen? ...« u.s.w.

Er selbst hat mir gesagt, daß die Veranlassung seines Eintritts in die kaukasische Armee ewig ein Geheimniß bleiben würde zwischen ihm und dem Himmel.

Uebrigens muß ich hinzufügen, daß Gruschnitzki dann, wenn er seinen tragischen Mantel ablegt, recht angenehm und amüsant ist. Aber ich bin doch neugierig, ihn in Gegenwart von Frauen zu sehen; ich glaube, dann übertrifft er sich selbst.

Wir begrüßten uns übrigens als alte Freunde. Ich fragte ihn, was für ein Leben man an diesem Badeorte führe, und ob sich bedeutende Persönlichkeiten hier befänden.

»Wir leben hier ziemlich prosaisch,« versetzte er seufzend. »Diejenigen, welche des Morgens Wasser trinken, sind blaß wie alle Kranken; und diejenigen, welche des Abends Wein trinken, sind unerträglich wie alle Gesunden. Es gibt einige Damengesellschaften; nur ist von ihnen kein großes Amüsement zu erwarten; sie spielen Whist, kleiden sich schlecht und sprechen ein schauderhaftes Französisch. In diesem Jahr ist eigentlich nur eine hervorragende Dame gekommen – die Fürstin Ligowski – mit ihrer Tochter, – aus Moskau; aber ich bin nicht mit ihnen bekannt. Mein Soldatenmantel ist gewissermaßen ein Proscriptionszeichen. Die Theilnahme, die er erwecken könnte, wäre nur ein beschimpfendes Almosen.«[96]

In diesem Augenblick kamen zwei Damen zur Quelle; die eine bereits bejahrt, die andere jung und schlank. Ihre Gesichter vermochte ich wegen der Hüte nicht zu sehen, aber sie waren nach den strengsten Regeln des besten Geschmacks gekleidet: nichts Ueberflüssiges. Die jüngere trug ein perlgraues Kleid; ein leichtes seidenes Tuch schlang sich um ihren schönen Hals, flohbraune Stiefelchen schmiegten sich so anmuthig um ihre kleinen Füße, daß selbst derjenige, der in die Geheimnisse der Schönheit nicht eingeweiht war, unfehlbar seufzen mußte, wenn auch nur vor Bewunderung. Ihr leichter, aber edler Gang hatte etwas Kindliches, etwas, wofür man keinen Namen hat, und das nur dem Auge verständlich ist. Als sie an uns vorüberging, verbreitete sich jenes unerklärliche Aroma, das bisweilen die Briefe einer schönen Frau ausströmen.

»Da ist die Fürstin Ligowski,« sagte Gruschnitzki – »und die Dame bei ihr ist ihre Tochter Mary; denn so nennt sie sie nach englischer Weise. Sie sind erst drei Tage hier.«

»Und du kennst schon ihren Namen?«

»Ich habe ihn zufällig gehört,« antwortete er erröthend. »Ich gestehe, daß ich kein Verlangen trage, mit ihnen Bekanntschaft zu machen. Diese stolzen Damen betrachten uns Soldaten als Wilde. Was kümmert es sie, daß sich unter der numerirten Mütze Geist und unter dem dicken Soldatenmantel ein braves Herz befindet.«

»Der arme Soldatenmantel,« sagte ich lachend. »Aber wer ist der Mann, der da auf sie zutritt und ihnen so respectvoll ein Glas Wasser anbietet?«

»Ah, der, das ist Rajewitsch aus Moskau, ein Stutzer und Spieler. Das sieht man gleich an der ungeheueren goldenen Kette, die sich über seine blaue Weste schlängelt. Und dann dieser dicke Stock – als wenn er ihn direct von Robinson Crusoe entlehnt hätte! Und dieser Bart und diese Frisur à la Muschik (russischer Bauer).«[97]

»Du bist boshaft gegen die ganze Menschheit.«

»Habe ich nicht Recht?«

»O, freilich!«

In diesem Augenblick verließen die Damen die Quelle und näherten sich uns. Gruschnitzki nahm sofort mit Hilfe seiner Krücke eine dramatische Haltung an und sagte laut auf Französisch zu mir:

»Mon cher, je hais les hommes pour ne pas les mépriser, car autrement la vie serait une farce trop dégoûtante!«

Die schöne Fürstin wandte sich um und warf dem Redner einen langen Blick zu. Der Ausdruck dieses Blickes war sehr schwer zu bestimmen, aber er war wenigstens nicht ironisch, wozu ich meinem Begleiter innerlich gratulirte.

»Diese Fürstin Mary,« sagte ich zu ihm, »ist wirklich sehr schön. Sie hat wahre Sammetaugen, – ja, ja, Sammetaugen: Ich rathe dir, diesen Ausdruck zu gebrauchen, wenn du von ihren Augen sprichst; die Wimpern, die obern sowol wie die untern, sind so lang, daß die Sonnenstrahlen die Pupillen nicht erreichen können. Ich liebe solche Augen ohne Glanz: sie sind so sanft, es thut einem so wohl, sie zu betrachten! Und dann scheint es mir, daß auch alle ihre Züge schön und regelmäßig sind ... Aber ob sie weiße Zähne hat? Das ist ein sehr wichtiger Punkt! Schade, daß deine schöne französische Phrase sie nicht zum Lachen gereizt hat.«

»Du sprichst von einer schönen Frau wie von einem englischen Pferde,« antwortete mir Gruschnitzki in vorwurfsvollem Tone.

»Mon cher,« versetzte ich und versuchte seinen Ton nachzuahmen, »je méprise les femmes pour ne pas les aimer, car autrement la vie serait un mélodrame trop ridicule.«

Mit diesen Worten wandte ich mich ab und ging meines Weges. Eine halbe Stunde lang promenirte ich in[98] der von Weinranken beschatteten Allee, mitten unter Kalkfelsen und Buschwerk.

Es war heiß geworden, und ich beeilte mich, nach Hause zurückzukehren. Als ich an der Schwefelquelle vorbeikam, blieb ich unter der bedeckten Galerie stehen, um mich in ihrem Schatten ein wenig auszuruhen, und da hatte ich Gelegenheit, Zeuge eines ziemlich merkwürdigen Schauspiels zu sein. Die handelnden Personen waren folgendermaßen vertheilt: Die Fürstin und der Moskauer Stutzer saßen auf einer Bank der Galerie, und sie schienen Beide in ein sehr ernstes Gespräch vertieft. Die Tochter der Fürstin, die vermuthlich soeben ihr letztes Glas getrunken, ging nachdenklich in der Nähe der Quelle auf und ab. Auch Gruschnitzki befand sich bei derselben, im übrigen war der Platz ganz leer.

Ich näherte mich noch einige Schritte und verbarg mich hinter einer Ecke der Galerie. In diesem Augenblick ließ Gruschnitzki sein Glas auf den Sand fallen und strengte sich an, sich zu bücken, um es wieder aufzuheben; aber seine Wunde hinderte ihn daran. Der Aermste! Wie er sich mit Hilfe seines Krückstocks anstrengte – aber ganz umsonst. Sein Gesicht drückte in der That tiefes Leiden aus.

Die Fürstin Mary sah das Alles noch besser als ich.

Leichter als ein Vögelchen eilte sie auf ihn zu, hob das Glas auf und hielt es ihm mit einer unbeschreiblich anmuthigen Bewegung hin; dann erröthete sie, warf einen Blick auf die Galerie, und überzeugt, daß ihre Muttter nichts gesehen, schien sie sich sofort wieder zu fassen. Als Gruschnitzki den Mund aufthat, um ihr zu danken, war sie bereits fort.

Einen Augenblick später kam sie mit ihrer Mutter und dem Stutzer aus der Galerie. Aber als sie an Gruschnitzki vorbeiging, nahm sie einen so würdevollen, stolzen Ausdruck an, – – ja, sie wandte sich nicht einmal um, bemerkte nicht einmal den leidenschaftlichen Blick, mit welchem[99] er ihr den Berg hinunter folgte, bis sie hinter den Linden des Boulevards verschwunden waren ... Aber da gewahrte ich noch einmal ihren Hut, – sie schritt über die Straße und trat in eines der schönsten Häuser von Pjätigorsk; ihre Mutter folgte ihr, und an der Thür verabschiedete sie sich von Rajewitsch.

Erst jetzt bemerkte der arme verliebte Fähndrich meine Gegenwart.

»Hast du gesehen?« sagte er und drückte mir heftig die Hand. »Sie ist ein Engel!«

»Warum denn?« fragte ich mit der aufrichtigsten Miene von der Welt.

»Hast du's denn nicht gesehen?«

»Was denn? Daß sie dir dein Glas aufgehoben hat? Wenn ein Aufseher dagewesen wäre, hätte er ganz dasselbe gethan, und zwar noch etwas schneller, da er ein Trinkgeld erwartet haben würde. Uebrigens ist es sehr natürlich, daß sie Mitleid mit dir hatte – du machtest eine so schauderhafte Grimasse, als du dich auf dein verwundetes Bein lehntest ...«

»Und es hat dich gar nicht afficirt, als du bemerktest, wie in diesem Augenblick ihr Antlitz der Spiegel ihrer Seele war?«

»Nein!«

Ich log. Aber ich wollte ihn zornig machen. Ich habe eine angeborene Neigung zum Widersprechen. Mein ganzes Leben ist nur eine lange Kette von Widersprüchen zwischen meinem Verstande und meinem Herzen. Der Anblick eines Enthusiasten macht mich eisig kalt, und ich glaube, daß häufiger Verkehr mit einem trübseligen phlegmatischen Individuum mich in einen Zustand der Exaltation versetzen würde. Ich muß gestehen, daß sich in diesem Augenblick noch ein anderes, wenig angenehmes Gefühl, das mir aber wohl bekannt ist, leise in mein Herz geschlichen hatte. Dies Gefühl war der Neid. Ich sage ohne Umschweife Neid,[100] weil ich daran gewöhnt bin, mir selbst immer die Wahrheit zu sagen; und ich frage, gibt es einen jungen Mann, der, wenn er einer schönen jungen Frau begegnet, die seine Aufmerksamkeit fesselt, gleichmüthig mit ansehen könnte, wie diese schöne Frau einen Andern, der ihr eben so unbekannt ist wie er selbst, in seiner Gegenwart auszeichnet? ... (Es versteht sich von selbst, daß ein solcher junger Mann in der großen Welt gelebt und seine Eigenliebe vollständig entwickelt haben muß).

Schweigend schritten Gruschnitzki und ich den Berg hinunter und gingen an dem Hause vorüber, in welchem unsere schöne Prinzessin wohnte. Sie saß am Fenster. Gruschnitzki warf ihr, indem er mir die Hand drückte, einen jener zärtlich traurigen Blicke zu, die in der Regel eine so geringe Wirkung auf die Frauen machen.

Ich richtete meine Lorgnette auf sie und bemerkte, daß sie über den Blick meines Begleiters lächelte, während meine kecke Lorgnette sie ärgerte. Und in der That, wie konnte sich ein Offizier der kaukasischen Armee erlauben, sein Augenglas auf eine Moskauer Fürstin zu richten? ...


* * *

13. Mai.


Heut' Morgen hat mich der Doctor besucht. Er heißt Werner, ist aber Russe. Nun, daran ist nichts Auffallendes. Ich habe einen gewissen Iwanoff gekannt, der ein Deutscher war.

Werner ist in mehr als einer Hinsicht ein merkwürdiger Mensch. Er ist Skeptiker und Materialist, wie fast alle Mediciner; aber er ist zugleich Poet, wirklicher Poet, – immer in seinen Handlungen und oft in seinen Reden, obgleich er niemals in seinem Leben zwei Verse geschrieben hat. Er hat alle Falten des menschlichen Herzens untersucht, wie man die Adern eines Kadavers untersucht, aber niemals hat er es verstanden, seine Kenntnisse zu verwerthen. So vermag manchmal der ausgezeichnetste Anatomiker[101] nicht, einen Fieberkranken zu behandeln. In der Regel macht Werner sich im Geheimen über seine Kranken lustig; aber ich habe gesehen, wie er an dem Bette eines sterbenden Soldaten weinte ... Er ist arm und träumt von Millionen und doch würde er des Geldes wegen keinen einzigen Schritt thun. Er sagte mir eines Tages, daß er lieber einem Feinde als einem Freunde einen Dienst erweise; denn, setzte er hinzu, einem Freunde einen Dienst erweisen, heißt seine Güte verkaufen, während nur der Haß des Menschen die Kraft habe, sich zur Höhe eines großmüthigen Gegners zu erheben.

Er hat eine boshafte Zunge. Mehr als einmal haben seine satirischen Ausfälle aus einem gutmüthigen Menschen einen lächerlichen Dummkopf gemacht. Die andern Aerzte des Bades, die eifersüchtig auf ihn sind, haben das Gerücht verbreitet, Werner machte Caricaturen von seinen Kranken, – und seine Kranken wurden wüthend auf ihn und haben ihn fast alle verabschiedet. Seine Freunde, das heißt alle wirklich anständigen Beamten im Kaukasus haben sich vergeblich bemüht, ihm wieder Credit bei den Kranken zu verschaffen.

Werner gehört zu denjenigen Menschen, deren Aeußeres auf den ersten Blick nicht gefällt, die aber einen ganz andern Eindruck hervorbringen, sobald man in ihren unregelmäßigen Zügen das Gepräge eines starken edlen Herzens erkannt hat. Es ist nichts Seltenes, daß Frauen sich in solche Männer bis zum Wahnsinn verlieben, und daß sie die Häßlichkeit derselben nicht mit der Schönheit eines Endymion vertauschen möchten. Man muß den Frauen die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie einen Instinkt für die Schönheit der Seele haben, – und das ist auch vielleicht der Grund, weshalb Männer wie Werner die Frauen so leidenschaftlich lieben.

Werner ist klein, mager und schwach wie ein Kind. Wie bei Byron ist der eine seiner Füße kürzer als der andere.[102] Im Vergleich zu dem übrigen Körper ist der Kopf sehr groß. Er trägt das Haar kurzgeschnitten und die Unebenheiten seines Schädels, in dieser Weise bloßgelegt, würden einem Phrenologen durch die Mischung der verschiedenartigsten Neigungen in Erstaunen setzen. Seine kleinen schwarzen, immer unruhigen Augen scheinen unsere innersten Gedanken ergründen zu wollen.

Sein Anzug verräth Geschmack und Sorgfalt. Seine kleinen magern Hände sind mit hellgelben Handschuhen bedeckt. Er trägt beständig einen schwarzen Ueberrock, schwarze Cravatte und schwarze Weste. Die Jugend hat ihn Mephistopheles getauft. Zum Schein protestirt er energisch gegen diesen Namen, aber in Wirklichkeit schmeichelt er seiner Eitelkeit.

Wir haben einander sehr bald verstanden und sind Freunde geworden, – eben darum, weil ich nicht zur Freundschaft geschaffen bin. Von zwei Freunden ist der eine immer der Sklave des andern, wenngleich oft weder der eine noch der andere das eingesteht. Aber ich kann keines Menschen Sklave sein, und was die andere Rolle betrifft, so ist das Herrschen zu ermüdend, denn man muß nicht blos commandiren, sondern auch zugleich täuschen, und zudem habe ich Lakaien und Geld. Ich habe Werner's Bekanntschaft bei S. gemacht. Es gab dort eine zahlreiche und ziemlich geräuschvolle Gesellschaft junger Leute. Das Gespräch kam schließlich auf philosophisch-metaphysische Gegenstände. Man sprach von Ueberzeugungen, und ein Jeder gab die seine zum Besten.

»Was mich betrifft,« sprach der Doctor, »so bin ich nur einer einzigen Ueberzeugung.«

»Und die ist?« fragte ich; denn ich war begierig, die Meinung eines Mannes kennen zu lernen, der bis dahin den Mund nicht aufgethan hatte.

»Daß ich früher oder später eines schönen Morgens sterben werde.«[103]

»Nun, da bin ich reicher als Sie,« versetzte ich, »denn ich weiß außerdem, daß ich an einem sehr schlechten Abend das Unglück hatte, geboren zu werden.«

Alle Anwesenden erklärten, daß wir dummes Zeug schwätzten, aber es war in der That Niemand da, der etwas Vernünftigeres gesagt hätte, als wir.

Seit diesem Tage trennten wir uns von dem großen Haufen. Wir gingen oft zusammen spazieren und besprachen mit feierlichem Ernst die abgezogensten Gegenstände, bis wir endlich bemerkten, daß wir uns gegenseitig täuschten. Da blickten wir uns vielsagend in die Augen und brachen, wie nach Cicero's Versicherung die römischen Auguren, in Lachen aus – und als wir uns ausgelacht, gingen wir sehr zufrieden auseinander.

Ich lag auf einem Sofa, die Augen nach der Decke gerichtet und die Arme unter dem Kopfe gekreuzt, als Werner in mein Zimmer trat. Er stellte seinen Stock in die Ecke, setzte sich in einen Lehnstuhl, gähnte und theilte mir dann mit, daß es draußen sehr warm sei.

Ich erwiderte, daß ich sehr von den Mücken belästigt würde – und wir beobachteten beide Schweigen.

»Haben Sie schon die Beobachtung gemacht, lieber Doctor,« bemerkte ich endlich, »daß es ohne die Dummköpfe sehr langweilig hier auf Erden wäre? ... Da sitzen oder liegen wir zwei klugen Leute einander gegenüber. Wir wissen zum Voraus, daß man über Alles bis ins Unendliche disputiren kann, und darum disputiren wir gar nicht. Jeder von uns kennt fast alle geheimen Gedanken des Andern. Ein einziges Wort genügt, um uns eine ganze Geschichte mitzutheilen; wir erkennen den Keim jedes unserer Gefühle durch seine dreifache Hülle hindurch. Was Anderen traurig erscheint, finden wir lächerlich, und was lächerlich ist, erscheint uns betrübend, – und doch sind wir gegen Alles, was nicht unsere eigene Person angeht, ziemlich gleichgiltig. Unter solchen Umständen ist auch ein gegenseitiger[104] Austausch von Gedanken und Gefühlen bei uns nicht möglich. Wir wissen Einer von dem Andern Alles, was wir wissen können; und mehr wollen wir nicht wissen. Es bleibt uns nur ein Mittel, die Unterhaltung zu beleben, nämlich uns Neuigkeiten zu erzählen. Erzählen Sie mir irgend eine Neuigkeit.«

Ermüdet durch diese lange Rede schloß ich die Augen und gähnte.

Nach einigem Nachdenken antwortete der Doctor:

»In all dem Galimathias ist doch noch ein Gedanke.«

»Zwei!« versetzte ich.

»Gut. Sagen Sie mir den einen; ich werde Ihnen den andern sagen.«

»Sehr schön. Beginnen Sie,« erwiderte ich, indem ich wieder zur Decke blickte und innerlich lächelte.

»Sie wünschen einige nähere Angaben über die Personen, die sich hier im Bade befinden, und ich er rathe schon, mit welchen Sie sich beschäftigen, denn sie haben sich schon nach Ihnen erkundigt.«

»Doctor, wir haben wirklich nicht nöthig, uns etwas zu erzählen; wir lesen gegenseitig in unserer Seele.«

»Und jetzt der andere Gedanke.«

»Der zweite Gedanke ist dieser: Ich wollte Sie zum Erzählen veranlassen, erstens, weil das Zuhören weniger ermüdend für mich ist als das Reden; zweitens, weil ich Ihnen dann nicht zu widersprechen brauche; drittens, weil ich auf diese Weise vielleicht irgend ein fremdes Geheimniß erfahre, und viertens, weil kluge Leute wie Sie lieber reden als zuhören. Und nun zur Sache: Was hat Ihnen die alte Fürstin Ligowski von mir erzählt?«

»Sind Sie denn so überzeugt, daß die Mutter und nicht die Tochter von Ihnen gesprochen hat?«

»Vollkommen!«

»Warum?«[105]

»Weil die Tochter sich bei Ihnen nach Gruschnitzki erkundigt hat.«

»Sie besitzen in hohem Grade die Gabe der Combination ... Nun ja, die junge Fürstin sagte zu mir, sie sei überzeugt, dieser junge Mann im Soldatenmantel sei wegen eines Duells degradirt worden ...«

»Ich hoffe, Sie haben sie in dieser angenehmen Illusion gelassen ...«

»Selbstredend ...«

»Der Knoten ist geschürzt,« rief ich entzückt aus; »für die Lösung werden wir schon sorgen. Es ist klar, das Schicksal hat Mitleid mit mir; es gibt mir ein Mittel gegen die Langeweile.«

»Ich sehe voraus,« fuhr der Doctor fort, »daß der arme Gruschnitzki Ihr Opfer werden wird ...«

»Weiter, Doctor!«

»Die Fürstin Mutter sagte mir, Ihr Gesicht sei ihr nicht unbekannt. Ich bemerkte ihr, sie würde Ihnen wahrscheinlich in Petersburg in irgend einem Salon begegnet sein .... und ich nannte Ihren Namen. Er war ihr bekannt. Wie es scheint, haben Ihre Abenteuer viel Lärm gemacht ... Sie hat mir verschiedene erzählt, indem sie, vermuthlich nach dem Recept der bösen Zungen, ihre Bemerkungen hinzufügte ... Ihre Tochter hörte neugierig zu. Ihre Phantasie hat einen neumodischen Romanhelden aus Ihnen gemacht ... Ich habe der Fürstin nicht widersprochen, obgleich ich wußte, daß sie manches dumme Zeug zum Besten gab.«

»Würdiger Freund!« rief ich aus und streckte dem Doctor meine Hand entgegen.

Er drückte sie mit Gefühl und fuhr fort:

»Wenn Sie wollen, stell' ich Sie vor ...«

»Aber ich bitte Sie!« rief ich. »Stellt man denn einen Helden vor! Der Held darf nur in dem Augenblick erscheinen, wo er seine Geliebte vom sichern Tode errettet ...«[106]

»Und wollen Sie in der That der jungen Fürstin den Hof machen?«

»Durchaus nicht! ... Doctor, endlich triumphire ich. Sie haben meine Gedanken nicht errathen! ... Und doch,« fuhr ich nach einem Augenblick des Schweigens fort, »mischt sich ein Gefühl der Traurigkeit in mein Siegesbewußtsein. Sehen Sie, ich offenbare nie selbst meine Geheimnisse, aber es ist mir sehr lieb, wenn Andere sie errathen, denn in diesem Fall kann ich sie immer verläugnen, wenn ich das für gut finde. Aber erzählen Sie mir weiter von Mama und Tochter. Was sind sie für Frauen?«

»Was zunächst die Mutter betrifft,« antwortete Werner, »sie ist eine Frau von fünfundvierzig Jahren – ausgezeichneter Magen –, verdorbenes Blut –, rothe Flecken im Gesicht. Die letzte Hälfte ihres Lebens hat sie in Moskau verlebt und ist dort in ihrer Zurückgezogenheit beleibt geworden. Sie hört gern anstößige Anekdoten erzählen und gibt selbst bisweilen solche zum Besten, wenn die Tochter nicht im Zimmer ist. Sie hat mir erklärt, ihre Tochter sei unschuldig wie eine Taube. Was geht das mich an? ... Ich hätte ihr gern geantwortet, sie möchte sich nur beruhigen, ich würde dies Geheimniß keinem Menschen verrathen.«

»Die Fürstin Mutter läßt sich vom Rheumatismus curiren; an welcher Krankheit die Tochter leidet, weiß ich nicht. Ich habe Beiden täglich zwei Glas schwefelhaltiges Wasser und wöchentlich zwei Bäder in dem Bassin der Quelle verordnet. Die alte Fürstin ist, wie es scheint, ans Befehlen nicht gewöhnt; sie bewundert den Geist und das Wissen ihrer Tochter, die Byron im Original liest und Algebra versteht. Offenbar legen sich in Moskau die jungen Damen auf ernste Studien, und daran thun sie wohl! Im Allgemeinen sind unsere jungen Männer so unliebenswürdig, daß es bei geistvollen Frauen viel Selbstverläugnung erheischt, mit ihnen zu kokettiren. Die Fürstin sieht gern junge Leute; ihre Tochter dagegen betrachtet sie mit einer[107] gewissen Verachtung – eine Moskauer Gewohnheit! In Folge ihrer Erziehung reden und benehmen sich die Moskauer jungen Damen wie vierzigjährige Männer.«

»Haben Sie denn in Moskau gelebt, Doctor?«

»Ja, ich hatte dort eine ziemlich gute Praxis.«

»Fahren Sie fort.«

»Ich glaube, ich habe Alles gesagt ... nein, noch Eins: Die junge Fürstin scheint es zu lieben, über Gefühle, Leidenschaften und dergleichen zu reden. Sie hat einen Winter in Petersburg verlebt; aber die Residenz hat ihr nicht gefallen, und noch weniger die dortige Gesellschaft. Wahrscheinlich hat man sie kalt empfangen.«

»Haben Sie heut' Niemand bei ihr gesehen?«

»Ja, einen Adjutanten, einen Garde-Offizier – einen sehr aufgeblasenen Menschen – und eine erst kürzlich angekommene Dame, die durch ihren Mann mit der Fürstin verwandt ist, eine sehr schöne Frau, aber wie es scheint, auch sehr krank ... Haben Sie sie heut' Morgen bei der Quelle nicht bemerkt? – mittlere Größe, Blondine, regelmäßige Züge, schwindsüchtige Gesichtsfarbe und auf der rechten Wange ein kleiner schwarzer Fleck. Der Ausdruck dieses Gesichts ist mir aufgefallen.«

»Ein kleiner Fleck,« murmelte ich durch die Zähne. »Ist's möglich!«

Der Doctor sah mich an, legte mir die Hand aufs Herz und sagte triumphirend:

»Sie ist Ihnen bekannt.«

Mein Herz schlug in der That heftiger als gewöhnlich.

»Dies Mal,« versetzte ich, »ist an Ihnen die Reihe zu triumphiren. Aber ich muß mich Ihnen anvertrauen; Sie dürfen mich nicht täuschen. Ich habe sie noch nicht gesehen. Allein nach der Schilderung, die Sie mir von ihr entworfen, erkenne ich in ihr eine Frau, die ich einstens liebte ... Sagen Sie ihr kein Wort von mir; und wenn[108] sie Sie fragen sollte, reden Sie so ungünstig wie möglich von mir.«

»Ihr Wille geschehe,« sprach Werner achselzuckend.

Als er fortgegangen war, schnürte mir eine schreckliche Traurigkeit das Herz zusammen. Ist es der Zufall, der uns von neuem im Kaukasus vereint hat? Oder ist sie hierhergekommen mit der Gewißheit, mich hier zu treffen? Und wie werden wir uns wieder begegnen? ... Und dann? ...

Meine Ahnungen haben mich nie getäuscht. Ueber keinen Menschen in der Welt hat die Vergangenheit eine solche Gewalt, wie über mich. Jede Erinnerung an eine Freude oder ein Leid fällt unerbittlich in meine Seele, ohne daß die Eindrücke sich abschwächen ...

Ich bin ganz abscheulich organisirt: Ich vergesse nichts – gar nichts!

Nach dem Essen, gegen sechs Uhr, begab ich mich nach dem Boulevard, wo sich die Mehrzahl der Badegäste vereinigt fand. Die Prinzessin und ihre Tochter saßen auf einer Bank, umgeben von einer Schaar junger Leute, die in Liebenswürdigkeiten miteinander wetteiferten. Ich setzte mich in einiger Entfernung auf eine andere Bank neben zwei Offiziere meiner Bekanntschaft und begann diesen etwas zu erzählen; sie mußten das wol sehr amüsant finden; denn sie lachten aus vollem Halse. Die Neugier zog einige von den Curmachern der jungen Fürstin zu mir herüber; dies Beispiel wirkte ansteckend; bald sahen sich die Damen vollständig verlassen. Ich blieb am Reden. Meine Anekdoten waren witzig bis zur Albernheit; meine Bemerkungen über vorübergehende originelle Badegäste waren voll boshaftester Ironie ... In dieser Weise fuhr ich fort, mein Publikum zu erheitern bis zum Sonnenuntergang.

Mehr als einmal war die junge Fürstin am Arm ihrer Mutter, die von einem hinkenden kleinen Greise geführt wurde, an uns vorübergekommen; mehr als einmal hatte[109] sie mir einen Blick zugeworfen, der hellen Aerger ausdrückte, obgleich sie sich bemühte, ihm einen Ausdruck von Gleichgiltigkeit zu geben.

»Was hat er Ihnen denn erzählt?« fragte sie einen der jungen Leute, die aus Höflichkeit zu ihr zurückgekehrt waren. »Ohne Zweifel eine sehr interessante Geschichte – einige seiner Heldenthaten auf dem Schlachtfelde ...«

Sie sagte das sehr laut, wahrscheinlich in der Absicht, mich zu verletzen.

Aha, dachte ich. Ja, ja, meine schöne Fürstin, Sie haben Ursache, böse auf mich zu sein. Geduld, es kommt noch besser!

Gruschnitzki folgte ihr wie ein Raubthier; er verlor sie keinen Augenblick aus den Augen. Ich möchte wetten, daß er schon morgen Jemand ersucht, ihn der Fürstin vorzustellen. Sie wird darüber hoch erfreut sein, denn sie langweilt sich.


* * *

16. Mai.


Seit zwei Tagen haben meine Angelegenheiten ganz ungewöhnliche Fortschritte gemacht. Ganz entschieden, die junge Fürstin haßt mich. Sie hat mir bereits zwei oder drei sehr beißende aber zugleich sehr schmeichelhafte Epigramme an den Kopf geworfen. Sie findet es im höchsten Grade auffallend, daß ich, der ich an die vornehmste Gesellschaft gewöhnt bin, und auf einem sehr freundschaftlichen Fuße stehe mit ihren Petersburger Cousinen und Tanten, nicht den Versuch mache, mich ihrer Mutter vorstellen zu lassen.

Wir begegnen uns täglich an der Quelle und auf dem Boulevard. Ich scheue keine Mühe, ihr nach und nach alle Anbeter zu entführen: die glänzenden Adjutanten, die blassen Moskauer und die Andern – und es glückt mir fast immer. Früher konnte ich mich nicht dazu entschließen, Gäste bei mir zu sehen; jetzt ist mein Haus alle Tage voll.[110] Man dinirt, soupirt und spielt, – und leider übt mein Champagner eine mächtigere Wirkung aus als die magnetische Kraft ihrer schönen Augen.

Gestern traf ich sie in einem vornehmen Verkaufsmagazin. Sie wollte einen prachtvollen persischen Teppich kaufen. Sie bat die Mama, nicht auf den Preis zu sehen: der Teppich würde sich in ihrem Cabinet so schön ausnehmen! ... Ich bot vierzig Rubel mehr, und der Teppich war mein.

Ich ward mit einem Blicke belohnt, in welchem die hellste Wuth glühte. Um die Zeit des Diners ließ ich mein Tscherkessenpferd, bedeckt mit diesem selben Teppich, unter ihren Fenstern vorüberführen. Werner befand sich in diesem Augenblick gerade bei ihnen, und er hat mir gesagt, der Effect sei höchst dramatisch gewesen. Fürstin Mary will eine Verschwörung gegen mich anzetteln. Schon habe ich bemerkt, daß die beiden Adjutanten mich sehr frostig grüßen, wenn sie sich in ihrer Gesellschaft befinden, was sie jedoch nicht hindert, alle Tage bei mir zu speisen.

Gruschnitzki trägt eine geheimnißvolle Miene zur Schau. Er geht mit auf dem Rücken gekreuzten Armen umher und erkennt keinen Menschen. Sein Fuß ist urplötzlich geheilt; kaum daß er noch ein wenig hinkt. Er hat Gelegenheit gefunden, mit der alten Fürstin zu reden, und ihrer Tochter irgend ein Compliment zu sagen. Sie muß nicht sehr wählerisch sein, denn seit dem Tage beantwortet sie seinen Gruß mit dem anmuthigsten Lächeln.

»Aber, wirklich,« sagte er gestern zu mir, »willst du denn nicht die Bekanntschaft der Fürstin Ligowski machen?«

»Durchaus nicht.«

»Aber, ich bitte dich! Das angenehmste Haus in der ganzen Stadt! Man sieht dort die feinste Gesellschaft ...«

»Mein Lieber, die feinste Gesellschaft langweilt mich überall. Und verkehrst du denn in diesem Hause?«

»Noch nicht. Ich habe zwei-, dreimal mit der jungen[111] Fürstin gesprochen; das ist Alles. Du weißt, es geht nicht an, sich so schnell in ein Haus einführen zu lassen, obgleich das hier üblich ist ... Wenn ich Epauletten trüge, das wäre etwas Anderes ...«

»Ach, geh' doch! So wie du bist, nimmst du dich viel interessanter aus! Du weißt einfach deine günstige Stellung nicht auszunützen ... Dein Soldatenmantel macht dich in den Augen jeder gefühlvollen Dame zu einem Helden und Märtyrer.«

Gruschnitzki lächelte selbstgefällig.

»Welche Albernheit!« sagte er.

»Ich bin überzeugt,« fuhr ich fort, »daß die Fürstin Mary bereits in dich verliebt ist.«

Er erröthete bis an die Ohren und blähte sich stolz auf.

O, Eigenliebe! Du bist der Hebel, mit welchem Archimedes die Erde aus ihren Angeln heben wollte.

»Du machst dich über Alles lustig,« versetzte er und that, als ob er böse sei. »Erstens kennt sie mich noch so wenig ...«

»Die Frauen lieben gerade diejenigen, die sie nicht kennen.«

»Aber ich habe gar nicht die Prätension, ihr zu gefallen; ich wünsche lediglich, in einem angenehmen Hause zu verkehren. Es wäre sehr lächerlich von mir, wollte ich gewisse Hoffnungen nähren ... Mit Euch z.B. ist es etwas Anderes; Euch umschwebt der Petersburger Nimbus; Ihr braucht Euch nur zu zeigen, und das Eis um die Frauenherzen schmilzt ... Aber weißt du auch, Petschorin, daß die junge Fürstin mir von dir gesprochen hat?«

»Wie, sie hat bereits mit dir von mir gesprochen?«

»Ja, aber freilich nicht sehr viel. Ich gerieth bei der Quelle mit ihr in ein Gespräch, ganz zufällig. Kaum hatte sie drei Worte gesprochen, da sagte sie: Wer ist der Herr, der einen so unangenehmen, finstern Blick hat? Er war bei Ihnen, als ...«[112]

Sie erröthete und wollte nicht an den Tag erinnern, wo sie mir so zartfühlend das Glas aufhob.

»Sie brauchen jenen Tag nicht anzudeuten,« antwortete ich ihr; »er wird mir ewig in der Erinnerung bleiben ...« Mein Freund Petschorin, ich kann dich nicht beglückwünschen, du stehst bei ihr schwarz angeschrieben ... Und das ist wirklich schade, denn Mary ist ein so reizendes Wesen!

Es muß hier bemerkt werden, daß Gruschnitzki zu den Leuten gehört, die, wenn sie von einer Dame reden, mit der sie kaum bekannt sind, gleich meine Mary, meine Sophie sagen, wenn sie das Glück gehabt, ihnen zu gefallen.

Ich nahm eine ernste Miene an und antwortete:

»Ja, sie ist nicht übel ... aber nimm dich in Acht, Gruschnitzki! Die russischen Aristokratinnen begnügen sich in der Regel mit der platonischen Liebe, wenn sie's nicht auf eine Heirath abgesehen haben; und die platonische Liebe ist die aufregendste. Die junge Fürstin scheint zu den Frauen zu gehören, die amüsirt sein wollen; wenn es ihr passirt, daß sie sich nur einmal bei dir langweilt, bist du unrettbar verloren. Dein Schweigen muß ihre Neugier erregen und deine Unterhaltung sie niemals vollständig befriedigen; deine Aufgabe wird sein, sie jeden Augenblick aufzuregen; zehnmal wird sie deinetwegen der öffentlichen Meinung zu trotzen scheinen. Sie wird sich dessen später als eines Opfers rühmen und sich vollkommen berechtigt halten, dich dafür zu quälen und dir dann eines schönen Tages ganz einfach zu erklären, sie möge dich nicht ausstehen. Wenn du nach dem ersten Kusse nicht einen wirklichen Einfluß auf sie gewinnst, so wirst du keinen zweiten erhalten. Nachdem sie genug mit dir kokettirt hat, wird sie in ein, zwei Jahren irgend einen abscheulichen, häßlichen Mann heirathen, und zwar aus Gehorsam gegen die Mama; zugleich wird sie sich einreden, daß sie unglücklich sei, daß sie nur einen Mann – und zwar dich – geliebt, daß aber der Himmel es ihr nicht hätte erlauben wollen, den Einzigen[113] zu heirathen, weil er einen Soldatenmantel trug, obgleich unter diesem dicken grauen Mantel ein glühendes, edles Herz schlug ...«

Gruschnitzki schlug mit der Faust auf den Tisch und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab.

Ich lachte innerlich und lächelte sogar mehrmals, aber zum Glück merkte er nichts. Es lag auf der Hand, daß er verliebt war; denn er war noch dünkelhafter geworden. Er trug sogar einen silbernen Ring von ganz gewöhnlicher Arbeit am Finger; er kam mir verdächtig vor; ich betrachtete ihn genauer, und was sah ich? ... Der Name Mary, sowie das Datum des Tages, an welchem sie ihm das berühmte Glas aufgehoben, waren hineingravirt. Ich behielt diese Entdeckung für mich. Ich will ihn nicht zu Bekenntnissen nöthigen, ich will, daß er mich selbst zu seinem Vertrauten wählt – und dann, wie werden wir uns dann ergötzen! – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

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Heut' bin ich spät aufgestanden; ich war an der Quelle – noch Niemand anwesend. Es war sehr schwül. Weiße flockige Wolken kamen von den schneebedeckten Bergen herangeeilt und verkündeten Sturm. Der Gipfel des Maschuk rauchte wie eine erlöschende Fackel. Graue Nebel rollten um denselben herum und wanden sich wie Schlangen, die auf ihrem Wege aufgehalten werden, – es war, als hätten sie sich an dem Gebüsch festgehakt.

Die Luft war mit Elektricität geladen. Ich hatte mich in die Weinreben-Allee, die nach der Grotte führt, zurückgezogen. Ich war in trüber Stimmung. Ich dachte an die junge Frau mit dem Fleck auf der Wange, von der mir der Doctor gesprochen ... Warum ist sie hier? Aber ist sie's wirklich? Und wie bin ich auf den Gedanken gekommen, daß sie es sei? Und warum bin ich überzeugt, daß sie es in der That ist? Gibt es nicht viele Frauen, die einen Fleck auf der Wange haben?[114]

In dieser Weise nachgrübelnd, trat ich in die Grotte. Das Erste, was mein Auge in dem etwas feuchten Schatten derselben gewahrt, ist eine Frau, die auf einer steinernen Bank sitzt. Sie hat einen Strohhut auf, ist in ein schwarzes Tuch gehüllt, der Kopf hat sich auf die Brust herabgeneigt, und so entzieht mir der Hut ihre Gesichtszüge.

Ich wollte mich wieder entfernen, um sie nicht in ihrem Sinnen zu stören – da plötzlich bemerkte sie mich.

»Wera!« rief ich unwillkürlich.

Sie erbebte und wurde ganz blaß.

»Ich wußte, daß Sie hier waren,« sagte sie.

Ich setzte mich neben sie und ergriff ihre Hand.

Ein Beben, wie ich es ehemals kannte, durchzuckte meine Adern bei dem Klange dieser geliebten Stimme. Sie schaute mit ihren tiefen ruhigen Augen in meine Augen; es lag darin ein Ausdruck des Mißtrauens und des Tadels.

»Wir haben uns lange nicht gesehen,« sagte ich.

»Sehr lange nicht! Und wir haben uns beide sehr verändert.«

»Mit andern Worten, du liebst mich nicht mehr?«

»Ich bin verheirathet!« sagte sie.

»Zum zweiten Mal? Allein vor einigen Jahren existirte dieser selbe Grund ... und doch ...«

Sie befreite ihre Hand aus der meinigen und ihre Wangen färbten sich mit einem lebhaften Roth.

»Vielleicht liebst du deinen zweiten Mann?«

Sie antwortete nicht und wandte sich ab.

»Oder ist er sehr eifersüchtig?«

Noch immer keine Antwort.

»Er ist wol jung, schön, wahrscheinlich sehr reich? Und du fürchtest ...«

Ich sah sie an und erschrak: Ihr Antlitz drückte tiefe Verzweiflung aus; in ihren Augen schimmerten Thränen.

»Es macht dir also Vergnügen,« flüsterte sie endlich,[115] »mich zu quälen? Ich sollte dich hassen. Seit wir uns kennen, hast du mir nichts als Kummer bereitet ...«

Ihre Stimme bebte; sie hatte sich mir zugeneigt und ihr Köpfchen an meine Brust sinken lassen.

Vielleicht ist das der Grund, dachte ich, weshalb du mich liebtest; die Freuden werden schnell vergessen, die Leiden niemals ...

Ich schloß sie fest in meine Arme, und lange blieben wir so verschlungen. Endlich näherten sich unsere Lippen und einten sich in einem langen feurigen Kuß. Ihre Hände waren kalt wie Eis, aber ihr Kopf brannte.

Dann entspann sich zwischen uns eines jener Gespräche, die man weder niederschreiben, noch erzählen, noch vergessen kann: – der Ton der Stimme ersetzt, ändert und vervollständigt hier die Bedeutung der Worte, wie in einer italienischen Oper.

Sie will entschieden nicht, daß ich mit ihrem Manne Bekanntschaft mache. Es ist jener kleine hinkende Greis, den ich flüchtig auf dem Boulevard sah. Sie hat ihn ihres Sohnes wegen geheirathet; denn er ist reich und leidet an Rheumatismus. Ich habe mir nicht den geringsten Scherz über ihn erlaubt. Sie wird ihn achten wie einen Vater und ihn um die eheliche Treue betrügen. Ein seltsames Ding, dieses Menschenherz ... vor allem aber das Frauenherz! Wera's Gatte, Semen Wassiljewitsch G. ist ein entfernter Verwandter der Fürstin Ligowski. Er wohnt unmittelbar neben ihr. Wera befindet sich häufig bei der Fürstin. Ich habe ihr mein Wort gegeben, mich mit der Fürstin Ligowski bekannt und ihrer Tochter eifrig den Hof zu machen, um die Aufmerksamkeit von ihr abzulenken. Auf diese Weise werden meine Pläne nicht gestört und ich finde meine Freude dabei ...

Ja, meine Freude! ... Ich habe jene Periode des Seelenlebens bereits zurückgelegt, wo man nur das Glück sucht, wo das Herz das unabweisbare Bedürfniß empfindet,[116] irgend einen Gegenstand heftig, leidenschaftlich zu lieben. Jetzt will ich nur geliebt werden und zwar von wenigen. Ich glaube sogar, daß eine einzige beständige Liebe mir genügen würde ... Erbärmliche Gewohnheit des Herzens! ... Eines ist mir immer merkwürdig vorgekommen: Ich bin nie der Sklave einer geliebten Frau gewesen; im Gegentheil, ich habe immer über ihren Willen und ihr Herz eine absolute Gewalt ausgeübt, und zwar ohne jede Anstrengung ... Woher kam das? Lag der Grund vielleicht darin, daß ich mich nie sehr stark fesselte, und daß die Frauen jeden Augenblick fürchteten, ich könnte ihnen entschlüpfen? Oder ist es die magnetische Macht eines starken Organismus? Oder sollte es daher kommen, weil ich nur Frauen von nachgibigem Charakter begegnet bin?

Ich muß gestehen, daß ich die Frauen von Charakter nicht liebe. So etwas kommt ihrer Natur nicht zu ...

Indeß erinnere ich mich, daß ich ein einziges Mal eine Frau mit festem Willen geliebt habe, – eine Frau, die mich hartnäckig zurückstieß ... Wir schieden als Feinde ... Und doch, wenn ich sie fünf Jahre später kennen gelernt, vielleicht hätten wir uns dann anders getrennt.

Wera ist krank, sehr krank, obgleich sie es nicht gestehen will. Ich fürchte, sie hat die Schwindsucht oder jene Krankheit, die man »schleichendes Fieber« nennt – eine Krankheit, die in Rußland gar nicht existirt und für welche man daher in unserer Sprache keinen Namen hat.

Der Sturm brach aus, während wir uns in der Grotte befanden. Er hat uns länger als eine halbe Stunde über unsere Zeit darin zurückgehalten. Wera hat mich nicht genöthigt, ihr Treue zu schwören; sie hat auch nicht gefragt, ob ich seit unserer Trennung andere geliebt .... Sie hat sich mir anvertraut, wie ehemals, mit derselben Harmlosigkeit, und ich werde sie nicht täuschen. Sie ist das einzige Weib in der Welt, das ich nicht würde betrügen können. Ich weiß, daß wir uns bald wieder trennen werden[117] und vielleicht für immer; jeder von uns wird einen andern Weg nach dem Grabe einschlagen; aber ihr Andenken wird niemals aus meiner Seele verwischt werden. Ich sage ihr das unaufhörlich, und sie glaubt mir, obgleich sie das Gegentheil behauptet ... Endlich trennten wir uns. Lange folgten ihr meine Blicke, bis ihr Hut hinter den Gesträuchen und Felsen verschwunden war. Als ich sie nicht mehr sehen konnte, preßte sich mein Herz schmerzlich zusammen, wie damals, als wir uns zum ersten Mal trennten. O, wie glücklich bin ich, daß ich noch dieses Gefühls fähig bin! Sollte die Jugend mit ihren heilsamen Stürmen vielleicht zu mir zurückkehren, oder ist es nur ein Scheideblick – das letzte Geschenk, das sie mir gleichsam als Andenken vermacht? ... Es ist seltsam! Wenn man mich sieht, sollte man mich noch für jung halten. Mein Gesicht, obgleich blaß, hat noch nichts von seiner Frische verloren; meine Glieder sind kräftig und geschmeidig; mein Haar ist noch dicht, die Augen funkeln, rasch rollt das Blut in den Adern ...

Als ich nach Hause zurückgekehrt war, ließ ich mein Pferd satteln und machte einen Ritt in die Steppe. Ich liebe es, auf einem feurigen Roß durch hohes Gras zu galoppiren, um wider den Wind anzukämpfen. Mit Wollust athme ich die duftige Luft der freien Ebene, während mein Blick in die blaue Ferne schweift und die unsicheren Formen der Gegenstände zu erfassen sucht, die mit jedem Augenblick klarer und deutlicher werden. Welches Leid dann mein Herz auch bedrücken, welche Unruhe meinen Geist dann auch verwirren mag, – Alles ist mit einem Mal verschwunden – Alles hat sich plötzlich geklärt; die Seele fühlt sich leichter, die Ermüdung des Körpers triumphirt über die Unruhe des Geistes. Es gibt keinen Frauenblick, den ich nicht vergessen könnte beim Anblick der Berge, der von südlicher Sonne erhellten Wälder, – beim Anblick dieses blauen Himmels, dieser schäumenden Waldströme, die sich von Fels zu Fels herabstürzen ...[118] Ich glaube, die Kosaken, welche gähnend oben auf ihren Schildwachen stehen, haben, als sie mich so ziellos durch die Ebene sprengen sahen, sich lange über mich die Köpfe zerbrochen, wenn sie mich nicht wegen meines Costüms für einen Tscherkessen gehalten haben. Man hat mir in der That versichert, daß ich in diesem Tscherkessenanzuge mehr einem Kabardier gleiche, als mancher wirkliche Kabardier. Und ich muß wirklich gestehen, im Punkte dieses edlen Kriegerkleides bin ich vollständiger Dandy; nicht eine einzige überflüssige Borte, kostbare und doch einfache Waffen; nichts Uebertriebenes an meiner Pelzmütze. Die Stickereien von größter Genauigkeit; ein weißer Beschmet und ein dunkelbrauner Mantel.

Ich habe viel Zeit darauf verwendet, nach Art der Bergbewohner reiten zu lernen, und nichts schmeichelt meiner Eigenliebe mehr, als wenn man meine Gewandtheit in dieser Beziehung anerkennt. Ich habe vier Pferde; eines für mich, die andern für meine Freunde, denn ich würde es unerträglich finden, allein durch die Felder galoppiren zu müssen. Sie benutzen meine Pferde mit Vergnügen, hüten sich aber wohl, mir Gesellschaft zu leisten.

Es war bereits sechs Uhr, als ich mich erinnerte, daß es Zeit zum Essen sei. Auch war mein Pferd müde. Ich schlug einen Weg ein, der von Pjätijorsk nach einer deutschen Colonie führt, wohin sich die Badegäste oft begeben, um ein Picknick zu veranstalten. Dieser Weg schlängelt sich zwischen Buschwerk und kleinen Schluchten hin, durch welche im Schatten hohen Grases geräuschvolle Bäche fließen. Ringsum erheben sich amphitheatralisch die blauen Kämme des Beschtu, des Smennoy, des Schelesnoy und des Lissoy ... Indem ich durch einen dieser Abgründe, die man in der Landessprache Balki nennt, hinunterritt, hielt ich an, um mein Pferd trinken zu lassen. In demselben Augenblick bemerkte ich auf der Straße eine lärmende und glänzende Cavalcade; die Damen in blauen[119] oder schwarzen Amazonen, die Herren in Costümen, die halb tscherkessisch halb groß-russisch waren. An der Spitze befanden sich Gruschnitzki und die Fürstin Mary.

Die Damen, welche die Bäder besuchen, glauben noch, daß sie am hellen Tage von den Tscherkessen angefallen werden könnten. Wahrscheinlich hatte sich Gruschnitzki aus diesem Grunde einen Säbel über seinen Mantel gehängt und ein paar Pistolen in seinen Gürtel gesteckt. Er sah ziemlich lächerlich aus in dieser heldenhaften Ausrüstung. Ein hoher Busch entzog mich den Blicken der Gesellschaft; aber durch die Zweige desselben konnte ich sie ganz deutlich sehen, und aus dem Ausdruck ihrer Gesichter schloß ich, daß die Unterhaltung eine sentimentale Wendung genommen hatte.

Endlich näherten sie sich dem Abhange. Gruschnitzki ergriff das Pferd der Fürstin am Zügel, und da konnte ich das Ende ihres Gesprächs verstehen.

»Sie wollen also Ihr ganzes Leben im Kaukasus verbringen?« fragte die Fürstin.

»Warum sollte ich nach Rußland zurückkehren,« antwortete ihr Cavalier, – »nach einem Lande, wo Tausende, weil sie reicher sind als ich, mich mit Verachtung ansehen werden, während hier – hier hat dieses unscheinbare Gewand mich nicht verhindert, Sie kennen zu lernen.«

»Im Gegentheil ...« sagte erröthend die Fürstin.

Gruschnitzki's Gesicht drückte Zufriedenheit aus. Er fuhr fort:

»Hier verrinnt mein Leben geräuschvoll und unbeachtet und wird bald unter den Kugeln der Tscherkessen enden, und wenn Gott mir auch nur alle Jahre einen jener süßen Frauenblicke gewährte, wie derjenige ...«

In diesem Augenblicke waren die Beiden vor mir; ich schlug mein Pferd mit der Peitsche und es stürzte aus dem Gebüsch heraus ...

»Mon Dieu, un Circassien!« rief erschreckt die junge Fürstin.[120]

Um sie vollständig zu beruhigen, antwortete ich ihr in derselben Sprache, indem ich mich leicht verbeugte:

»Ne craignez rien, madame, je ne suis pas plus dangereux que votre cavalier.«

Sie schien verwirrt. Warum? Wegen des Irrthums, den sie begangen, oder fand sie meine Antwort zu keck? Ich wünschte, daß diese letztere Vermuthung die richtige sei.

Gruschnitzki warf mir einen unzufriedenen Blick zu.

Spät am Abend, das heißt gegen elf Uhr, ging ich in der Lindenallee des Boulevards spazieren. Die ganze Stadt schlief; nur in einigen Fenstern schimmerten Lichter.

Von drei Seiten umgaben mich die schwarzen Ausläufer des Maschuk, auf dessen höchster Spitze eine unheildräuende Wolke lag. Im Osten stieg der Mond auf. In der Ferne schimmerten die Schneeberge wie silberner Besatz. Von Zeit zu Zeit mischten sich die Rufe der Wachen mit dem Gemurmel der Warmbäderquellen, die man des Nachts fließen läßt. Ab und zu ertönte auch auf der Straße der Hufschlag eines Pferdes oder das Rasseln eines Wagens, den ein Tatar mit seinem melancholischen Gesang begleitete.

Ich setzte mich auf eine Bank und versank in Träumerei ... Ich fühlte das Bedürfniß, meinen Gedanken in einem herzlichen Gespräch Luft zu machen ... Aber mit wem? ... Was macht jetzt Wera, dachte ich ... Was würde ich nicht darum geben, wenn ich in diesem Augenblick ihre Hand drücken könnte.

Plötzlich höre ich rasche, ungleichmäßige Schritte ... Wahrscheinlich Gruschnitzki ... Und in der That, er ist es!

»Woher?«

»Ich komme von der Fürstin Ligowski,« antwortete er mit sehr wichtiger Miene. »Ha, wie Mary singt!«

»Höre mal,« sagte ich zu ihm, »ich wette, sie weiß nicht einmal, daß du Fähndrich bist; sie glaubt, du seist degradirt ...«

»Mag sein. Was liegt mir daran!« sagte er zerstreut.[121]

»Nun, ich meinte nur so ...«

»Aber weißt du auch, daß du sie heut' sehr erzürnt hast? Sie fand deine Handlungsweise sehr keck. Ich habe mir alle Mühe gegeben, sie zu überzeugen, daß Jemand, der so wohl erzogen sei und so gut die Gebräuche der vornehmen Welt kenne, nicht die Absicht gehabt haben könne, sie zu beleidigen. Sie antwortete mir, du habest einen unverschämten Blick und müssest daher eine sehr hohe Meinung von dir selbst haben.«

»Darin hat sie sich nicht geirrt ... und du, willst du nicht Partei für sie ergreifen?«

»Leider habe ich noch nicht dieses Recht.«

»O, o!« dachte ich; er hat offenbar schon Hoffnungen.

»Uebrigens,« fuhr Gruschnitzki fort, »hast du dir durch dein Benehmen sehr geschadet; denn jetzt wird es dir sehr schwer werden, Zutritt bei ihnen zu erhalten; und das ist schade denn ich kenne kein angenehmeres Haus als das ihrige.«

Ich mußte innerlich lächeln.

»In diesem Augenblick,« versetzte ich, »gibt es für mich kein angenehmeres Haus als mein eigenes.«

Und damit stand ich gähnend auf, um zu gehen.

»Aber gestehe doch wenigstens, daß es dir leid thut.«

»Nicht im Mindesten! Wenn ich will, so werde ich mich schon morgen Abend im Salon der Fürstin befinden.«

»Das wollen wir sehen ...«

»Noch mehr, wenn dir das Vergnügen macht: Ich werde Fräulein Mary den Hof machen ...«

»Vorausgesetzt, daß sie mit dir sprechen wollte ...«

»Ich werde nur den Augenblick abwarten, wo dein Gespräch sie langweilt ... Gute Nacht!«

»Ich habe das Bedürfniß, noch ein wenig spazieren zu gehen; schlafen ist mir jetzt unmöglich ... Höre, gehen wir lieber in den Restaurant, man spielt dort ... ich muß mich heut' Abend aufregen ...«[122]

»Ich wünsche, daß du verlierst.«

Und ich ging nach Hause.


* * *

21. Mai.


Fast eine Woche ist verflossen, und ich habe noch nicht mit der Fürstin Ligowski Bekanntschaft gemacht. Ich erwarte eine günstige Gelegenheit. Gruschnitzki folgt ihr, wie ihr Schatten auf Schritt und Tritt und führt unendliche Gespräche mit ihr. Wann wird sie das langweilen? ... Ihre Mutter achtet gar nicht mehr darauf; denn er ist keine »Partie.« Das ist die Logik der Mütter! Ich habe bereits zwei oder drei zärtliche Blicke bemerkt – es ist Zeit, der Sache ein Ende zu machen.

Gestern zeigte sich Wera zum ersten Mal an der Quelle ... Seit unserem Zusammentreffen in der Grotte war sie nicht aus dem Hause gegangen. Wir haben gemeinsam unsere Gläser in der Quelle gefüllt, und sie hat mir leise zugemurmelt:

»Willst du dich denn nicht im Hause der Ligowski einführen lassen? ... Nur dort können wir uns sehen.«

Vorwürfe ... Wenig angenehm! Aber ich habe sie verdient.

Da bietet sich eine günstige Gelegenheit: Morgen findet bei dem Restaurateur ein Subscriptionsball statt. Ich werde mit der jungen Fürstin die Mazurka tanzen.


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29. Mai.


Der Saal in der Restauration ist in einen aristokratischen Salon verwandelt worden. Gegen neun Uhr waren alle versammelt. Die Fürstin und ihre Tochter erschienen mit den Letzten. Viele der Damen betrachteten sie mit einem Gefühl der Bosheit und der Eifersucht, denn Fräulein Mary kleidet sich sehr geschmackvoll. Diejenigen, welche sich zu der hiesigen aristokratischen Gesellschaft rechnen, erstickten ihren Neid und schaarten sich um sie. Ist's nicht[123] überall so? Wo sich eine Gesellschaft von Frauen befindet, bildet sich ein großer oder kleiner Kreis. Neben dem Fenster, inmitten einer größeren Schaar Menschen stand Gruschnitzki, das Gesicht an eine Scheibe gedrückt, und seine Göttin nicht aus den Augen lassend; als sie an ihm vorüberging, nickte sie ihm kaum merklich mit dem Kopfe. Sofort strahlte das Gesicht des Schmachtenden wie die Sonne ...

Der Ball begann mit einer Polonaise; dann wurde ein Walzer gespielt. Die Sporen klirrten, die Rockschöße erhoben sich und flogen im Wirbel umher.

Ich stand hinter einer dicken Dame, die von Rosa-Federn beschattet war. Der Umfang ihres Kleides erinnerte mich an die Zeit, wo die Kleider durch Fischbeinröcke aufgebauscht wurden, und die Buntscheckigkeit ihrer Haut gemahnte an die glückliche Periode der Schönpflästerchen. Auf ihrem Halse befanden sich Warzen, deren größte sich unter einem Fermoir versteckte. Sie sagte zu ihrem Cavalier, einem Dragonerhauptmann:

»Diese kleine Fürstin Ligowski ist unerträglich! Denken Sie sich, sie stieß mich, ohne sich auch nur zu entschuldigen! Im Gegentheil, sie wandte sich um und musterte mich sogar mit ihrer Lorgnette ... C'est incroyable! ... Und worauf ist sie denn so stolz? Sie verdiente, daß man ihr eine Lection gäbe.«

»Das wird nicht schwer sein,« antwortete der dienstfertige Hauptmann und begab sich in ein anderes Zimmer.

Ich näherte mich sofort der Fürstin und mir die freien hiesigen Gewohnheiten zu nutze machend, die es gestatten, mit unbekannten Damen zu tanzen, bat ich sie um einen Walzer.

Sie konnte sich kaum enthalten, zu lächeln und verheimlichte nur mit Mühe ihre triumphirenden Blicke. Doch gelang es ihr, recht bald eine vollkommene gleichgiltige und sogar strenge Miene anzunehmen. Nachlässig legte sie die[124] Hand auf meine Schulter, neigte das Köpfchen ein wenig zur Seite – und der Tanz begann. Niemals hatte mein Arm eine anmuthigere, schmiegsamere Taille berührt! Ihr frischer Athem streifte mein Gesicht, und von Zeit zu Zeit glitt eine Locke, die sich im Wirbel des Walzers von ihren Gefährtinnen losgelöst, über meine brennende Wange ... Wir machten drei Touren miteinander, (sie walzte ganz wundervoll). Am Ende der dritten Tour war sie ermüdet, ihre Augen trübten sich, und die halbgeöffneten Lippen vermochten kaum die üblichen Worte zu flüstern: Merci, monsieur!

Nach einigen Augenblicken des Schweigens sagte ich mit sehr demüthiger Miene zu ihr:

»Ich habe gehört, Fürstin, daß ich, obgleich ich Ihnen völlig unbekannt bin, doch bereits das Unglück gehabt habe, mir Ihre Ungnade zu verdienen ... daß Sie mich keck gefunden ... Ist das wahr?«

»Und Sie möchten mich jetzt in dieser Meinung bestärken?« antwortete sie mit einem ironischen Schmollen, das übrigens sehr schön zu der Lebhaftigkeit ihrer Physiognomie paßte.

»Wenn ich die Keckheit gehabt, Sie irgend wie zu verletzen, so erlauben Sie mir noch eine größere: Sie um Verzeihung zu bitten ... Und in der That, ich möchte Sie gern überzeugen, daß Sie sich über mich in einem Irrthum befinden.«

»Das wird ziemlich schwer sein.«

»Warum?«

»Weil Sie nicht zu uns kommen und diese Bälle sich wahrscheinlich nicht oft wiederholen werden.«

Das bedeutet, dachte ich, daß Ihre Thür mir für immer verschlossen ist.

»Wissen Sie auch, Fürstin,« sagte ich mit einem Anflug von Aerger, »daß man einen Reuigen nie zurückstoßen[125] sollte: Aus Verzweiflung könnte er eine noch größere Schuld auf sich laden ... Und dann ...«

Das Flüstern und Lachen derer, die uns umgaben, veranlaßten mich, mich umzuwenden und erlaubten mir nicht, meine Phrase zu vollenden. Einige Schritte von mir stand eine Gruppe von Männern, und unter ihnen befand sich der Dragonerhauptmann, der gegen die reizende Fürstin feindselige Absichten zu haben schien: er zeigte sich über irgend etwas hocherfreut, rieb sich die Hände, lachte und tauschte mit seinen Kameraden verständnißvolle Zeichen aus. Plötzlich trat aus ihrer Mitte ein Herr mit Frack, langem Schnurrbart und rothem Gesicht hervor, und ging mit schwankenden Schritten gerade auf die Fürstin zu, – er war betrunken. Er stellte sich, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, ihr gerade gegenüber auf, richtete seine trüben grauen Augen auf sie und sagte mit heiserer Stimme:

»Permettez ... Aber wozu Umstände! ... Kurz, ich engagire Sie zu der Mazurka ...«

»Was wünschen Sie?« flüsterte Mary mit bebender Stimme und warf einen flehenden Blick um sich.

Leider waren ihre Mutter oder einer von den Herren ihrer Bekanntschaft nicht in der Nähe. Ein Adjutant schien mir freilich Alles gesehen zu haben, aber er versteckte sich in der Menge, um nicht in die Geschichte verwickelt zu werden.

»Nun?« sagte der betrunkene Herr, indem er dem Dragonerhauptmann, der ihn durch Zeichen ermuthigte, winkte. »Schlagen Sie mir den Tanz vielleicht ab? ... Ich habe also noch einmal die Ehre, Sie zu der Mazurka zu engagiren ... Sie glauben vielleicht, ich sei betrunken? Durchaus nicht! ... Im Gegentheil, ich kann Sie versichern ...«

Ich bemerkte, daß Mary nahe daran war, vor Schreck und Abscheu ohnmächtig zu werden.

Ich trat auf den betrunkenen Herrn zu, faßte ihn ziemlich derb am Arm, sah ihm fest in die Augen und ersuchte[126] ihn, sich zu entfernen, – weil, fügte ich hinzu, die Fürstin die Mazurka schon längst mir zugesagt habe.

»Nun, dann ist nichts zu machen,« versetzte er lachend ... »also das nächste Mal.«

Und damit zog er sich zu seinen Verbündeten zurück, die ihn sofort in ein anderes Zimmer führten.

Ich ward mit einem tiefen entzückenden Blicke belohnt.

Mary eilte zu ihrer Mutter und erzählte ihr den ganzen Auftritt. Diese suchte mich auf und dankte mir. Zugleich theilte sie mir mit, daß sie meine Mutter kenne und mit einem halben Dutzend meiner Tanten befreundet sei.

»Ich weiß nicht, wie es kommt,« setzte sie hinzu, »daß wir noch nicht mit einander bekannt sind; aber gestehen Sie, daß dies lediglich Ihre Schuld ist. Sie fliehen alle Welt; das ist unbegreiflich. Ich hoffe, daß die Luft meines Salons Sie von Ihrem Spleen heilen wird.«

Ich antwortete mit einer jener Phrasen, die man für solche Gelegenheiten immer in Bereitschaft haben muß.

Die Quadrillen zogen sich schrecklich lange hin.

Endlich gab das Orchester das Zeichen zu der Mazurka; ich nahm meinen Platz neben der Fürstin ein. Ich spielte nicht mit einem Worte auf den betrunkenen Herrn an, ebensowenig auf mein früheres Betragen oder auf Gruschnitzki. Der Eindruck, den der unangenehme Auftritt auf sie gemacht, hatte sich nach und nach verwischt; ihr Antlitz wurde wieder heiter; sie scherzte in der anmuthigsten Weise. Ihre Einfälle waren geistreich, ohne daß sie es darauf abgesehen hatte, lebhaft und ungezwungen, und einigen ihrer Bemerkungen fehlte es nicht an Tiefe ...

Ich gab ihr in ziemlich confusen Phrasen zu verstehen, daß sie mir schon seit lange gefalle. Sie neigte das Köpfchen und erröthete ein wenig.

»Sie sind ein seltsamer Mensch!« sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln, indem sie mich mit ihren Sammetaugen ansah.[127]

»Ich wollte mich Ihnen nicht nähern,« fuhr ich fort, »weil Sie von einem allzudichten Kreise von Anbetern umgeben sind, und ich in demselben vollständig zu verschwinden fürchtete.«

»Ihre Furcht war unbegründet; sie sind alle langweilig.«

»Alle! Alle ohne Ausnahme?«

Sie sah mich fest an, als suche sie sich an etwas zu erinnern; dann erröthete sie wieder ein wenig und sprach endlich in festem Tone:

»Alle!«

»Sogar mein Freund Gruschnitzki?«

»Ist er Ihr Freund?« sagte sie mit etwas zweifelnder Miene.

»Ja.«

»Nun, er gehört nicht zu den Langweiligen.«

»Aber zu den Unglücklichen,« versetzte ich lachend.

»Gewiß, und darüber können Sie lachen? Ich möchte wünschen, Sie wären an seiner Stelle ...«

»Ich? Aber ich bin gerad' so gut wie er Fähndrich gewesen, und in der That, es war die glücklichste Zeit meines Lebens!«

»Wie, er ist Fähndrich?« sagte sie rasch, und dann setzte sie hinzu, »ich glaubte ...«

»Was glaubten Sie?«

»Nichts ... Wer ist diese Dame?«

Hier nahm unser Gespräch eine andere Wendung, und es war mir nicht möglich, es wieder auf den früheren Gegenstand zu bringen.

Die Mazurka war aus und wir trennten uns – auf Wiedersehen. Die Damen fuhren nach Hause. Ich entfernte mich, um zu soupiren, und da traf ich Werner.

»Aha,« sagte er, »so also geht's mit Ihren Entschlüssen! Sie wollten ja die Fürstin nicht anders kennen lernen, als indem Sie sie aus irgend einer Todesgefahr retteten.«

»Ich habe mehr gethan,« erwiderte ich ihm; »ich habe[128] sie davor bewahrt, mitten auf dem Balle in Ohnmacht zu fallen.«

»Wieso? Erzählen Sie.«

»Nein, Sie müssen rathen, – Sie, der Sie Alles errathen!«


* * *

30. Mai.


Gegen sieben Uhr ging ich auf dem Boulevard spazieren. Gruschnitzki, der mich von fern erblickte, kam mir entgegen. In seinen Augen glänzte eine gewisse komische Begeisterung. Er drückte mir fest die Hand und sagte in feierlichem Ton:

»Ich danke dir, Petschorin. Verstehst du mich?«

»Nein. In jedem Fall habe ich keinen Anspruch auf Dankbarkeit,« erwiderte ich, »da ich wirklich keine einzige Wohlthat auf dem Gewissen habe.«

»Wie! Und gestern Abend? Hast du sie etwa vergessen? Mary hat mir Alles erzählt.«

»Was denn? Ist vielleicht schon zwischen euch Alles gemeinschaftlich? Sogar die Dankbarkeit?«

»Höre,« fuhr Gruschnitzki mit sehr wichtiger Miene fort, »ich bitte dich, spotte nicht über meine Liebe, wenn du willst, daß wir Freunde bleiben ... Siehst du, ich liebe sie bis zum Wahnsinn ... Und ich glaube, ich hoffe, sie erwiedert meine Liebe ... Und nun habe ich eine Bitte an dich. Du gehst heut' Abend zu ihnen: Versprich mir, sie genau zu beobachten. Ich weiß, du hast Erfahrung in solchen Dingen, du kennst die Frauen besser als ich ... Die Frauen, die Frauen! Wer kann sie begreifen? Ihr Lächeln steht oft im Widerspruch mit den Blicken; ihre Worte ziehen uns an und ermuthigen uns, aber der Ton ihrer Stimme stößt uns zurück ... Bald errathen sie unsere geheimsten Gedanken, bald verstehen sie die deutlichsten Anspielungen nicht ... Höre, was mir z.B. mit Mary passirte. Gestern funkelten ihre Augen vor Leidenschaft, wenn sie mich ansah, heut' sind sie kalt und trübe ...«[129]

»Das ist vielleicht die Wirkung des Bades,« antwortete ich.

»Du siehst Alles von der schlimmen Seite an ... Du bist Materialist!« setzte er verächtlich hinzu; »aber reden wir von einer andern Materie.«

Und die Freude, die er über seinen ziemlich matten Wortwitz empfand, gab ihm seine Heiterkeit wieder.

Gegen neun Uhr begaben wir uns mit einander zu der Fürstin.

Als ich an Wera's Wohnung vorüberkam, erblickte ich sie am Fenster. Wir tauschten einen flüchtigen Blick aus. Kaum waren wir in dem Ligowski'schen Salon, als auch sie erschien. Die Fürstin stellte mich ihr als ihrer Verwandten vor. Es wurde Thee getrunken. Es waren ziemlich viel Gäste anwesend, und Alle betheiligten sich an der Unterhaltung. Ich war bemüht, der Fürstin Mutter zu gefallen, und einige Male gelang es mir, sie mit meinen Scherzen herzlich lachen zu machen. Auch ihre Tochter hätte offenbar manchmal gern gelacht, aber sie hielt an sich, um nicht aus der angenommenen Rolle zu fallen. Vermuthlich glaubt sie, ein gewisses Schmachten stehe ihr gut zu Gesicht, und vielleicht irrt sie sich darin nicht. Gruschnitzki schien hocherfreut, daß meine Fröhlichkeit sie nicht ansteckte.

Nach dem Thee begaben wir uns Alle in den Salon.

»Bist du mit meiner Folgsamkeit zufrieden, Wera?« flüsterte ich im Vorbeigehen.

Sie sah mich mit einem Blicke voll Liebe und Dankbarkeit an. Ich bin an diese Blicke gewöhnt; aber es gab eine Zeit, wo sie meine ganze Seligkeit ausmachten. Die Fürstin ließ ihre Tochter sich an das Piano setzen. Alle baten sie, zu singen; ich sagte nichts, benutzte diese Gelegenheit und zog mich mit Wera in eine Fensternische zurück, da sie, wie sie sagte, mir etwas mitzutheilen habe, das für uns beide sehr wichtig sei ...[130]

Was wird das sein? ... Kindereien ...

Inzwischen belehrte mich ein durchdringender funkelnder Blick, daß Fräulein Mary sich durch meine Gleichgiltigkeit verletzt fühlte ... O, ich verstehe sie ausgezeichnet, diese stumme, aber ausdrucksvolle, kurze und kräftige Sprache der Augen!

Sie sang. Ihre Stimme ist nicht übel, aber sie singt schlecht ... Uebrigens hörte ich nicht zu, wogegen Gruschnitzki, der ihr gegenüberstand, sie mit seinen Blicken verschlang und jeden Augenblick halblaut sagte: »Reizend, entzückend!«

»Höre,« sprach Wera zu mir, »ich will nicht, daß du mit meinem Manne bekannt wirst; aber der Fürstin mußt du unbedingt zu gefallen suchen. Das wird dir leicht sein; denn du kannst Alles, was du willst; und nur hier können wir uns sprechen ...«

»Nur hier?«

Sie erröthete und fuhr fort:

»Du weißt, ich bin deine Sklavin. Ich habe dir niemals etwas abschlagen können ... und ich werde für diese Schwäche bestraft werden: du wirst mich vergessen! Aber ich will wenigstens meinen Ruf bewahren ... nicht meinetwegen – du weißt das besser als irgend Jemand! ...«

»O, ich bitte dich, quäle mich nicht wie früher durch eingebildete Zweifel und berechnete Kälte; vielleicht lebe ich nicht mehr lange; ich fühle, meine Kräfte nehmen mit jedem Tage ab ... und doch vermag ich nicht an das zukünftige Leben zu denken, – ich denke nur an dich ... Ihr Männer begreift nicht, welch ein Genuß für uns in einem Blick, in einem Händedruck liegt ... Was mich betrifft, ich schwöre dir's, wenn ich nur deine Stimme höre, empfinde ich eine so tiefe, eigenthümliche Seligkeit, daß selbst deine feurigsten Küsse mich nicht dafür entschädigen könnten.«[131]

Mittlerweile hatte Mary aufgehört zu singen. Ein Beifallsgemurmel umgab sie. Ich näherte mich ihr nach allen Andern und sagte ihr etwas nachlässig irgend ein Compliment wegen ihrer Stimme.

Sie verzog ein wenig das Mäulchen und verbeugte sich mit ironischer Miene.

»Das ist um so schmeichelhafter für mich,« sagte sie, »als Sie mich gar nicht gehört haben. Vielleicht lieben Sie die Musik nicht.«

»Im Gegentheil ... besonders nach dem Diner.«

»Gruschnitzki hat Recht, wenn er sagt, Sie seien der prosaischste Mensch von der Welt. Ich sehe, Sie betrachten die Musik nur vom gastronomischen Gesichtspunkte.«

»Da sind Sie wieder im Irrthum. Ich bin gar nicht Gastronom. Mein Magen erlaubt mir das nicht. Aber die Musik schläfert ein nach dem Diner, und nach dem Diner schlafen ist gesund; folglich liebe ich die Musik vom medicinischen Standpunkt. Am Abend dagegen erregt sie zu sehr meine Nerven: sie macht mich entweder zu betrübt oder zu heiter. Das Eine wie das Andere ist unangenehm, wenn kein genügender Grund vorliegt, fröhlich oder melancholisch zu sein. Zudem ist Traurigkeit in der Gesellschaft lächerlich und zu große Fröhlichkeit nicht immer wohlanständig ...«

Sie hörte mich nicht bis zu Ende an, entfernte sich und setzte sich neben Gruschnitzki, mit dem sie irgend ein sentimentales Gespräch anknüpfte. Sie schien mir jedoch zerstreut zu sein, obgleich sie that, als hörte sie die anspruchsvollen Redensarten meines Freundes mit großer Aufmerksamkeit an; denn dieser betrachtete sie während seiner Rede mit Erstaunen und suchte die Ursache der innern Aufregung, die sich zuweilen in ihrem unruhigen Blicke kundgab, zu errathen.

Aber ich habe dich errathen, meine liebenswürdige Prinzessin. Nimm dich in Acht! Du willst mich mit gleicher[132] Münze bezahlen und meine Eigenliebe stacheln, – es wird dir nicht gelingen! Und erklärst du mir den Krieg, so werde ich kein Erbarmen kennen.

Im Laufe des Abends versuchte ich mich wiederholt in ihr Gespräch zu mischen; allein sie nahm meine Bemerkungen ziemlich trocken auf und ich zog mich endlich mit erzwungenem Aerger zurück. Fräulein Mary triumphirte; Gruschnitzki ebenfalls.

Triumphirt nur, meine Lieben! Wartet, ihr werdet nicht lange triumphiren! ... Ja, ich habe eine Ahnung, daß ... Wenn ich die Bekanntschaft einer Frau gemacht, kann ich immer sicher errathen, ob sie mich liebt oder nicht ...

Den Rest des Abends verbrachte ich in Wera's Nähe, und wir unterhielten uns lange über die Vergangenheit ... Warum liebt sie mich eigentlich? In der That, ich weiß es nicht. Ich begreife es um so weniger, als sie die einzige Frau ist, die mich vollständig kennt, mit all meinen kleinen Schwächen und schlechten Leidenschaften ... Sollte das Böse denn so verführerisch sein? ...

Gruschnitzki und ich gingen zusammen fort. Auf der Straße erfaßte er meinen Arm und sagte nach langem Schweigen:

»Nun?«

Es schwebte mir auf der Zunge, ihm zu antworten:

»Du bist ein Dummkopf!« aber ich behielt diesen Ausruf für mich und beschränkte mich darauf, die Achseln in die Höhe zu ziehen.


* * *

6. Juni.


Während all dieser Tage bin ich nicht ein einziges Mal von meinem Verhaltungsplan abgewichen. Mary fängt an, Gefallen an meiner Unterhaltung zu finden. Ich habe ihr einige der romantischsten Abenteuer meines Lebens erzählt, und sie beginnt mich als einen außerordentlichen Menschen zu betrachten. Ich mache mich über Alles lustig,[133] besonders über Gefühle. Das fängt an, sie zu erschrecken. In meiner Gegenwart wagt sie es nicht mehr, sich mit Gruschnitzki in sentimentale Regionen emporzuschwingen, und einige Mal ist es ihm sogar passirt, daß sie seine Ergüsse mit ironischem Lächeln beantwortete. Aber sobald ich die beiden zusammen sehe, nehme ich eine bescheidene Miene an und entferne mich. Das erste Mal war sie darüber erfreut oder gab sich wenigstens den Anschein; das zweite Mal war sie erzürnt auf mich; das dritte Mal auf – Gruschnitzki.

»Sie haben sehr wenig Eigenliebe,« sagte sie gestern zu mir. »Warum glauben Sie, daß mir Gruschnitzki's Gesellschaft angenehmer sei als die Ihre?«

Ich antwortete ihr, daß ich mein eigenes Glück dem eines Freundes opferte.

»Und das meine!« setzte sie hinzu.

Ich blickte sie fest an und machte ein ernstes Gesicht. Dann sprach ich den ganzen Tag kein Wort mehr mit ihr ... Am Abend war sie nachdenklich; und heut' Morgen an der Quelle war sie's noch mehr. Als ich mich ihr näherte, hörte sie zerstreut Gruschnitzki zu, der ihr eine Rede zu halten schien über die Schönheiten der Natur. Aber kaum hatte sie mich bemerkt, so brach sie in helles Lachen aus und gab sich doch – ganz zur Unzeit – den Anschein, als hätte sie mich nicht gesehen. Ich entfernte mich und beobachtete sie verstohlen. Sie wandte sich von dem Fähndrich ab und gähnte zweimal. Entschieden, Gruschnitzki langweilt sie. Noch zwei Tage und sie spricht kein Wort mehr mit ihm.


* * *

13. Juni.


Ich frage mich oft, warum ich so hartnäckig um die Liebe eines Mädchens werbe, das ich nicht verführen will, und welches ich niemals heirathen werde. Warum diese frauenartige Koketterie? Wera liebt mich mehr als Mary[134] mich jemals lieben wird. Wenn diese Fürstin sich mir als eine unbesiegbare Schönheit zeigte, so könnte mich vielleicht die Schwierigkeit des Unternehmens anstacheln ...

Aber damit ist es nichts. Die Triebfeder meiner Handlungsweise ist also nicht jenes unruhige Bedürfniß zu lieben, das uns in der ersten Zeit unserer Jugend so quält, das uns von einer Frau zur andern zieht, bis wir eine finden, die uns nicht leiden mag. Dann beginnt unsere Beständigkeit – unsere Leidenschaft ist wahr, unendlich wie eine mathematische Linie, die an einem bestimmten Punkte beginnt und sich in der Unendlichkeit verliert. Das Geheimniß einer solchen unendlichen Leidenschaft liegt in der Unmöglichkeit, an ein Ziel, das heißt an das Ende zu gelangen.

Was ist also der Grund meiner Aufregung? – Neid gegen Gruschnitzki? Der Aermste! Er verdient ein solches Gefühl gar nicht. Oder sollte ich von jenem schlechten, aber unwiderstehlichen Gefühl beherrscht sein, das uns verleitet, die süßesten Illusionen des Nebenmenschen zu vernichten, um die kleine Genugthuung zu haben, ihm sagen zu können, wenn er uns voll Verzweiflung fragt, woran er in Zukunft glauben könne:

Lieber Freund, dasselbe Unglück ist mir passirt; und doch siehst du, daß ich mit der größten Ruhe fortfahre gut zu diniren, zu soupiren und zu schlafen, und ich hoffe, auch ohne Stöhnen und Thränen zu sterben.

Aber es liegt ja ein unbegreiflicher Zauber darin, ein junges Herz zu besitzen, das sich gerade entfaltet! Es ist wie die Blume, die ihren süßesten Wohlgeruch ausströmt, wenn der erste Sonnenstrahl sie berührt. In diesem Augenblick muß man sie pflücken und sie, nachdem man sich an ihren süßen Düften berauscht, auf die Straße werfen, wo der erste beste sie aufheben wird! Ich empfinde in mir diesen nicht zu stillenden Durst, dieses Bedürfniß, Alles zu schlürfen, was ich auf meinem Wege finde. Fremde Freuden[135] und Leiden betrachte ich nur in ihrer Beziehung zu mir – als eine Speise, welche meine Seelenkräfte nährt. Selbst bin ich nicht mehr fähig unter der Herrschaft der Leidenschaft den Verstand zu verlieren; mein Ehrgeiz ist in mir durch die Verhältnisse zurückgedrängt, aber er ist in anderer Weise zu Tage getreten; denn Ehrgeiz ist nichts Anderes, als der Durst nach Herrschaft, – und mein größter Genuß besteht darin, Alle, die mich umgeben, unter meinen Willen zu beugen. In einem fremden Herzen das Gefühl der Liebe, der Hingebung und der Furcht wach zu rufen – ist das nicht das erste Zeichen und zugleich der größte Triumph der Herrschsucht?

Und für einen Andern die Ursache der Freude und des Schmerzes sein, ohne daß man dazu das mindeste Recht hat, – ist das nicht die süßeste Nahrung unseres Stolzes? Und was ist Glück? Nichts als befriedigter Stolz. Wenn ich mich als den besten, als den mächtigsten aller Menschen betrachten könnte, so würde ich glücklich sein. Wenn alle mich liebten, so fände ich in mir selbst eine unerschöpfliche Quelle der Liebe.

Böses gebiert Böses. Das erste Leiden gibt uns einen Begriff von dem Vergnügen, das man empfindet, wenn man andere quält. Die Vorstellung des Bösen kann nicht in den Geist des Menschen eindringen, ohne zugleich den Wunsch in ihm wachzurufen, das Böse zu thun. Die Vorstellungen, hat irgend Jemand gesagt, sind organische Wesen. Schon ihre Geburt gibt ihnen eine Form und diese Form ist die That. Je mehr Vorstellungen (Ideen) in dem Gehirn Jemandes entstehen, um so viel mehr ist dieser thätig als Andere. Das der Grund, weshalb ein Genie, das an den Bureautisch gefesselt ist, entweder stirbt oder verrückt wird, – just wie ein Mensch mit kräftiger, sanguinischer Constitution, wenn er zu einer seßhaften Lebensweise verurtheilt ist, endlich am Schlage stirbt.

Leidenschaften sind nichts Anderes als Ideen in ihrer[136] ersten Entwickelung. Sie sind eine Eigenthümlichkeit der Jugend des Herzens; und derjenige täuscht sich gewaltig, der sie durch sein ganzes Leben bewahren zu können glaubt! Wie manche friedlichen Flüsse entspringen schäumenden Wasserfällen, – kein einziger behält seinen ungestümen, heftigen Lauf bis zum Meere bei. Aber diese Ruhe ist oft das Zeichen einer gewaltigen, wenn auch verborgenen Kraft. Fülle und Tiefe der Gefühle und Gedanken gestatten keine tollen Ausbrüche. In der Freude wie im Leid gibt sich die Seele von Allem strenge Rechenschaft und überzeugt sich, daß es so sein muß; sie weiß, daß ohne die Gewitter die beständige Hitze der Sonne sie verdörren würde. Sie ergründet die Bedingungen ihres eigenen Lebens – und schmeichelt oder bestraft sich wie ein verwöhntes Kind. Erst wenn der Mensch zu dieser höchsten Selbstkenntniß gelangt ist, vermag er die göttliche Gerechtigkeit zu würdigen.

Indem ich diese letzten Seiten noch einmal überlese, bemerke ich, daß ich mich von meinem Gegenstande weit entfernt habe ... Aber was liegt daran? ... Ich schreibe ja dieses Tagebuch für mich selbst, und somit wird Alles, was ich hier verzeichne, später eine kostbare Erinnerung für mich sein – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

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Gruschnitzki ist zu mir gekommen und hat sich mir an den Hals geworfen. Er ist zum Offizier avancirt. Wir haben Champagner getrunken. Kurz nach ihm kam auch Doctor Werner.

»Ich werde Ihnen nicht gratuliren,« sagte er zu Gruschnitzki.

»Warum nicht?«

»Weil der Soldatenmantel Ihnen sehr schön sitzt, und Sie werden gestehen, daß eine hier verfertigte Offiziersuniform Sie nicht interessanter machen wird ... Sehen Sie, bisher waren Sie eine Ausnahme, jetzt fallen Sie unter die allgemeine Regel.«[137]

»Reden Sie nur, Doctor, reden Sie nur! Sie werden mich darum in meiner Freude nicht stören ... Er weiß nicht,« fuhr Gruschnitzki, zu mir gewendet, leise fort, »welche Hoffnungen mir diese Epauletten eröffnen ... O, Epauletten, Epauletten! Eure Sterne – eure Leitsterne werden mich führen zu ... Nein, jetzt bin ich vollkommen glücklich!«

»Gehst du mit uns nach der Schlucht spazieren?« fragte ich ihn.

»Ich? Um keinen Preis der Welt werde ich vor den Augen der Fürstin erscheinen, ehe meine neue Uniform fertig ist.«

»Soll ich ihr von deiner Freude erzählen?«

»Nein, ich bitte dich, thue das nicht ... Ich möchte ihr diese Ueberraschung selbst bereiten.«

»So sage mir wenigstens, wie du jetzt mit ihr stehst?«

Diese Frage machte ihn ein wenig verwirrt und nachdenklich. Gern hätte er geprahlt und gelogen, – aber er machte sich doch ein Gewissen daraus, und andererseits schämte er sich wieder, die Wahrheit zu gestehen.

»Glaubst du, daß sie dich liebt?«

»Mich liebt? Aber ich bitte dich, Petschorin, wo denkst du hin! ... Wie wäre das so schnell möglich? ... Und wenn sie mich auch liebte, würde ein so vornehmes, feinfühliges Mädchen das eingestehen?«

»Sehr schön. Nach deiner Ansicht muß also ein anständiger Mensch seine Leidenschaft verheimlichen?«

»Je nachdem, lieber Freund. Es gibt manche Dinge, die man nicht durch Worte offenbart, sondern errathen läßt.«

»Ganz richtig. Aber die Liebe, die wir in den Blicken einer Frau lesen, bindet sie nicht wie ein gegebenes Wort ... Sei auf deiner Hut, Gruschnitzki, sie wird dich täuschen ...«

»Sie!« versetzte er, und richtete die Augen gen Himmel und lächelte selbstzufrieden. »Du thust mir leid, Petschorin!«[138]

Er ging.

Gegen Abend begab sich eine zahlreiche Gesellschaft zu Fuße nach der Schlucht.

Nach der Ansicht der hiesigen Gelehrten ist diese Schlucht ein erloschener Krater. Sie befindet sich an einem Abhang des Maschuk, etwa eine Werst von der Stadt. Man gelangt dorthin auf einem schmalen, felsigen Pfade. Ich bot Mary den Arm und sie ließ ihn während der ganzen Promenade nicht wieder los.

Unser Gespräch begann mit Verleumdungen. Ich machte mich über unsere Bekannten lustig, anwesende wie abwesende; wobei ich zunächst ihre lächerlichen und dann ihre schlechten Seiten vornahm. Meine Galle war in Thätigkeit. Mit Scherzen hatte ich angefangen, mit aufrichtigen Bosheiten hörte ich auf. Anfangs amüsirten sie meine Ausfälle, dann erschreckten sie sie.

»Sie sind ein gefährlicher Mensch,« sagte sie. »Ich möchte lieber im Walde unter den Dolch eines Mörders als unter die Stiche ihrer bösen Zunge gerathen ... Ich bitte Sie ernstlich, wenn es Ihnen einfallen sollte, schlecht von mir zu reden, nehme Sie dann lieber einen Dolch und tödten Sie mich – ich glaube, das würde Ihnen nicht schwer werden.«

»Sehe ich aus wie ein Mörder?«

»Sie sind noch schlimmer ...«

Ich dachte einen Augenblick nach und sagte dann in tiefbewegtem Tone zu ihr:

»Ja, das ist von Kindheit an mein Schicksal gewesen! Alle Narben auf meiner Stirn, die Zeichen schlechter Gefühle, die ich nicht hatte: man hat sie mir zugeschrieben – und endlich sind sie in mir entstanden. Ich war aufrichtig – man schalt mich hinterlistig: da bin ich verschlossen geworden. Ich war sehr empfindlich für Gutes und Böses – Niemand liebkoste mich; jeder beleidigte mich: ich wurde rachsüchtig. Ich war mürrisch inmitten einer Schaar[139] fröhlicher, ausgelassener Kinder; ich fühlte, daß ich ihnen überlegen war – man drückte mich unter sie herab: ich ward neidisch. Ich hätte gern die ganze Welt geliebt – Niemand verstand mich: ich lernte hassen. Meine freudlose Jugend ist ein beständiger Kampf gewesen zwischen mir und der Welt; aus Furcht, ausgelacht zu werden, vergrub ich meine schönsten Gefühle in der Tiefe meines Herzens: dort sind sie erstorben. Ich sagte stets die Wahrheit – man glaubte mir nicht. Ich begann zu täuschen. Als ich die Welt und die Triebfedern der Gesellschaft kannte, ergab ich mich der Wissenschaft des Lebens, aber ich sah, wie andere ohne Wissenschaft glücklich waren und alle die Vortheile genossen, um welche ich mich so eifrig bemüht. Da bemächtigte sich meiner die Verzweiflung, – nicht jene Verzweiflung, die Heilung sucht in einem Pistolenschuß, sondern jene kalte kraftlose Verzweiflung, die sich unter höflichen Formen und liebenswürdigem Lächeln verbirgt. Ich war ein moralischer Krüppel geworden. Die beste Hälfte meiner Seele existirte nicht mehr; sie war verdorrt, erstorben, vernichtet; ich riß sie aus und warf sie fort. Die andere Hälfte aber pulsirte und lebte noch zum Dienst der Menschheit; und Niemand bemerkte diese Veränderung, weil Niemand um die Existenz der zu Grunde gegangenen Hälfte gewußt hatte. Jetzt haben Sie die Erinnerung an dieselbe in mir wachgerufen und ich habe Ihnen ihre Grabschrift gelesen. Den meisten Menschen erscheinen Grabschriften lächerlich; mir nicht; vor allen Dingen nicht, wenn ich daran denke, was unter ihnen begraben liegt. Uebrigens bitte ich Sie, nicht meine Ansicht zu theilen: wenn Sie meine Tirade lächerlich finden, – bitte, lachen Sie darüber; ich versichere Sie zum Voraus, daß mich das durchaus nicht beleidigen wird.«

In diesem Augenblick sah ich sie an. Es rollten Thränen aus ihren Augen; ihre Hand zitterte auf meinem Arm; ihre Wangen glühten; sie hatte Mitleid mit mir! Mitleid[140] – ein Gefühl, dem sich alle Frauen so leicht hingeben! Ja, Mitleid hatte ihr unerfahrenes Herz ergriffen.

Während des ganzen Restes unseres Spazierganges war sie zerstreut und nachdenklich und vernachlässigte sogar ihre Koketterie – ein bedeutsames Zeichen!

Wir kamen nach der Schlucht. Die anderen Damen verließen ihre Cavaliere, aber sie blieb auf meinen Arm gestützt. Die Witzeleien unserer Dandys ließen sie gleichgiltig; sie neigte sich über den Rand des Kraters, ohne die geringste Furcht zu zeigen, während die andern Damen voll Entsetzen aufschrien und die Augen schlossen.

Auf dem Heimwege nahm ich unsere trübselige Unterhaltung nicht wieder auf, aber auf alle meine Fragen und Scherze antwortete sie kurz und zerstreut.

»Haben Sie je geliebt?« fragte ich sie endlich.

Sie blickte mich fest an, schüttelte das Köpfchen und versank wieder in ihre Träumerei. Offenbar wollte sie mir etwas sagen, aber sie wußte nicht, wie sie beginnen sollte, ihre Brust hob und senkte sich ... Ja, ja, ein Mousselinärmel ist eine schwache Schutzwehr, und ein elektrischer Funken zuckte aus meinem Arm in den ihrigen; fast alle Leidenschaften beginnen so, und wir täuschen uns in der Regel sehr, wenn wir glauben, die Frauen liebten uns wegen unserer physischen oder moralischen Vorzüge. Freilich, sie bereiten uns den Boden und machen ihr Herz geneigt, das heilige Feuer in sich aufzunehmen; allein die erste Berührung entscheidet Alles.

»Nicht wahr, ich bin heut' sehr liebenswürdig gewesen?« sprach sie mit gezwungenem Lächeln zu mir, als wir an ihrer Thür angekommen waren.

Wir schieden. Sie ist unzufrieden mit sich; sie macht sich Vorwürfe wegen ihrer Kälte ... O, das ist der erste wichtigste Erfolg!

Morgen wird sie mich entschädigen wollen. Ich weiß[141] das Alles zum Voraus – und das ist das Langweilige dabei.


* * *

12. Juni.


Heut' habe ich Wera gesehen. Sie quälte mich mit ihrer Eifersucht. Wie es scheint, hat Mary den Einfall gehabt, ihr ihre Herzensgeheimnisse anzuvertrauen. Ich muß gestehen, sie hat eine glückliche Wahl getroffen!

»Ich sehe voraus, womit dies Alles enden wird,« sagte Wera zu mir. »Sei offenherzig. Sage mir gerade heraus: liebst du sie?«

»Und wenn ich sie nicht liebe?«

»Warum sie dann verfolgen und aufregen und ihre Phantasie erhitzen! ... O, ich kenne dich! Höre, wenn du willst, daß ich dir glaube, so reisest du in acht Tagen nach Kislowodsk. Wir begeben uns übermorgen dorthin. Die Fürstin bleibt hier noch einige Zeit. Miethe dir in unserer Nähe eine Wohnung. Wir werden ein großes Haus neben der Quelle beziehen; die Fürstin Ligowski wird die untern Räume bewohnen; neben unserm Hause ist noch ein anderes frei, und das kannst du dir miethen ... Wohlan, kommst du?«

Ich versprach noch an diesem selben Tage mir das Haus miethen zu lassen.

Gegen sechs Uhr kam Gruschnitzki zu mir und theilte mir mit, daß morgen, also gerade vor dem Balle, seine Uniform fertig sein werde.

»Endlich werde ich den ganzen Abend mit ihr tanzen können,« setzte er hinzu; »und ich kann nun frei und offen mit ihr reden.«

»Wann ist dieser Ball?«

»Ei, morgen! Hast du das nicht gewußt? Morgen ist ein großer Festtag, und die hiesige Behörde hat Alles in die Hand genommen.«

»Wir wollen nach dem Boulevard gehen.«[142]

»Wie, mit diesem abscheulichen Mantel!«

»Er gefällt dir also nicht mehr?«

Ich ging allein, begegnete der Fürstin Mary und engagirte sie zu einer Mazurka. Sie schien darüber eben so erstaunt wie erfreut.

»Ich glaubte,« versetzte sie mit einem sehr anmuthigen Lächeln, »Sie tanzten nur aus Nothwendigkeit wie das letzte Mal.«

Die Abwesenheit Gruschnitzki's scheint sie durchaus nicht bemerkt zu haben.

»Morgen werden Sie eine angenehme Ueberraschung haben,« fuhr ich fort.

»Wieso?«

»Das ist ein Geheimniß ... auf dem Balle werden Sie es selbst errathen.«

Den Rest des Abends habe ich in dem Salon ihrer Mutter verbracht. Außer Wera und einem sehr amüsanten Greise waren keine Gäste anwesend. Ich war gut aufgelegt und improvisirte verschiedene merkwürdige Historien. Mary saß mir gegenüber und hörte meine Albernheiten mit solch vertrauensvoller, ja fast zärtlicher Aufmerksamkeit an, daß ich mir Vorwürfe machte. Wo sind ihre Lebhaftigkeit, ihre Koketterie, ihre Launen, ihre stolze Haltung, ihr verächtliches Lächeln, ihre zerstreuten Blicke geblieben?

Das Alles hat Wera sehr wohl bemerkt. Auf ihrem leidenden Gesichte war tiefe Traurigkeit zu lesen; sie saß in einem breiten Lehnstuhl vergraben in einer Fensternische. Ich hatte Mitleid mit ihr.

Und dann erzählte ich die ganze dramatische Geschichte meiner und Wera's Liebe, wobei ich natürlich sämmtliche Namen änderte.

Ich schilderte so lebhaft meine Zärtlichkeit, die Unruhe, das Entzücken unserer Liebe; ich zeigte ihren Charakter, ihr Benehmen in einem so günstigen Lichte, daß sie mir wohl oder übel meine Koketterie mit Mary verzeihen mußte.[143]

Sie stand auf und setzte sich zu uns – sie war wie neugeboren ... Und erst um zwei Uhr Morgens erinnerten wir uns, daß die Aerzte uns verordnet haben, um elf Uhr zu Bett zu gehen.


* * *

13. Juni.


Eine halbe Stunde vor dem Ball erschien Gruschnitzki bei mir im ganzen Glanze seiner Offiziersuniform. An seinem dritten Knopfe hing eine kleine Broncekette, an welcher sich eine Lorgnette schaukelte. Die ungewöhnlich großen Epauletten erhoben sich auf seinen Schultern wie Amorettenflügel. Seine Stiefel knarrten, und in seiner Linken hielt er seine Mütze und zimmetfarbene Handschuhe; mit der Rechten strich er jeden Augenblick seine Haarlocken zurecht. Sein Gesicht drückte Selbstzufriedenheit, zugleich jedoch ein gewisses Mißtrauen aus. Seine Festtagstoilette, sein stolzer Gang hätten mich zum Lachen gereizt, wenn dasselbe mit meinen Plänen vereinbar gewesen wäre.

Er warf Mütze und Handschuhe auf den Tisch, stellte sich vor den Spiegel und begann an seinen Rockschößen zu zupfen. Eine ungeheure schwarze Cravatte, die einen sehr hohen Stehkragen umschloß, preßte ihm das Kinn und ragte einen guten halben Zoll über den Kragen empor. Aber das schien ihm noch zu wenig und so zog er sie bis zu den Ohren empor. In Folge dieser mühevollen Arbeit – denn der Uniformskragen war sehr schmal und widerspenstig – war sein Gesicht ganz blau angelaufen.

»Man behauptet,« sagte er ziemlich gleichgiltig und ohne mich anzusehen, »du hättest während der letzten Tage meiner Prinzessin schrecklich den Hof gemacht?«

»Wir armen Teufel müssen doch irgendwo unsern Thee trinken!« erwiderte ich ihm, eine sprichwörtlich gewordene Stelle aus einer der reizendsten Novellen von Puschkin citirend.

»Sage einmal, wie steht mir die Uniform? ... Ach,[144] der verdammte Jude! ... Wie das unter den Armen kneift! ... Hast du kein Riechfläschchen?«

»Ich bitte dich, wozu noch mehr? Du strömst schon einen solchen Duft von Rosenpomade aus!«

»Thut nichts, gib nur her ...«

Und er goß sich ein halbes Fläschchen auf Cravatte, Taschentuch und Aermel.

»Wirst du tanzen?« fragte er.

»Ich denke nicht.«

»Ich fürchte, ich muß mit der Fürstin die erste Mazurka tanzen; und ich kenne kaum eine Figur ...«

»Hast du sie zu der Mazurka engagirt?«

»Noch nicht.«

»So sorge, daß dir Niemand zuvorkommt.«

»Das ist auch wahr!« rief er, sich vor die Stirn schlagend. »Adieu ... ich werde dich auf dem Perron erwarten.«

Und er ergriff seine Mütze und eilte davon.

Nach einer halben Stunde begab auch ich mich nach dem Balle. Auf der Straße war es trübe und leer. Die Menge drängte sich um das Haus, in welchem getanzt werden sollte; sämmtliche Fenster desselben waren erleuchtet; der Abendwind trug mir die Töne der Regimentsmusik zu. Langsam schritt ich dahin; ich war trübe gestimmt ... Ist es denn möglich, dachte ich, daß mein einziger Beruf hier auf der Welt der sein kann, die Hoffnungen Anderer zu zerstören? Wie oft hat das Schicksal seit dem Tage, wo ich in das wirkliche Leben eingetreten bin, mich in fremde Schauspiele hineinverwickelt, um die Lösung derselben zu beschleunigen – als könnte ohne mich Niemand sterben, Niemand in Verzweiflung gerathen! Ich war immer die nothwendige Person des fünften Akts; wohl oder übel spielte ich die traurige Rolle des Verräthers oder Henkers. Was kann das Schicksal mit mir vorhaben? ... Bin ich von ihm dazu ausersehen, den Verfassern von bürgerlichen[145] Trauerspielen und Familienromanen – oder den Lieferanten von Novellen, wie z.B. der in der »Lesebibliothek,« den Stoff zu liefern? ... Was grüble ich? ... Wie manche Menschen träumen sich beim Beginn ihres Lebens, sie würden es wie Alexander der Große, oder wie Byron schließen, während sie bis an ihren letzten Tag friedliche Hof- und Staatsräthe bleiben ...

Als ich in den Saal trat, versteckte ich mich in einem Haufen von Zuschauern, um bequem meine Beobachtungen machen zu können. Gruschnitzki stand neben der Fürstin und redete mit großer Wärme. Sie hörte ihn zerstreut an, blickte zur Seite und legte ihren Fächer an die Lippen. Auf ihren Zügen lag ein Ausdruck von Ungeduld, ihre Augen suchten irgend Jemand. Ich näherte mich ihr still, ohne daß sie mich sah, um ihr Gespräch mit anhören zu können.

»Wie Sie mich foltern, Fürstin!« sagte Gruschnitzki. »Sie haben sich seit einigen Tagen schrecklich geändert ...«

»Und Sie ebenfalls,« antwortete sie, indem sie einen raschen Blick auf ihn warf, aus welchem er eine geheime Ironie nicht herauszufühlen verstand.

»Ich! Ich mich verändert ... O, niemals! Sie wissen, daß das unmöglich ist! Wer Sie einmal gesehen, wird Ihr göttliches Bild ewig im Herzen tragen.«

»Hören Sie doch auf!«

»Warum wollen Sie jetzt nicht mehr die Worte anhören, die Sie noch vor Kurzem so wohlwollend aufnahmen?«

»Weil ich Wiederholungen nicht liebe,« antwortete sie lachend.

»O, ich habe mich grausam getäuscht! ... Thor, der ich war, ich glaubte wenigstens, diese Epauletten würden mir das Recht geben zu hoffen ... Aber nein ... es wäre besser für mich gewesen, wenn ich mein ganzes Leben in diesem erbärmlichen Soldatenmantel geblieben, welchem ich vielleicht Ihre Aufmerksamkeit zu verdanken habe.«[146]

»Dieser Mantel stand Ihnen in der That viel besser.«

In diesem Augenblick trat ich vor und verbeugte mich vor der Fürstin. Sie erröthete ein wenig und sagte rasch:

»Nicht wahr, Herr Petschorin, der graue Mantel stand Herrn Gruschnitzki weit besser?«

»Da bin ich nicht Ihrer Ansicht,« antwortete ich; »die Uniform macht ihn viel jünger.«

Diesen Schlag ertrug Gruschnitzki nicht. Wie alle Knaben hat er die Prätension, als ein alter Mann zu erscheinen. Er meint, die Leidenschaften hätten seinem Gesicht tiefe Spuren, die Spuren des Alters aufgedrückt. Er warf mir einen wüthenden Blick zu, stampfte mit dem Fuße und entfernte sich.

»Gestehen Sie,« sagte ich zu der Fürstin, »daß er, obgleich immer sehr lächerlich, Ihnen doch bis vor Kurzem noch interessant erschien – in seinem grauen Mantel?«

Sie senkte die Augen und antwortete nicht.

Den ganzen Abend verfolgte sie Gruschnitzki und tanzte entweder mit ihr oder ihr gegenüber. Er verschlang sie geradezu mit seinen Augen, seufzte und belästigte sie mit seinen Bitten und Vorwürfen. Nach der dritten Quadrille verabscheute sie ihn bereits.

»Das hätte ich von dir nicht erwartet,« sprach er, indem er auf mich zukam und meinen Arm ergriff.

»Was denn?«

»Du tanzest ja mit ihr die Mazurka,« rief er in tragischem Tone. »Sie hat's gestanden.«

»Warum denn nicht? Ist es vielleicht ein Geheimniß?«

»Aber ich hätte das von einem solchen Mädchen, einer solchen Kokette erwarten können ... Indeß, ich werde mich rächen!«

»Klage deinen Mantel oder deine Epauletten an, und nicht sie. Ist es ihre Schuld, daß du ihr nicht mehr gefällst?«

»Aber warum mir dann Hoffnungen machen?«

»Aber warum hast du gehofft? Man kann wünschen[147] und Jemand den Hof machen – immerhin; aber wer wird da hoffen?«

»Du hast deine Wette gewonnen, – aber noch nicht ganz,« sagte er mit einem boshaften Lächeln.

Die Mazurka begann. Gruschnitzki tanzte nur einmal mit Mary, die andern Cavaliere forderten sie jeden Augenblick auf: das war offenbar ein gegen mich gerichtetes Complot. Um so besser! Sie wünscht mit mir zu reden; man hindert sie daran – sie wird es nur um so mehr wünschen.

Ich drückte ihr zweimal die Hand; beim zweiten Mal zog sie sie, ohne ein Wort zu sagen, zurück.

»Ich werde heut' Nacht schlecht schlafen,« sprach sie, als die Mazurka zu Ende war.

»Sollte Gruschnitzki daran Schuld sein?«

»O, durchaus nicht!«

Und ihr Antlitz wurde so nachdenklich, so traurig, daß ich mir das Wort gab, schon an diesem Abend unbedingt ihre Hand zu küssen.

Kurz nachher brach man auf. Als ich Mary zu ihrem Wagen führte, ergriff ich plötzlich ihre kleine Hand und drückte sie rasch an meine Lippen. Es war dunkel, und Niemand konnte es sehen.

Sehr mit mir zufrieden kehrte ich in den Saal zurück. An einem großen Tische soupirten die jungen Leute. Auch Gruschnitzki befand sich unter ihnen. Als ich eintrat, schwieg Alles; offenbar war von mir die Rede gewesen. Von dem vorigen Balle her sehen mich viele mit schiefen Blicken an, besonders der Dragonerhauptmann; jetzt aber scheint sich unter Gruschnitzki's Commando eine regelrechte Verschwörung gegen mich zu organisiren. Er nimmt eine so stolze martialische Miene an ...

Freut mich sehr. Ich liebe meine Feinde, wenn auch nicht im christlichen Sinne. Sie amüsiren mich, bringen mein Blut in Wallung. Immer auf seiner Hut sein müssen,[148] jeden Blick erspähen, den Sinn jedes Wortes erforschen, ihre Absichten errathen, ihre Pläne durchkreuzen, eine falsche Sicherheit heucheln und plötzlich mit einem Stoße das große mit so vieler Mühe errichtete Gebäude ihrer heimtückischen Combinationen über den Haufen werfen – das nenne ich leben!

Während des ganzen Souper hörte Gruschnitzki nicht auf, dem Dragonerhauptmann zuzuflüstern und ihm verständnißvolle Winke zu geben.


* * *

14. Juni.


Heut' Morgen ist Wera mit ihrem Manne nach Kislowodsk abgereist. Ich begegnete ihrem Wagen, als ich mich zu der Fürstin Ligowski begab. Sie nickte mir mit dem Kopfe. In ihrem Blicke lag ein Vorwurf.

Wer hat die Schuld? Warum will sie mir nicht Gelegenheit geben, sie allein zu sehen. Die Liebe ist wie das Feuer – ohne Nahrung erlischt sie. Vielleicht bewirkt die Eifersucht, was meinen Bitten unmöglich war.

Ich blieb über eine Stunde bei der Fürstin. Mary kam nicht zum Vorschein. Sie ist krank. Auch hat sie sich am Abend nicht auf dem Boulevard gezeigt. Die neu organisirte Kabale nahm, mit Lorgnetten bewaffnet, in der That eine drohende Haltung an. Es freut mich, daß Mary krank ist; sie hätten die eine oder andere Frechheit begehen können. Gruschnitzki's Haar ist vernachlässigt, und sein Gesicht drückt Verzweiflung aus. Seine Eigenliebe scheint wirklich arg gelitten zu haben; aber es gibt Leute, die sogar in ihrer Verzweiflung lächerlich sind.

Als ich in meine Wohnung trat, fühlte ich, daß mir etwas fehlte. Ich habe sie nicht gesehen! Sie ist krank! Sollte ich in der That verliebt sein? ... Welche Albernheit!


* * *

[149] 15. Juni.


Heut' Morgen gegen elf Uhr, – die Stunde, wo die Fürstin Ligowski sich nach dem Bade zu begeben pflegt – kam ich an ihrem Hause vorbei. Mary saß gedankenvoll am Fenster. Als sie mich erblickte, stand sie rasch auf. Ich trat in das Vorzimmer; Niemand war da, mich anzumelden, und so begab ich mich ohne Weiteres in das Gastzimmer.

Eine trübe Blässe bedeckte Mary's schönes Gesicht. Sie stand am Piano, die Hand auf die Lehne eines Stuhls gestützt, und diese Hand zitterte kaum merklich.

Ich trat auf sie zu und sagte:

»Sind Sie erzürnt auf mich?«

Sie sah mich mit ihren großen tiefen Augen an und schüttelte den Kopf. Ihre Lippen bewegten sich, aber ohne ein einziges Wort hervorzubringen. Ihre Augen füllten sich mit Thränen, sie sank in den Sessel und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Was fehlt Ihnen denn?« sagte ich, ihre Hand ergreifend.

»Sie achten mich nicht ... O, lassen Sie mich!«

Ich that einige Schritte zurück. Sie richtete sich auf im Sessel; ihre Augen funkelten.

Ich blieb stehen, griff nach der Thür und sagte:

»Verzeihen Sie, Fürstin; ich habe wie ein Unsinniger gehandelt ... Es wird nicht zum zweiten Mal geschehen; ich werde meine Maßregeln ergreifen ... Und wie könnten Sie auch wissen, was in mir vorgegangen ist? Nein, Sie werden es nie erfahren, und das wird für Sie auch das Beste sein. Leben Sie wohl.«

Als ich hinausging, schien es mir, als hörte ich sie weinen.

Bis zum Abend streifte ich zu Fuß an den Abhängen des Maschuk umher, so lange, bis ich vollständig erschöpft war. Nach Hause zurückgekehrt, warf ich mich auf das Bett.

Da trat Werner ein.[150]

»Ist es wahr,« fragte er, »daß Sie die junge Fürstin Ligowski heirathen?«

»Welcher Einfall!«

»Die ganze Stadt sagt es; alle meine Patienten sind mit dieser wichtigen Neuigkeit beschäftigt, – und die Kranken wissen ja immer Alles!«

»Für diesen Streich habe ich mich bei Gruschnitzki zu bedanken,« dachte ich.

»Um Ihnen, Doctor, die Unrichtigkeit dieser Neuigkeit zu beweisen, theile ich Ihnen im Vertrauen mit, daß ich morgen nach Kislowodsk abreise.«

»Reist die Fürstin ebenfalls?«

»Nein; sie bleibt noch acht Tage hier.«

»Sie heirathen sie also nicht?«

»Doctor, Doctor! Betrachten Sie mich doch; sehe ich denn aus wie ein Bräutigam, oder habe ich wenigstens einige Aehnlichkeit mit einem solchen?«

»Das behaupte ich nicht ... Aber Sie wissen, es gibt Umstände,« fuhr er schlau lächelnd fort, »wo ein Ehrenmann verpflichtet ist, zu heirathen, und es gibt Mütterchen, welche derartige Umstände wenigstens nicht voraussehen ... Als Freund rathe ich Ihnen daher, vorsichtiger zu sein. Hier im Bade weht eine sehr gefährliche Luft. Wie manchen schönen jungen Mann, der eines bessern Looses würdig gewesen, habe ich von hier direct in das Ehejoch sich begeben sehen ... Sogar mich – können Sie das glauben! – hat man verheirathen wollen. Es war eine jener zärtlichen Mütter vom Lande, deren blasse Tochter meiner Fürsorge anvertraut war. Ich hatte eines Tages das Unglück, ihr zu sagen, nach der Hochzeit würde die frische Gesichtsfarbe ihrer Tochter zurückkehren; da offerirte sie mir mit Thränen der Dankbarkeit in den Augen die Hand ihrer Tochter, sowie ihr ganzes Vermögen, das heißt fünfzig Leibeigene. Aber ich antwortete, ich sei eines solchen Glückes nicht würdig.«[151]

Nach dieser Rede ging Werner wieder fort, vollkommen überzeugt, er habe mir einen weisen Rath gegeben.

Aus seinen Worten ging wenigstens so viel hervor, daß über mich und Mary verschiedene dumme Gerüchte verbreitet sind. Das werde ich Gruschnitzki nicht so hingehen lassen.


* * *

18. Juni.


Seit drei Tagen befinde ich mich in Kislowodsk. Täglich sehe ich Wera an der Quelle und auf der Promenade. Des Morgens setze ich mich an das Fenster und richte meine Lorgnette auf ihren Balkon; sie ist schon längst angekleidet und erwartet das verabredete Zeichen. Wir treffen uns wie zufällig in dem Garten, der von unseren Wohnungen nach der Quelle führt. Die belebende Bergluft hat ihr Antlitz wieder geröthet und ihre Kräfte gestärkt. Nicht ohne Grund heißt Narsan die Heldenquelle. Die Bewohner der hiesigen Gegend behaupten, die Luft von Kislowodsk mache das Herz für die Liebe empfänglich, und hier fänden all die Romane, die an den Abhängen des Maschuk begonnen, ihren Abschluß.

Und in der That, hier athmet Alles Einsamkeit; hier ist Alles so geheimnißvoll. Große schattenreiche Lindenalleen ziehen sich nach dem Waldbach hinunter, der sich bald schäumend und lärmend von Fels zu Fels stürzt, bald sich zwischen grünen Hügeln dahinschlängelt. Etwas weiter gewahrt man schweigsame nebelbedeckte Schluchten, deren Verzweigungen sich nach allen Richtungen hin erstrecken. Das hohe Gras, die langen Zweige der weißen Akazien erfüllen die Atmosphäre mit aromatischen Düften, und das Ohr erfreut sich an dem unaufhörlichen, einschläfernden Gemurmel der Bäche, welche sich in der Ebene brüderlich vereinigen und sich gemeinschaftlich in den Podkumok ergießen.

Nach dieser Seite erweitert sich die Schlucht und verwandelt sich in ein grünes Thal, durch welches sich ein[152] staubiger Weg zieht. So oft ich meine Blicke nach diesem Wege richte, ist es mir, als rollte ein Wagen über denselben, und als blickte aus dem Fenster dieses Wagens ein rosiges Gesichtchen. Aber schon viele Wagen sind über diesen Weg gekommen – der erwartete erscheint nicht.

In dem Dorfe, das hinter dem Fort liegt, geht es sehr lebhaft her. In der Restauration, die auf einer Anhöhe in geringer Entfernung von meiner Wohnung sich befindet, schimmern des Abends eine Menge Lichter durch die doppelte Pappelreihe; und bis tief in die Nacht hört man die Stimmen der Gäste und das Klirren der Gläser.

Nirgends wird so viel Kachetinerwein und so viel Mineralwasser getrunken als hier.

Gruschnitzki macht mit seinem Anhang großen Lärm in dem Restaurant und grüßt mich kaum noch.

Er ist erst gestern Abend angekommen, und doch hat er schon Gelegenheit gefunden, mit drei Greisen anzubinden, die vor ihm baden wollten. Die Luft in den Bädern ist ihm entschieden nicht günstig.


* * *

22. Juni.


Endlich sind sie angekommen. Ich saß am Fenster, als ich plötzlich das Rasseln eines Wagens hörte; das Herz erbebte mir ... Was bedeutet diese Aufregung? Sollte ich verliebt sein? ... Ich bin so dumm organisirt, daß ich für nichts einstehen kann.

Ich habe bei ihnen zu Mittag gespeist. Die Fürstin Mutter betrachtete mich mit sehr zärtlichen Blicken, aber sie verließ ihre Tochter keinen Augenblick .... schlimm! Und Wera ist eifersüchtig auf Mary – das ist das Resultat meiner Manöver! Wessen wäre eine Frau nicht fähig, um ihre Nebenbuhlerin zu beleidigen? Ich erinnere mich, daß ich einmal von einer Frau nur darum geliebt wurde, weil ich eine andere liebte. Es gibt nichts Widerspruchsvolleres als ein Frauenverstand. Nichts ist schwieriger, als[153] eine Frau von etwas zu überzeugen. Die Beweiskette, mit deren Hilfe die Frauen ihre Vorurtheile besiegen, ist höchst originell. Um ihnen in ihrer Dialektik zu folgen, muß man zunächst alle Grundsätze der Logik bei Seite werfen. Nehmen wir ein Beispiel.

Die gewöhnliche Logik sagt:

Dieser Mann liebt mich; aber ich bin verheirathet: folglich darf ich ihn nicht lieben.

Die Frauenlogik raisonnirt also:

Ich darf ihn nicht lieben; denn ich bin verheirathet; aber er liebt mich – folglich ...

Hier folgen einige Punkte, denn die Vernunft hat hier nichts mehr zu sagen, – jetzt kommen die Zunge, die Augen und das Herz an die Reihe, – wenn ein solches vorhanden ist. –

Sollten diese Stellen meines Tagebuchs einer Frau in die Hände fallen, so wird sie mit Abscheu ausrufen: »Verleumdung!«

Seit die Poeten singen und die Frauen sie lesen – wofür wir ihnen nicht genug danken können – haben sie dieselben so oft Engel genannt, daß sie sich in ihrer Herzenseinfalt endlich eingeredet, sie hätten dieses Compliment in der That verdient, wobei sie ganz vergessen, daß diese selben Poeten gegen eine pecuniäre Entschädigung Nero unter die Halbgötter gesetzt haben.

Es steht mir jedoch kaum an, so boshaft von ihnen zu reden – mir, der ich außer ihnen nichts in der Welt liebe, – mir, der ich immer bereit gewesen, ihnen meine Ruhe, meinen Ehrgeiz, mein Leben zu opfern ... Aber selbst in einem Anfall von Aerger, oder wenn ich mich in meiner Eigenliebe verletzt fühle, habe ich nicht jenen magischen Schleier zu lüften versucht, durch welchen nur das geübteste Auge hindurchzublicken vermag. Nein, Alles, was ich von ihnen sage, ist nur die Folge:[154]


Der Träume, die mein Herz bewegt,

Der Schmerzen und der Täuschungen.


Es wäre wünschenswerth für die Frauen, daß alle Männer sie so gut kennten wie ich, denn ich liebe sie hundertmal mehr, seitdem ich ihre schwachen Seiten kenne und sie nicht mehr fürchte.

Ich erinnere mich, daß Werner die Frauen einmal mit dem verzauberten Walde verglich, den Tasso in seinen Beschreibungen Jerusalems schildert.

Gleich beim Eintritt, sagte er, werden dir Gott weiß welche Ungeheuer begegnen: Die Pflicht, der Stolz, der Anstand, die öffentliche Meinung, die Lächerlichkeit, die Verachtung ...

Aber blicke nur nicht hin und gehe deines Weges ruhig weiter; nach und nach werden diese Gespenster verschwinden, und du wirst vor dir ein friedliches, lachendes Thal erblicken, in welchem die grüne Myrthe blüht. Aber wehe dir, wenn bei den ersten Schritten dein Herz zittert und du zurückblickst.


* * *

24. Juni.


Der heutige Abend war für mich voller Ereignisse. Drei Werst von Kislowodsk, in einer Schlucht, durch welche der Podkumok fließt, befindet sich ein Felsen, den man den »Ring« nennt. Es ist dies ein von der Natur gebildetes Thor. Dasselbe liegt auf einem hohen Hügel, und des Abends wirft die Sonne durch diese Oeffnung ihren letzten flammenden Blick auf die Ebene. Eine zahlreiche Cavalcade begab sich dorthin, um die Sonne durch dieses steinerne Fenster untergehen zu sehen. Die Wahrheit zu sagen, dachte keiner von der Gesellschaft an dieses schöne Schauspiel.

Ich ritt neben Mary. Auf dem Heimwege mußten wir den Podkumok durchwaten. Die kleinsten Waldbäche sind hier gefährlich, weil ihr Bett geradezu einem Kaleidoskop gleicht; jeden Tag wird dasselbe durch das Ungestüm des[155] kleinen Waldstromes verändert; wo gestern ein Stein lag, da befindet sich heut' ein Loch.

Ich ergriff Mary's Pferd beim Zügel und zog es ins Wasser, das ihm kaum bis an die Knie ging. Wir näherten uns vorsichtig der Strömung. Bekanntlich darf man, wenn man durch ein reißendes Flüßchen geht, nicht auf das Wasser blicken, will man nicht sofort von einem Schwindel erfaßt werden. Ich hatte vergessen, meiner Begleiterin diese Verhaltungsmaßregel mitzutheilen.

Wir befanden uns bereits mitten in dem Flüßchen, an der Stelle, wo die Strömung am heftigsten war, als sie plötzlich in ihrem Sattel wankte.

»Mir ist übel,« sprach sie mit schwacher Stimme.

Ich neigte mich sofort ihr zu, um meinen Arm um ihre zarte Taille zu legen.

»Blicken Sie empor!« flüsterte ich ihr zu. »Es ist nichts; nur keine Furcht; ich bin bei Ihnen.«

Sie fühlte sich gleich wieder besser, und versuchte sich von meinem Arm zu befreien; aber ich umschlang ihre zarte, weiche Gestalt nur noch fester; meine Wange berührte beinah die ihrige, welche wie Feuer brannte.

»Was machen Sie?« rief sie ... »Mein Gott!«

Ohne auf ihre Aufregung zu achten, drückte ich meine Lippen auf ihre zarte Wange. Sie erbebte, sagte aber nichts. Wir waren die Letzten; Niemand hatte etwas gesehen.

Als wir das Ufer erreicht hatten, jagten Alle im Galopp davon. Mary hielt ihr Pferd an; ich blieb bei ihr. Augenscheinlich beunruhigte sie mein Schweigen; aber ich hatte mir fest vorgenommen, kein Wort zu sagen – aus Neugier. Ich war begierig, zu sehen, wie sie sich aus dieser schwierigen Lage herausziehen würde.

»Entweder verachten Sie mich, oder Sie lieben mich sehr!« sagte sie endlich mit thränenerstickter Stimme. »Vielleicht wollen Sie sich über mich lustig machen, mir den Kopf verwirren und mich dann verlassen ... Das wäre[156] so unwürdig, so niedrig, daß schon der bloße Verdacht ... Aber nein! Nicht wahr,« setzte sie in süßem, vertrauensvollem Tone hinzu, »nicht wahr, ich habe nichts an mir, was mir die Achtung rauben könnte? Ihr keckes Benehmen ... Ich muß, ich muß es Ihnen verzeihen, weil ich es zugelassen habe ... Antworten Sie, reden Sie doch – ich will Ihre Stimme hören!«

Sie sprach diese letzteren Worte mit echt weiblicher Ungeduld, so daß ich unwillkürlich lächeln mußte. Zum Glück begann es schon dunkel zu werden, so daß sie es nicht merkte.

Ich antwortete nichts.

»Sie schweigen?« fuhr sie fort. »Vielleicht wollen Sie, daß ich zuerst rede ... daß ich Ihnen sage, wie ich Sie liebe.«

Ich schwieg noch immer.

»Wollen Sie das?« rief sie und wandte sich plötzlich mir zu ...

In ihrem Blicke und in ihrer Stimme lag eine eigenthümliche Entschiedenheit ...

»Warum?« antwortete ich achselzuckend.

Sie gab ihrem Pferde einen Schlag mit der Peitsche und sprengte in vollem Galopp auf dem schmalen gefahrvollen Wege dahin. Das geschah so schnell, daß ich sie kaum einholen konnte und zwar erst, als sie sich mit der übrigen Gesellschaft wieder vereinigt hatte. Bis unmittelbar vor das Haus redete und lachte sie in einem fort. Diese Lebhaftigkeit hatte etwas Fieberhaftes. Mich sah sie mit keinem einzigen Blicke an. Allen fiel diese ungewöhnliche Fröhlichkeit auf. Ihre Mutter freute sich innerlich, ihre Tochter so heiter zu sehen; und doch war es weiter nichts als ein einfacher Nervenanfall.

Sie wird diese Nacht ohne Schlaf zubringen; sie wird weinen. Dieser Gedanke gewährt mir einen eigenthümlichen Genuß: Es gibt Augenblicke, wo ich den Vampyr verstehe ... Und doch hält man mich für ein gutes Kind, und ich will, daß man diese Meinung von mir beibehält.[157]

Wir stiegen von den Pferden. Die Damen begaben sich zur Fürstin. Aber ich war aufgeregt; und so bin ich in dem Walde umhergejagt, um die Gedanken zu zerstreuen, welche mir den Kopf beunruhigten.

Der Abend war still und frisch. Der Mond war soeben hinter den dunklen Berggipfeln emporgestiegen. Jeder Hufschlag meines Pferdes ertönte dumpf in den schweigsamen Schluchten wieder. Bei einem Wasserfall ließ ich mein Pferd trinken. In langen Zügen zog ich die frische Luft dieser südlichen Nacht ein. Dann setzte ich meinen Weg fort, um mich nach Hause zurückzubegeben. Ich ritt durch das Dorf. Die Lichter begannen eines nach dem andern zu verlöschen; die Schildwachen auf den Wällen und die auf den Höhen aufgestellten Kosaken unterbrachen von Zeit zu Zeit mit ihren Rufen das Schweigen der Nacht.

Aber bei einem der Häuser des Dorfes, welche am Rande der Schlucht lagen, tönte ein anderer Lärm an mein Ohr. Es war eine geräuschvolle Gesellschaft, die sich zu einem Gelage eingefunden hatte. Ich näherte mich vorsichtig einem Fenster. Durch die schlechtgeschlossenen Läden konnte ich die fröhlichen Zecher sehen und ihre Unterhaltung verstehen. Sie sprachen von mir.

Der Dragonerhauptmann, vom Weine erhitzt, schlug mit der Faust auf den Tisch und verlangte Aufmerksamkeit.

»Meine Herren,« sagte er, »das Alles ist dummes Zeug. Petschorin muß eine Lection erhalten! Diese Petersburger Stutzer bilden sich Gott weiß was ein, bis man ihnen den Kopf zurechtsetzt. Er glaubt die Welt besser zu kennen, als alle anderen Menschen, weil er Lackstiefel und gelbe Handschuhe trägt. Und dieses unverschämte Lächeln! Und doch bin ich überzeugt, daß er eine Memme ist – ja, ja, eine Memme.«

»Das ist auch meine Ansicht,« sagte Gruschnitzki. »Er zieht sich gern mit einem Scherze aus der Verlegenheit. Ich habe ihm schon Dinge gesagt, daß ein Anderer mir[158] sofort eine Kugel durch den Kopf gejagt hätte; aber Petschorin gab Allem eine lächerliche Wendung. Ich habe ihn natürlich nicht herausgefordert, denn das war seine Sache. Aber er wollte nicht.«

»Gruschnitzki,« sagte ein Anderer, »ist nicht gut auf ihn zu sprechen, weil er ihm die kleine Fürstin vor der Nase weggeschnappt hat.«

»Welcher Einfall!« rief Gruschnitzki. »Es ist wahr, ich habe der Fürstin ein wenig den Hof gemacht; aber ich habe mich streng in meinen Grenzen gehalten, weil ich sie nicht heirathen will, und es nicht zu meinen Grundsätzen gehört, ein Mädchen zu compromittiren.«

»Ja, ich versichere Sie, er ist eine ausgemachte Memme – nämlich Petschorin, nicht Gruschnitzki, – der ist ein braver junger Mann und zudem mein intimer Freund,« fuhr der Dragonerhauptmann fort. »Aber, meine Herren, ist denn Niemand hier, der bereit ist, für Petschorin in die Schranken zu treten? Niemand? Um so besser! Wir wollen seinen Muth auf die Probe stellen! Das wird uns amüsiren ...«

»Sehr schön; aber wie?«

»Hören Sie! Gruschnitzki hat am meisten Grund auf ihn böse zu sein – ihm gebührt daher die erste Rolle! Er wird also den ersten besten Vorwand nehmen, um Petschorin zum Duell herauszufordern ... Hören Sie! Nun kommt der Spaß ... Das Duell ist angenommen – schön! Alles, was vorhergeht – Anordnungen, Verabredungen u.s.w. – wird in möglichst feierlicher und schrecklicher Weise abgemacht, – das nehme ich auf mich; ich werde dein Secundant sein, mein armer Freund! Schön! Aber nun kommt die Finesse: Wir thun keine Kugeln in die Pistolen. Ich bürge Ihnen dafür, Petschorin wird Angst haben! Ich stelle die Gegner sechs Schritte von einander auf, hol' mich der Teufel! Einverstanden, meine Herren?«[159]

»Ausgezeichnet! Einverstanden! Warum nicht?« ertönte es von allen Seiten.

»Und du, Gruschnitzki?« Ich erwartete bebend Gruschnitzki's Antwort. Ein kalter Schauder überlief mich bei dem Gedanken, daß, wenn der Zufall mich nicht hergeführt, ich ein Gegenstand der Lächerlichkeit für diese Narren hätte werden können. Hätte Gruschnitzki nicht angenommen, ich würde ihm um den Hals gefallen sein. Aber nach kurzem Schweigen stand er auf, reichte dem Hauptmann die Hand und sagte in sehr feierlichem Ton:

»Gut, ich bin einverstanden.«

Es ist schwer, die Begeisterung zu beschreiben, in welche bei diesen Worten die ganze ehrenwerthe Gesellschaft ausbrach.

Von zwei einander widersprechenden Empfindungen aufgeregt, kehrte ich nach Hause zurück. Das eine Gefühl war das der Traurigkeit: Warum hassen mich alle diese Menschen, dachte ich – ja, warum? Habe ich einen von ihnen beleidigt? Nein. Oder sollte ich zu jenen Leuten gehören, deren bloßer Anblick schon Widerwillen einflößt? ... Und während ich so grübelte, mußte ich mir eingestehen, daß das Gift der Bosheit nach und nach meine ganze Seele ergriffen hat. Nehmen Sie sich in Acht, Herr Gruschnitzki! sagte ich vor mich hin, während ich in meinem Zimmer auf- und niederschritt. Ich werde die Sache nicht als einen Scherz behandeln. Der Beifall Ihrer albernen Kameraden könnte Sie theuer zu stehen kommen. Ich werde mich nicht zu Ihrem Spielzeug hergeben!

Die ganze Nacht habe ich nicht geschlafen. Am andern Morgen war ich gelb wie eine Pomeranze.

In den Morgenstunden begegnete ich an der Quelle der jungen Fürstin.

»Sind Sie krank?« fragte sie, indem sie mich fest anblickte.

»Ich habe heut' Nacht nicht geschlafen.«

»Ich ebenfalls nicht ... Ich klagte Sie an ... vielleicht[160] mit Unrecht. – Aber erklären Sie sich doch. Ich kann Ihnen Alles verzeihen.«

»Alles?«

»Ja, Alles ... Aber sagen Sie mir die Wahrheit, und zwar bald ... Sehen Sie, ich habe viel hin- und hergedacht, um mir Ihr Benehmen zu rechtfertigen. Vielleicht fürchten Sie Hindernisse seitens meiner Verwandten ... Nein, sie werden keine Schwierigkeiten machen, wenn sie erfahren, (ihre Stimme bebte) ich werde mit Bitten in sie dringen ... Oder vielleicht Ihre eigene Lage? ... Aber, ich sage Ihnen, ich kann Alles opfern für den, den ich liebe ... O, antworten Sie mir schnell, – reden Sie, reden Sie! Nicht wahr, Sie verachten mich nicht?«

Bei diesen Worten ergriff sie meine Hand.

Ihre Mutter ging mit Wera's Gatten an uns vorüber, ohne uns zu sehen. Aber die promenirenden Badegäste, die neugierigsten Geschöpfe aus dem ganzen Geschlecht der Verleumder, konnten uns sehen, und ich beeilte mich, meine Hand von ihrem leidenschaftlichen Druck zu befreien.

»Ich werde Ihnen die ganze Wahrheit sagen,« versetzte ich; »ich werde mein Benehmen weder rechtfertigen, noch erklären; ich liebe Sie nicht.«

Ihre Lippen erblaßten.

»Verlassen Sie mich,« sagte sie mit kaum vernehmlicher Stimme.

Ich zuckte die Achsel und entfernte mich.


* * *

25. Juni.


Zuweilen verachte ich mich. Sollte das der Grund sein, daß ich auch Andere verachte? Ich bin edler Triebe nicht mehr fähig. Ich würde fürchten, mich in meinen eigenen Augen lächerlich zu machen. Ein Anderer an meiner Stelle würde der Fürstin »sein Herz und sein Vermögen« zu Füßen gelegt haben; aber das Wort Heirath übt eine magische Wirkung auf mich. So leidenschaftlich ich eine Frau[161] auch lieben mag, sobald sie mir zu verstehen gibt, ich möchte sie heirathen, – dann fahre hin, Liebe! Mein Herz verwandelt sich dann in einen Stein, und nichts vermag es wieder zu erweichen. Zu allen Opfern bin ich bereit, nur zu diesem nicht. Zwanzigmal könnte ich mein Leben, sogar meine Ehre aufs Spiel setzen – aber meine Freiheit werde ich niemals verkaufen.

Warum ist sie mir denn so theuer? Was mache ich mit ihr? Habe ich irgend etwas im Auge? Habe ich von der Zukunft irgend etwas zu erwarten? ... Nichts, absolut nichts! Es ist dies eine angeborene Furcht, ein unerklärliches Vorgefühl ... Es gibt Leute, die einen entsetzlichen Abscheu vor Spinnen, Schwaben oder Mäusen haben. Soll ich's gestehen? Als ich noch Kind war, sagte mir eine alte Frau in Gegenwart meiner Mutter meine Zukunft voraus; sie prophezeite mir, daß eine böse Frau die Ursache meines Todes sein würde. Das machte einen tiefen Eindruck auf mich und flößte mir eine unüberwindliche Abneigung gegen die Ehe ein ... Und doch habe ich das Gefühl, daß ihre Prophezeiung in Erfüllung gehen werde. Ich werde mich wenigstens bemühen, daß es so spät wie möglich geschieht.


* * *

26. Juni.


Gestern ist der Taschenspieler Apfelbaum hier angekommen. An die Thür des Restaurants sind lange Plakate geklebt, die einem hochverehrlichen Publikum anzeigen, daß der weltberühmte Künstler, Akrobat, Chemiker und Optiker die Ehre haben wird, heut' Abend acht Uhr in dem Adelssaal (das heißt bei dem Restaurateur) eine große Vorstellung zu geben. Das Billet kostet zwei und einen halben Rubel.

Alle Welt will den wunderbaren Künstler sehen; sogar die Fürstin Ligowski hat sich trotz der Krankheit ihrer Tochter ein Billet holen lassen.

Nach dem Essen ging ich heut' an Wera's Fenstern[162] vorüber. Sie saß auf dem Balkon und warf mir folgenden Zettel zu:

»Komm' heut' Abend zehn Uhr über die große Treppe zu mir. Mein Mann ist nach Pjätigorsk gereist und wird erst morgen früh zurückkehren. Meine ganze Dienerschaft und die der Fürstin wird nicht zu Hause sein. Ich habe ihnen sämmtlich Billets zu der heutigen Vorstellung gegeben. – Ich erwarte dich; du mußt unfehlbar kommen.«

»Aha,« dachte ich, »endlich fügt sie sich meinen Wünschen.«

Gegen acht Uhr begab ich mich an den Ort, wo Apfelbaum seine Künste producirte. Gegen neun Uhr war der Saal mit Zuschauern angefüllt, und die Vorstellung begann. In den hinteren Reihen erkannte ich die Dienerschaft Wera's und der Fürstin. Nicht ein einziger fehlte.

In der ersten Reihe spreizte sich Gruschnitzki mit seiner Lorgnette. Der Taschenkünstler wandte sich jedes Mal an ihn, wenn er ein Taschentuch, eine Uhr, einen Ring u.s.w. gebrauchte.

Seit einiger Zeit grüßt mich Gruschnitzki gar nicht mehr, und heut' sah er mich sogar ziemlich unverschämt an. Er soll mir das Alles bezahlen, wenn wir unsere Rechnung ordnen. Kurz vor zehn Uhr stand ich auf und ging.

Draußen war es so finster, daß man keine Hand vor den Augen sehen konnte. Schwere kalte Nebelwolken lagen auf den Gipfeln der Berge ringsum. Nur von Zeit zu Zeit bewegte der Wind die Wipfel der Pappeln, welche die Restauration umgeben. Vor den Fenstern derselben drängte sich eine Schaar von Neugierigen. Ich schlug den Pfad, der an dem Abhang hinunterführt, ein; in einiger Entfernung beschleunigte ich meine Schritte. Plötzlich war es mir, als ginge Jemand hinter mir her. Ich blieb stehen und sah mich um. Es war jedoch in der Dunkelheit nicht möglich, etwas zu sehen. Aber aus Vorsicht ging ich um Wera's Haus herum, als ob ich promenirte. Als ich unter[163] den Fenstern der Fürstin vorbeikam, hörte ich abermals Schritte. Ein Mann, der in einen Mantel gehüllt war, eilte rasch an mir vorüber. Das beunruhigte mich; allein ich überschritt die Schwelle des Hauses und huschte rasch die finstere Treppe hinan. Die Thür öffnete sich, und eine kleine Hand ergriff die meine ...

»Hat dich Niemand gesehen?« sagte Wera flüsternd und schmiegte sich an mich.

»Niemand.«

»Und glaubst du jetzt, daß ich dich liebe? O, ich habe so lange geschwankt, so lange mit mir gekämpft ... Aber du machst aus mir was du willst.«

Heftig pochte ihr Herz, aber ihre Hände waren kalt wie Eis. Sie begann damit, mir eifersüchtige Vorwürfe zu machen, und sich über meine Gleichgiltigkeit zu beklagen; sie beschwor mich, ihr Alles zu gestehen, wobei sie versicherte, sie würde muthig meine Untreue ertragen, da sie ja nur mein Glück wolle. Davon bin ich nicht ganz überzeugt; allein ich beruhigte sie durch Schwüre, Versprechungen u.s.w.

»Du wirst also Mary nicht heirathen? Du liebst sie also nicht? ... Und sie glaubt ... Weißt du auch, daß sie wahnsinnig in dich verliebt ist? Das arme Kind!« – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Gegen zwei Uhr Morgens öffnete ich das Fenster, band zwei Shawltücher an einander und ließ mich von dem obern Balkon auf den untern herab, wobei ich mich an einer Säule festhielt.

In Mary's Zimmer brannte noch Licht. Ich weiß nicht, was mich verführte, in dasselbe hineinzublicken. Der Vorhang war nicht ganz heruntergelassen, und mein neugieriger Blick konnte bis in das Innere des Zimmers dringen.

Mary saß auf ihrem Bett, die Hände auf den Knieen gefalten. Eine mit Spitzen garnirte Nachthaube vermochte kaum ihr dichtes Haar zurückzuhalten. Ein großes rothes[164] Tuch bedeckte ihre Schultern, und ihre kleinen Füßchen versteckten sich in kostbaren persischen Pantoffeln. Sie saß unbeweglich, das Haupt auf die Brust gesenkt. Auf einem Tischchen vor ihr lag ein aufgeschlagenes Buch; aber ihre starren Blicke, welche die tiefste Traurigkeit ausdrückten, schienen zum hundertsten Mal über ein und dieselbe Seite hinzueilen, als wären ihre Gedanken weit, weit fort ... In diesem Augenblick regte sich etwas hinter dem Gebüsch. Ich sprang von dem Balkon auf das Gras hinab. Eine unsichtbare Hand legte sich auf meine Schulter.

»Aha,« sagte eine grobe Stimme. »Ertappt! ... Also wir besuchen in der Nacht Fürstinnen!«

»Halt' ihn recht fest!« schrie ein anderes Individuum, das irgendwo aus einem Winkel hervorsprang. Es waren Gruschnitzki und der Dragonerhauptmann.

Ich versetzte dem Letztern einen Faustschlag an den Kopf, so daß er zur Erde rollte, worauf ich mich in das Gebüsch stürzte. Alle Gartenwege waren mir vollkommen bekannt.

»Diebe, Diebe!« schrien sie; und unmittelbar darauf fiel ein Schuß; der noch rauchende Pfropfen fiel mir fast vor die Füße.

Einige Minuten später befand ich mich schon in meinem Zimmer. Ich entkleidete mich und legte mich zu Bett. Kaum hatte mein Diener die Thür abgeschlossen, als Gruschnitzki und der Hauptmann zu klopfen anfingen.

»Petschorin! Schlafen Sie? Sind Sie zu Hause?« schrie der Hauptmann.

»Ich schlafe!« antwortete ich zornig.

»Stehen Sie auf! ... Diebe! Tscherkessen!«

»Ich habe den Schnupfen,« antwortete ich, »und habe keine Lust, mich zu erkälten.«

Sie entfernten sich.

Ich bedauerte, daß ich ihnen geantwortet; sie würden mich noch über eine Stunde im Garten gesucht haben.

Inzwischen war ein schrecklicher Lärm entstanden.[165]

Aus dem Fort war ein Kosak herbeigelaufen. Alles war auf den Beinen. Alle Gebüsche klopfte man ab, um die Tscherkessen zu erwischen, was natürlich verlorene Mühe war. Trotzdem hatten ohne Zweifel viele die feste Ueberzeugung, daß, wenn die Garnison nur etwas mehr Eifer und Entschlossenheit gezeigt, wenigstens ein Dutzend Räuber auf dem Platze geblieben wären.


* * *

27. Juni.


Heute Morgen war an der Quelle von nichts Anderem die Rede, als von dem nächtlichen Ueberfall der Tscherkessen. Nachdem ich die vorgeschriebene Anzahl Mineralwasser getrunken und ein Dutzend Mal in der langen Lindenallee auf- und abgegangen war, begegnete ich Wera's Gatten, der soeben von Pjätigorsk zurückgekehrt war. Er nahm mich unter den Arm, und wir traten zusammen in die Restauration, um zu frühstücken. Er war in sehr großer Unruhe wegen seiner Frau.

»Welch' einen Schrecken hat sie heut' Nacht haben müssen!« sagte er. »Und da mußte das noch gerade während meiner Abwesenheit geschehen.«

Wir setzten uns an einen Tisch neben einer Thür, die in ein Eckzimmer führte, in welchem sich etwa zehn junge Leute befanden; unter ihnen war auch Gruschnitzki.

Der Zufall gab mir zum zweiten Mal Gelegenheit, ein Gespräch anzuhören, das entscheidend für sein Schicksal werden sollte. Er konnte mich nicht sehen, weshalb ich auch seine Absicht nicht zu errathen vermochte; aber das vergrößerte nur seine Schuld in meinen Augen.

»Aber waren es denn wirklich Tscherkessen?« fragte Einer von ihnen. »Hat Jemand sie gesehen?«

»Ich will Ihnen die ganze Wahrheit erzählen,« erwiderte Gruschnitzki. »Aber, bitte, verrathen Sie mich nicht. Die Sache verhält sich folgendermaßen: Gestern Abend kam Jemand, den ich Ihnen nicht nennen werde, zu mir und[166] erzählte mir, er habe gegen zehn Uhr Jemand sich in das Haus der Fürstin Ligowski schleichen sehen. Ich muß hierbei bemerken, daß die Fürstin sich hier befand, und daß ihre Tochter allein zu Hause war. Ich folgte dem Manne, der mir diese Mittheilung gemacht, und wir begaben uns unter die Fenster der Fürstin, um den glücklichen Verführer abzufassen.«

Ich gestehe, daß ich große Angst hatte, obgleich mein Begleiter sehr angelegentlich mit seinem Frühstück beschäftigt war. Er konnte höchst unangenehme Dinge zu hören bekommen, wenn Gruschnitzki die Wahrheit errathen hatte. Aber durch seine Eifersucht verblendet, war er weit entfernt, das Richtige zu argwöhnen.

»Wir begaben uns also,« fuhr Gruschnitzki fort, »nach dem Ort der That, bewaffnet mit einer blindgeladenen Flinte, – denn sehen Sie, wir wollten ihm nur Angst einjagen. Bis zwei Uhr Morgens mußten wir warten. Endlich – Gott mag wissen, wo er herkam; aber nicht aus dem Fenster, denn das wurde gar nicht geöffnet – wahrscheinlich durch die Glasthür, welche sich hinter der Säule befindet, – endlich, sage ich, sehen wir Jemand vom Balkon heruntersteigen ... Na, was sagen Sie zu dieser jungen Fürstin? Ja, so sind sie, diese Moskauer Damen! Da traue man noch Einer! ... Wir wollten ihn festnehmen, aber er riß sich von uns los, – und fort sprang er, wie ein Hase ins Gebüsch; da gab ich Feuer auf ihn.«

Ein Gemurmel des Zweifels entstand nach dieser Erzählung.

»Sie wollen's nicht glauben?« fuhr er fort. »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß Alles die reinste Wahrheit ist, und zum Beweise werde ich Ihnen den Herrn nennen.«

»Rede, sprich, wer ist's?« ertönte es von allen Seiten.

»Petschorin!« antwortete Gruschnitzki.

In diesem Augenblick blickte er auf – ich stand ihm gegenüber in der Thür. Er wurde feuerroth.[167]

Ich trat auf ihn zu und sagte langsam und bestimmt:

»Ich bedaure sehr, daß ich erst gekommen bin, nachdem Sie bereits Ihr Ehrenwort abgegeben hatten, um die unwürdigste Verleumdung von der Welt zu bekräftigen. Meine Gegenwart würde Sie abgehalten haben, diese letztere Gemeinheit zu begehen.«

Gruschnitzki sprang von seinem Sitze auf und wollte wüthend werden.

»Ich ersuche Sie,« fuhr ich in demselben Tone fort, »augenblicklich Ihre Worte zurückzunehmen; Sie wissen sehr wohl, daß sie aus der Luft gegriffen sind. Ich glaube nicht, daß eine Frau, weil sie für Ihre glänzenden Vorzüge nicht empfänglich ist, eine so abscheuliche Rache verdient hat. Bedenken Sie es wohl! Halten Sie Ihre Behauptung aufrecht, so haben Sie kein Recht mehr auf den Namen Ehrenmann und setzen ihr Leben auf das Spiel.«

Gruschnitzki stand da mit gesenkten Augen und in heftiger Aufregung. Aber der Kampf zwischen seinem Gewissen und seiner Eigenliebe war von kurzer Dauer. Der Dragonerhauptmann, der neben ihm saß, stieß ihn mit dem Ellenbogen an. Er erbebte und gab, ohne die Augen zu erheben, rasch zur Antwort:

»Mein geehrter Herr, wenn ich etwas sage, so denke ich das auch, und ich bin bereit, es zu wiederholen ... Ihre Drohungen fürchte ich nicht, und auf die Folgen bin ich vollkommen gefaßt.«

»Das haben Sie soeben gezeigt,« antwortete ich ihm kalt, und damit nahm ich den Dragonerhauptmann unter den Arm und ging aus dem Zimmer.

»Was wünschen Sie von mir?« fragte der Hauptmann.

»Sie sind Gruschnitzki's Freund und werden wahrscheinlich sein Secundant sein.«

Der Hauptmann verbeugte sich mit einer wichtigen Miene.

»Sie haben richtig gerathen,« antwortete er. »Ja, ich[168] habe sogar die Pflicht, sein Secundant zu sein, weil die Beschimpfung, die Sie ihm angethan, sich auch auf mich bezieht. Ich war es, der ihn in der vergangenen Nacht begleitete,« setzte er hinzu, indem er seine ungefällige Gestalt gerade aufrichtete.

»Ah, also waren Sie es, den ich so derb auf den Kopf schlug!«

Er wurde gelb und grün, und in seinen Zügen war die ganze Bosheit seiner Seele zu lesen.

»Ich werde die Ehre haben, Ihnen heut' meinen Secundanten zu schicken,« setzte ich mit einer sehr höflichen Verbeugung hinzu, indem ich that, als hätte ich seine Wuth gar nicht bemerkt.

Auf dem Perron der Restauration traf ich Wera's Mann. Er schien auf mich gewartet zu haben.

Er ergriff meine Hand mit einer Art von Begeisterung.

»Edler junger Mann,« sagte er mit Thränen in den Augen. »Ich habe Alles gehört. Welche Niederträchtigkeit! Welche Undankbarkeit! ... Da empfange Einer noch Jemand in einem anständigen Hause! Gott sei Dank, daß ich keine Töchter habe! Aber die, für welche Sie Ihr Leben aufs Spiel setzten, wird es Ihnen danken. Seien Sie überzeugt,« fuhr er fort, »daß ich Schweigen bewahren werde, bis Alles zu Ende ist. – Auch ich war jung und Soldat: Ich weiß, es gibt Dinge, in die man sich nicht hineinmischen darf. Leben Sie wohl!«

Der Aermste! Er freut sich, daß er keine Töchter hat! ...

Ich begab mich sofort zu Werner, den ich auch zu Hause fand. Ich erzählte ihm Alles – mein Verhältniß zu Wera und Mary, das Gespräch, welches ich belauscht, und aus welchem ich den Plan dieser Herren erfahren – dahingehend, mich zu mystificiren, indem sie mich mit einer ungeladnen Waffe schießen lassen wollten. Aber jetzt, schloß ich, handelt es sich nicht mehr um einen Scherz; einer solchen Lösung haben sie sich wahrscheinlich nicht versehen.[169]

Der Doctor willigte ein, mein Zeuge zu sein. Ich gab ihm einige Aufklärungen bezüglich des Duells; ich empfahl ihm, dafür zu sorgen, daß Alles mit möglichster Verschwiegenheit vor sich gehe; denn wenn ich auch bereit sei, jeden Augenblick mein Leben aufs Spiel zu setzen, so wolle ich doch keineswegs meine Zukunft in diesem Leben für immer vernichten. Darauf begab ich mich nach Hause. Eine Stunde später kehrte er von seiner Expedition zurück.

»Es hat sich ganz richtig ein Complot gegen Sie gebildet,« sagte er, »ich fand bei Gruschnitzki den Dragonerhauptmann und noch einen andern Herrn, dessen Name mir entfallen ist.« Ich hielt mich einen Augenblick im Vorzimmer auf, um meine Galoschen auszuziehen. Sie waren in einem heftigen Streit.

»Um keinen Preis gehe ich darauf ein!« sagte Gruschnitzki. »Er hat mich öffentlich beleidigt; bisher war es etwas ganz Anderes.«

»Was geht dich die Sache an?« antwortete der Hauptmann. »Ich nehme Alles auf mich. Ich war schon bei fünf Duells Secundant und weiß, wie's gemacht wird. Ich habe mir die ganze Sache zurecht gelegt. Aber ich bitte dich, mische dich nicht hinein. Es kann nicht schaden, wenn er ein wenig erschreckt wird. Aber warum sich der Gefahr aussetzen, wenn es vermieden werden kann.«

»In diesem Augenblick trat ich ein. Sie verstummten sofort. Unsere Verabredungen zogen sich ziemlich in die Länge. Endlich haben wir uns in folgender Weise geeinigt. Fünf Werst von hier ist eine tiefe Schlucht; dorthin werden sie sich morgen früh vier Uhr begeben und wir folgen eine halbe Stunde später. Die Distance ist sechs Schritt – so hat es Gruschnitzki selbst verlangt. Der Gefallene kommt auf Rechnung der Tscherkessen. Und nun hören Sie, was für einen Verdacht ich habe: Sie – das heißt die Secundanten Ihres Gegners – müssen ihren früheren Plan ein wenig geändert haben und wollen nur Gruschnitzki's[170] Pistole laden. Das sieht ein wenig aus wie Mord; aber in Kriegszeiten und vor allem in einem asiatischen Kriege ist die List erlaubt. Indeß scheint mir Gruschnitzki ehrenhafter zu sein als seine Kameraden. Was meinen Sie? Sollen wir ihnen zeigen, daß wir Alles wissen?«

»Nein, Doctor, um keinen Preis! Beruhigen Sie sich nur; sie sollen mich nicht zum Narren haben.«

»Aber was gedenken Sie denn zu thun?«

»Das ist mein Geheimniß.«

»Seien Sie auf Ihrer Hut! Die Sache ist ernst! Bedenken Sie, sechs Schritt!«

»Doctor, ich erwarte Sie morgen früh vier Uhr; die Pferde werden bereit sein. Leben Sie wohl!«

Ich blieb bis zum Abend in mein Zimmer eingeschlossen. Ein Diener kam und brachte mir eine Einladung von der Fürstin. Ich ließ sagen, ich sei krank. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

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Zwei Uhr Nachts ... Es ist mir nicht möglich, zu schlafen, und doch wäre es nöthig, mich ein wenig auszuruhen, damit meine Hand nicht zittert. Uebrigens ist es schwer, auf sechs Schritt seinen Mann zu verfehlen. Ah, Herr Gruschnitzki, Ihre Mystification wird Ihnen nicht gelingen ... Wir werden die Rollen vertauschen: Jetzt werde ich auf Ihrem blassen Gesicht geheimen Schrecken lesen. Warum sind Sie denn auch so versessen auf diese sechs Schritt? Glauben Sie denn, ich würde meine Stirn nur so höflichst Ihrer Kugel präsentiren? Nein, wir werden loosen ... und dann ... dann ... Wie, wenn ihm der Zufall hold wäre? Wenn mein Glücksstern mich endlich verließe? ... Und in der That, er hat so lange blindlings meine Launen begünstigt ...

Wie, sterben! So sterben! Die Welt wird keinen großen Verlust an mir erleiden, und ich selbst bin des Lebens überdrüssig. Ich gleiche einem Menschen, der auf dem Balle[171] gähnt, und der nur darum noch nicht fortgeht, weil sein Wagen noch nicht da ist. Aber mein Wagen steht bereit ... Gute Nacht!

Ich lasse die ganze Vergangenheit an meinem Geiste vorüberziehen, und da frage ich mich unwillkürlich: Warum hast du gelebt? Zu welchem Zweck bist du geboren? ... Und doch war ein Zweck vorhanden, und doch war ich vielleicht zu etwas Hohem und Edlem bestimmt; denn ich fühle in mir eine außerordentliche Kraft ... Aber ich habe diese Bestimmung nicht begriffen, ich habe mich blenden lassen durch schlechte und eitle Leidenschaften; aus ihrem Schmelzofen bin ich hart und kalt wie Eisen hervorgegangen. Aber auf immer habe ich die Flamme edler Bestrebungen, – die schönste Blume des Lebens, – verloren. Und wie oft habe ich seitdem nicht schon die Rolle des Beils in der Hand des Schicksals gespielt! Ein Werkzeug der Züchtigung, bin ich auf die Häupter unschuldiger Opfer gefallen – oft ohne Zorn, immer ohne Mitleid ... Meine Liebe hat Niemandem Glück gebracht, weil ich denen, die ich liebte, nie etwas opferte .... Ich liebte nur für mich selbst, zu meiner persönlichen Genugthuung; ich suchte nur ein seltsames Bedürfniß meines Herzens zu befriedigen; gierig verschlang ich ihre Empfindungen, ihre Zärtlichkeiten, ihre Freuden und Leiden – und niemals konnte ich mich sättigen. So sieht der Unglückliche, der vom Hunger erschöpft einschläft, im Traume die schmackhaftesten Gerichte und die auserlesensten Weine vor sich stehen; er labt sich entzückt an diesen eingebildeten Geschenken seiner Phantasie, und er fühlt sich erquickt. Aber sobald er erwacht, zerfließt das Traumbild in nichts. Sein Hunger hat sich verdoppelt, seine Verzweiflung ist größer denn je!

Vielleicht ist dies mein letzter Tag!.. und kein Wesen wird auf der Erde zurückbleiben, das mich vollkommen verstanden hätte. Die Einen halten mich für schlechter, die Andern für besser als ich in Wirklichkeit bin ... Die[172] Einen werden sagen: Er war ein guter Junge; die Andern: Er war ein nichtswürdiges Subject. Beide sind gleich weit von der Wahrheit entfernt. Das Leben ist es nicht werth, daß man sich seinetwegen so viel Mühe gibt. Und doch bleibt man am Leben – aus Neugier, in Erwartung irgend etwas Neuem ... Das ist lächerlich und traurig zugleich!


Schon sechs Wochen befinde ich mich im Fort N. Maxim Maximitsch ist auf der Jagd ... Ich bin allein; ich sitze am Fenster. Graue Wolken bedecken Berge und Höhen; und die Sonne erscheint durch den Nebel wie ein gelber Fleck. Es ist kalt; der Wind pfeift und schüttelt die Fensterläden ... Welch eine Langeweile! ... Ich werde mein Tagebuch fortsetzen, das durch so außerordentliche Ereignisse unterbrochen wurde.

Ich habe die letzte Seite wieder überlesen: Lächerlich! – Ich glaubte zu sterben; das war unmöglich; ich habe das Maß meiner Leiden noch nicht erschöpft, und jetzt fühle ich, daß ich noch lange zu leben habe.

Meine ganze Vergangenheit schwebt klar und leibhaftig an meinem Geiste vorüber. Nicht einen Zug, nicht eine Schattirung hat die Zeit verwischt!

Ich erinnere mich, daß ich in der Nacht, die dem Duell vorausging, nicht eine Minute schlafen konnte. Auch zu schreiben vermochte ich nicht lange; eine geheime Unruhe hatte sich meines ganzen Wesens bemächtigt.

Etwa eine Stunde schritt ich im Zimmer auf und ab; dann setzte ich mich wieder und schlug einen Roman von Walter Scott auf, der auf meinem Tische lag; es waren die Puritaner von Schottland. Anfangs machte mir das Lesen große Mühe; dann vergaß ich mich, hingerissen von dem Zauber dieser Erzählung.

Endlich begann der Tag anzubrechen. Meine Nerven hatten sich beruhigt. Ich blickte in den Spiegel; eine matte Blässe bedeckte mein Gesicht, das die Spuren einer schlaflosen[173] Nacht trug; aber meine Augen, obgleich etwas trübe, hatten noch einen Ausdruck unbeugsamen Stolzes. Ich war mit mir zufrieden.

Als ich die Pferde hatte satteln lassen, kleidete ich mich an und eilte nach der Quelle. Als ich dort in das frische Wasser tauchte, fühlte ich, wie meine physischen und moralischen Kräfte zurückkehrten. Frisch und entschlossen, als ginge es zum Balle, verließ ich die Badewanne. Und da sage einer noch, der Geist sei unabhängig vom Körper! ...

Bei meiner Rückkehr fand ich den Doctor in meiner Wohnung. Er trug eine graue Reithose, eine Art Seidenjaquet und eine Tscherkessenmütze. Ich mußte laut auflachen, als ich diese kleine Gestalt mit einer so ungeheuren kriegerischen Mütze bedeckt sah. Sein Gesicht hat wirklich gar nichts Martialisches, und bei dieser Ausstaffirung erschien es noch länger als gewöhnlich.

»Aber warum, Doctor, diese trübselige Miene?« sagte ich zu ihm. »Haben Sie nicht hundertmal Menschen mit der größten Gleichgiltigkeit in die andere Welt befördert? Bilden Sie sich ein, ich litte an einem Gallenfieber; ich kann wieder gesund werden; ich kann auch das Zeitliche segnen; das Eine wie das Andere liegt in der Natur der Dinge. Versuchen Sie, mich als einen Patienten zu betrachten, dessen eigentliche Krankheit Sie noch nicht kennen, – und dann wird im höchsten Grade Ihre Neugier erregt werden; Sie haben jetzt Gelegenheit, an mir einige sehr wichtige physiologische Beobachtungen zu machen ... Oder ist die Erwartung eines gewaltsamen Todes nicht eine wirkliche Krankheit?«

Dieser Gedanke frappirte den Doctor, und er wurde wieder heiter.

Wir stiegen zu Pferde. Werner klammerte sich mit beiden Händen an den Zügel, und wir brachen auf.

Im Augenblick hatten wir das Fort und das Dorf hinter uns und eilten dem Thalgrund zu, durch welchen[174] sich ein Weg zieht, der zum Theil mit hohem Grase bedeckt ist und jeden Augenblick von rauschenden Waldbächen durchschnitten wird, durch welche wir hindurchwaten mußten – zur großen Verzweiflung des Doctors, dessen Pferd hartnäckig mitten im Wasser stehen bleiben wollte.

Ich erinnere mich nicht, jemals einen frischeren, schöneren Morgen erlebt zu haben! Die Sonne begann hinter den grünen Wipfeln der Bäume hervorzukommen, und die schmeichelnde Wärme ihrer ersten Strahlen, welche die Frische der kaum verscheuchten nächtlichen Schatten bekämpften, brachte mich in eine süß-melancholische Stimmung. In die Thalschlucht war das Morgenlicht des jungen Tages noch nicht eingedrungen; es vergoldete erst die Spitzen der Felsen, die zu beiden Seiten über unsern Häuptern hingen. Die langen Zweige der Gebüsche, welche die Vertiefungen dieser Felsen bedeckten, bewegten sich bei dem geringsten Windhauche und überschütteten uns mit einem silbernen Regen. In diesem Augenblicke fühlte ich lebhafter als irgend jemals, daß ich die Natur liebte. Mit welchem Vergnügen betrachtete ich die Thautropfen, welche an den breiten Rebenblättern hingen und Millionen regenbogenfarbige Strahlen zurückwarfen! Mit welchem Interesse suchte mein Blick in das nebelbedeckte Thal einzudringen! Da wird der Weg immer schmaler; die Felsen werden immer finsterer und furchtbarer, bis sie endlich in einander überzugehen scheinen, um eine undurchdringliche Mauer zu bilden. Schweigend ritten wir unseres Weges.

»Haben Sie Ihr Testament gemacht?« fragte mich Werner plötzlich.

»Nein.«

»Und wenn Sie fallen?«

»Die Erben werden sich schon von selbst einfinden.«

»Haben Sie denn keinen Freund, an den Sie ein Abschiedswort richten möchten?«

Ich schüttelte den Kopf.[175]

»Gibt es keine Frau auf Erden, der Sie irgend ein Andenken zurücklassen möchten?«

»Wollen Sie, Doctor, daß ich Ihnen das Innerste meiner Seele erschließe? ... Sehen Sie, ich bin über das Alter hinaus, wo man sterbend den Namen seiner Geliebten ausspricht, und wo man einem Freunde eine pomadisirte oder auch nicht pomadisirte Haarlocke vermacht. Angesichts eines nahen und möglichen Todes denke ich nur an mich selbst. Wie manche thun auch das nicht! – Und an wen sollte ich denken? An Freunde, die mich morgen vergessen, oder die, was noch schlimmer ist, Gott weiß welche Albernheiten auf meine Rechnung setzen werden; an Frauen, die in den Armen eines Andern sich über mich lustig machen werden, um ihnen keinen Grund zur Eifersucht zu geben ... Nun, fort mit ihnen! Nein, aus dem Sturm des Lebens rette ich nur einige Ideen – aber kein einziges Gefühl. Schon längst ist mein Herz abgestorben; nur der Kopf lebt noch. Ich prüfe, ich untersuche alle meine Leidenschaften und Handlungen mit großer Neugier, aber ohne Interesse. Zwei Wesen leben in meiner Brust; das eine lebt im vollen Sinne des Wortes; das andere beobachtet und richtet das erste; dieses wird Ihnen und dieser Welt vielleicht in einer Stunde auf immer Lebewohl sagen ... und das zweite ... das zweite ... Sehen Sie, Doctor ... erblicken Sie da unten auf dem Felsen, da rechts, nicht drei Gestalten? Das scheinen unsere Gegner zu sein ...«

Wir spornten unsere Pferde zu größerer Eile an.

Am Fuße des Felsens, mitten im Gesträuch, standen drei Pferde angebunden. Wir banden die unsern an derselben Stelle fest und gelangten auf einem schmalen Pfade nach einer Plattform, wo uns Gruschnitzki mit seinem Secundanten, dem Dragonerhauptmann und einem gewissen Iwan Ignajewitsch erwartete; den Namen des Letzeren hatte ich nie gehört.[176]

»Wir erwarten Sie schon lange,« sagte der Dragonerhauptmann mit ironischem Lächeln.

Ich zog meine Uhr aus der Tasche und zeigte sie ihm.

Er entschuldigte sich, indem er behauptete, die seine ginge vor.

Einige Minuten verstrichen unter peinlichem Schweigen. Endlich brach es der Doctor, indem er sich an Gruschnitzki wandte.

»Mir scheint, meine Herren,« sagte er, »daß, nachdem Sie Beide sich bereit gezeigt, sich zu schlagen und den Forderungen der Ehre zu genügen, Sie sich erklären und diesen Streit in freundschaftlicher Weise beenden könnten.«

»Ich bin dazu bereit,« sagte ich.

Der Hauptmann gab Gruschnitzki ein Zeichen, und dieser, in der Meinung, ich habe Angst, nahm eine stolze Miene an, obgleich bisher eine außerordentliche Blässe sein Gesicht bedeckt hatte. Zum ersten Mal seit unserer Ankunft richtete er seine Augen auf mich; aber in seinem Blicke lag etwas Unruhiges, das seine innere Aufregung verrieth.

»Sagen Sie uns Ihre Bedingungen,« sprach er; »und seien Sie überzeugt, daß Alles, was ich thun kann ...«

»Meine Bedingungen sind diese: Sie nehmen heut' öffentlich Ihre verleumderischen Worte zurück und bitten mich um Verzeihung ...«

»Mein geehrter Herr, ich bin erstaunt, daß Sie mir solche Dinge vorzuschlagen wagen.«

»Und was könnte ich Ihnen denn sonst vorschlagen?«

»Gut, dann schießen wir uns.«

Ich zog die Schultern in die Höhe:

»Meinetwegen; nur bedenken Sie, daß Einer von uns unfehlbar fallen muß.«

»Ich wünsche, daß Sie es sind.«

»Und ich bin vom Gegentheil überzeugt.«

Er wurde unruhig, erröthete, und begann dann gezwungen zu lachen.[177]

Der Hauptmann nahm ihn unter den Arm und führte ihn bei Seite. Lange flüsterten sie miteinander.

Ich war in ziemlich friedlicher Gemüthsstimmung hergekommen, aber ein solches Benehmen fing an mich zu ärgern.

Der Doctor trat auf mich zu.

»Hören Sie,« sagte er mit sichtlicher Unruhe: »Sie haben wahrscheinlich vergessen, was sie unter sich verabredet haben ... Ich kann keine Pistole laden, aber in diesem Fall ... Welch ein seltsamer Mensch Sie sind! Sagen Sie ihnen, daß Sie von ihrem Plane unterrichtet sind, und sie werden's nicht wagen ... Warum so hartnäckig! Sie werden Sie todtschlagen wie einen Spatz ...«

»Seien Sie unbesorgt, Doctor; warten Sie's ab. Ich werde Alles so einrichten, daß ihnen kein Vortheil bleibt. Kehren Sie sich nicht an ihr Geflüster.«

»Meine Herren,« sagte ich laut zu ihnen, »das fängt an mich zu langweilen. Schlägt man sich, so schlägt man sich; Sie haben gestern Zeit genug gehabt, sich zu verabreden.«

»Wir sind bereit,« antwortete der Hauptmann. »Nehmen Sie Ihre Plätze ein, meine Herren! Doctor, wollen Sie gefälligst sechs Schritt abmessen?«

»Stellen Sie sich auf,« wiederholte Iwan Ignatjewitsch mit kreischender Stimme.

»Erlauben Sie,« sagte ich. »Noch eine Bedingung. Da wir uns auf Leben und Tod schlagen, müssen wir alle möglichen Vorsichtsmaßregeln treffen, damit die Sache geheim bleibe und die Secundanten später nicht dafür verantwortlich gemacht werden. Sind Sie nicht auch dieser Ansicht?«

»Vollkommen.«

»Ich habe daher folgenden Plan. Sehen Sie oben auf der Spitze dieses überhängenden Felsens, da rechts, die schmale Plattform? Er hat eine Höhe von mindestens[178] zweihundert Fuß, und unten sind spitze Steine. Wir stellen uns Beide an dem Rande dieses Felsens auf; auf diese Weise wird die geringste Wunde tödtliche Folgen haben. Ich glaube, dieser Vorschlag wird mit Ihren Absichten übereinstimmen, da Sie ja selbst sechs Fuß Distance wählten. Wer von uns beiden verwundet wird, fällt unfehlbar in den Abgrund hinunter und wird an den Felsenzacken zerschmettert werden. Der Doctor zieht ihm die Kugel heraus, und so wird man seinen Tod einem unglücklichen Falle zuschreiben. Wir werden darum loosen, wer den ersten Schuß hat. Ich erkläre Ihnen, daß ich mich nur unter dieser Bedingung schlage.«

»Meinetwegen,« sagte der Hauptmann, und sah Gruschnitzki, der durch ein Nicken seine Zustimmung zu erkennen gab, bedeutsam an.

Mein Gegner wechselte jeden Augenblick die Farbe. Ich hatte ihn in eine sehr schwierige Lage gebracht. Wenn er sich mit mir nach den gewöhnlichen Duellregeln schlug, konnte er mir nach den Beinen zielen, mich leicht verwunden, und auf diese Weise seinen Groll befriedigen, ohne zu sehr sein Gewissen zu beladen. Aber jetzt mußte er entweder in die Luft schießen oder einen Mord begehen; oder auch endlich dem Complot mit dem Hauptmann entsagen, und sich derselben Gefahr aussetzen wie mich. In diesem Augenblicke hätte ich nicht an seiner Stelle sein mögen. Er führte den Hauptmann bei Seite und sagte ihm mit großer Heftigkeit einige Worte; ich sah, wie seine blau gewordenen Lippen zitterten; aber der Hauptmann wandte sich mit verächtlichem Lächeln von ihm ab.

»Du bist ein Narr,« sagte er ziemlich laut zu Gruschnitzki, »und du begreifst nichts! ... Wohlan, meine Herren, begeben wir uns an Ort und Stelle.«

Ein schmaler Pfad führte durch zerklüftetes Gestein nach der Felsenplatte. Einzelne Felsstücke bildeten die unsicheren Stufen dieser natürlichen Treppe. Wir mußten uns[179] beim Hinaufklettern an dem Gesträuch festhalten. Gruschnitzki ging voraus, dann kamen seine Zeugen; hinter diesen der Doctor und ich.

»Sie setzen mich in Erstaunen,« sprach der Doctor und drückte mir fest die Hand. »Lassen Sie mich Ihren Puls fühlen! ... O, o, ein wenig fieberhaft ... aber auf dem Gesicht ist nichts zu bemerken ... nur Ihre Augen glänzen heller als gewöhnlich.«

Plötzlich rollten kleine Steine unter unsere Füße.

Was war das? Gruschnitzki hatte gestrauchelt; der Zweig, an dem er sich fest gehalten, war gebrochen, und wenn seine Secundanten ihn nicht gehalten, wäre er auf dem Rücken hinuntergerutscht.

»Sehen Sie sich vor,« rief ich ihm zu. »Fallen Sie nicht zu früh; das ist ein schlimmes Vorzeichen. Denken Sie an Julius Cäsar!«

Da waren wir endlich auf der Felsenplatte angekommen. Sie war mit einem feinen Sande bedeckt, als hätte die Natur alle Anordnungen zu einem Duell getroffen. Rings um uns her drängten sich die Gipfel der Berge, welche sich in dem goldenen Morgennebel verloren, wie eine unzählige Heerde. Im Süden erhob der Elbrus seine weißen Häupter und schloß die Kette eisbedeckter Berggipfel, zwischen denen flockige, aus dem Osten kommende Wolken hin- und herwogten.

Ich trat an den Rand der Felsenplatte und blickte in die Tiefe hinunter: Fast hätte mich der Schwindel erfaßt. Dort unten im Abgrunde schien es finster und kalt wie im Grabe. Das spitzige Gestein, welches Zeit und Stürme dort aufgehäuft, schien seine Beute zu erwarten.

Die Felsenplatte, auf welcher wir uns schlagen wollten, bildete beinah ein regelmäßiges Dreieck. An dem äußern Winkel maßen wir sechs Schritte ab und wir kamen überein, daß derjenige, der sich zuerst dem Feuer seines Gegners aussetzen müsse, sich, den Rücken dem Abgrunde zugewendet,[180] in diesen Winkel stelle. Wenn er nicht getödtet werde, solle er mit seinem Gegner den Platz wechseln.

Ich hatte mir vorgenommen, Gruschnitzki alle Vortheile zu lassen. Ich wollte ihn auf die Probe stellen. Vielleicht befand sich in seinem Herzen noch ein edler Funke – und dann würde sich Alles glücklich gelöst haben. Aber seine Eigenliebe und seine Charakterschwäche trugen den Sieg davon ... Ich wollte mir das volle Recht erwerben, ihn nicht zu schonen, wenn der Zufall mich begünstigen sollte. Wer hätte nicht schon in solcher Weise mit seinem Gewissen verhandelt?

»Werfen Sie das Loos, Doctor,« sagte der Hauptmann.

Der Doctor nahm aus seiner Tasche eine Silbermünze und warf sie empor.

»Rückseite!« schrie Gruschnitzki rasch, wie Jemand, der durch einen heftigen Stoß plötzlich wieder zum Bewußtsein gebracht wird.

»Bild!« sagte ich.

Das Geldstück rollte umher und fiel dann tönend hin. Wir Alle eilten darauf zu.

»Das Glück bevorzugt Sie,« sagte ich zu Gruschnitzki. »Sie schießen zuerst! Aber bedenken Sie wohl: Wenn Sie mich nicht tödten, ich werde Sie nicht fehlen – darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort.«

Er erröthete. Er schämte sich, einen wehrlosen Menschen zu ermorden. Ich sah ihn fest an. Einen Augenblick schien es mir, als wollte er sich mir zu Füßen werfen und mich um Vergebung bitten. Aber wie sollte er einen so feigen Plan eingestehen? ... Es blieb ihm nur noch ein Mittel übrig – in die Luft zu schießen! Ich war überzeugt, daß er wirklich in die Luft schießen wollte! Nur Eines konnte ihn davon abhalten: der Gedanke, daß ich eine Erneuerung des Kampfes fordern würde.

»Es ist Zeit,« murmelte mir der Doctor zu, indem er mich am Arme zog. »Wenn Sie jetzt nicht sagen, daß[181] wir Ihren Plan kennen, ist Alles verloren. Sehen Sie, da wird schon geladen ... Wenn Sie nichts sagen, so werde ich ...«

»Um keinen Preis, Doctor!« sagte ich, ihn am Arm zurückhaltend. »Sie würden Alles verderben, und Sie haben mir versprochen, sich nicht einzumischen ... Wer weiß ... vielleicht will ich mich tödten lassen.«

Er sah mich erstaunt an.

»Ah, das ist etwas Anderes! ... Nur machen Sie mir in jener Welt keine Vorwürfe ...«

Der Hauptmann hatte inzwischen seine Pistolen geladen. Die eine gab er Gruschnitzki, indem er ihm lächelnd etwas zuflüsterte; die andere reichte er mir. Ich stellte mich am Rande der Felsenplatte auf, stützte mich kräftig mit dem einen Knie gegen einen Stein und neigte den Körper etwas vor, um, wenn ich nur leicht verwundet werden sollte, nicht hinten überzufallen.

Gruschnitzki stellte sich mir gegenüber auf und erhob auf das gegebene Zeichen seine Pistole. Seine Knie bebten. Er zielte mir gerade nach der Stirn ... Eine unaussprechliche Wuth kochte in meiner Brust. Plötzlich senkte er seine Waffe. Er war weiß wie Schnee und wandte sich seinem Secundanten zu.

»Ich kann nicht,« sagte er mit dumpfer Stimme.

»Memme!« antwortete der Hauptmann.

Der Schuß fiel. Die Kugel streifte mir das Knie. Ich that unwillkürlich einige Schritt nach vorn, um mich so schnell wie möglich vom Rande des Abgrundes zu entfernen.

»Schade, Freund Gruschnitzki, daß du vorbeigeschossen!« sagte der Hauptmann. »Jetzt ist an dir die Reihe, dich dort aufzustellen! Umarme mich erst, denn wir werden uns nicht wiedersehen!«

Sie umarmten sich; der Hauptmann konnte sich kaum enthalten in Lachen auszubrechen.[182]

»Fürchte dich nicht,« setzte er, Gruschnitzki mit einem schlauen Blicke ansehend, hinzu. »Es ist Alles dummes Zeug in dieser Welt ... Die Natur ist eine Närrin, das Schicksal eine Truthenne, und das Leben eine Kopeke!«1

Nach dieser philosophischen Sentenz, die er mit affectirter Ernsthaftigkeit gesprochen, stellte er sich wieder auf seinen Platz. Iwan Ignatjewitsch umarmte Gruschnitzki ebenfalls, und zwar mit Thränen in den Augen, – und da stand er mir nun allein gegenüber.

Bis zu diesem Moment suche ich mir noch von den Gefühlen Rechenschaft zu geben, welche in diesem Augenblick meine Brust bewegten: Es war das Gefühl verletzter Eigenliebe, Verachtung und Zorn, welche in mir entstanden bei dem Gedanken, daß dieser Mensch, der mich jetzt so zuversichtlich, so unverschämt ruhig ansah, mich zwei Minuten vorher wie einen Hund hatte niederschießen wollen, ohne sich selbst der geringsten Gefahr auszusetzen, – denn hätte die Kugel mich etwas stärker am Fuße verwundet, so wäre ich unfehlbar in den Abgrund hinuntergestürzt.

Einige Augenblicke sah ich ihm fest ins Gesicht, um in seinen Zügen irgend eine Spur von Reue zu entdecken. Aber es schien mir, als ob er ein Lächeln unterdrückte.

»Ich rathe Ihnen, vor Ihrem Tode zu Gott zu beten,« sagte ich dann zu ihm.

»Sie brauchen sich wegen meiner Seele nicht mehr zu beunruhigen, als wegen Ihrer eigenen. Ich bitte Sie nur um eins: schießen Sie recht bald.«

»Und Sie nehmen Ihre Verleumdung nicht zurück? Sie bitten mich nicht um Verzeihung? ... Bedenken Sie's wohl ... Hat Ihr Gewissen Ihnen nichts vorzuwerfen?«

»Herr Petschorin,« rief der Dragonerhauptmann, »erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß Sie nicht hier[183] sind, um eine Predigt zu halten ... Machen wir der Sache ein Ende! Es könnte Jemand durch die Schlucht kommen und uns sehen.«

»Schön. Doctor, kommen Sie mal her.«

Der Doctor näherte sich mir. Der arme Doctor! Er war viel blasser als Gruschnitzki vor zehn Minuten gewesen.

Die folgenden Worte sprach ich mit lauter, ernster, feierlicher Stimme, wie wenn ich ein Todesurtheil verkündet hätte. Ich sagte:

»Diese Herren haben wahrscheinlich in der Eile vergessen, eine Kugel in meine Pistole zu thun. Ich bitte Sie, noch einmal zu laden – und das ordentlich!«

»Unmöglich,« rief der Hauptmann, »unmöglich! Ich habe beide Pistolen geladen. Vielleicht ist die Kugel aus der Ihrigen herausgefallen ... das ist nicht meine Schuld! ... Aber Sie haben nicht das Recht, noch einmal zu laden ... nicht das geringste Recht ... Das ist vollständig gegen alle Duellregeln; ich gebe es nicht zu ...«

»Gut,« sagte ich zu dem Hauptmann. »Wenn es sich so verhält, werden wir uns unter denselben Bedingungen duelliren.«

Er wurde verblüfft. Gruschnitzki stand da vor mir mit finsterem Gesicht und gesenktem Kopfe.

»Laß sie nur!« sagte er endlich zu dem Hauptmann, der dem Doctor meine Pistole aus den Händen reißen wollte. »Du weißt ja selbst, daß sie Recht haben.«

Umsonst gab ihm der Hauptmann alle möglichen Zeichen; Gruschnitzki wollte sie gar nicht bemerken. Inzwischen hatte der Doctor meine Pistole geladen und reichte sie mir.

Als der Hauptmann das sah, spuckte er aus und stampfte mit dem Fuße.

»Ein Narr bist du!« sagte er; »ein vollendeter Narr! ... Da du dich mir anvertraut hattest, mußtest du in allem auf mich hören ... Nun ist's deine Sache! Laß dich nur wie eine Fliege umbringen ...«[184]

Mit diesen Worten wandte er sich um und trat zurück, murmelte jedoch noch zwischen den Zähnen:

»Und doch ist es gegen alle Duellregeln.«

»Gruschnitzki,« sagte ich; »noch ist es Zeit. Nimm deine Verleumdung zurück, und ich verzeihe dir Alles. Es ist dir nicht geglückt, mich zum Besten zu haben, damit ist meine Eigenliebe befriedigt. Bedenke, wir waren einst Freunde ...«

Sein Gesicht glühte, seine Augen funkelten.

»Schießen Sie!« antwortete er. »Mich verachte und Sie hasse ich. Wenn Sie mich nicht umbringen, so drehe ich Ihnen bei der ersten Gelegenheit den Hals um. Für uns beide ist kein Platz mehr auf der Welt ...«

Ich schoß ...

Als der Dampf sich verzogen hatte, war der Platz, wo Gruschnitzki gestanden, leer, nur eine leichte Staubwolke schwebte noch an dem Rande des Abgrundes.

Wir stießen Alle einen Schrei aus.

»Finita la commedia,« sagte ich zu dem Doctor.

Er antwortete mir nicht und wandte sich schaudernd von mir ab.

Ich zuckte die Achseln und verabschiedete mich mit einer Verbeugung von den Secundanten meines Gegners.

Als ich den schmalen Pfad wieder hinunterstieg, gewahrte ich zwischen den Felsenspalten Gruschnitzki's blutige Leiche. Unwillkürlich schloß ich die Augen ...

Ich machte mein Pferd los und ritt im Schritt nach Hause zurück. Mir war, als läge ein Stein auf meinem Herzen. Die Sonne erschien mir trübe, und ihre Strahlen erwärmten mich nicht.

Um nicht durch das Dorf reiten zu müssen, schlug ich die Richtung rechts nach der Schlucht ein. Es war mir unmöglich, ein menschliches Wesen zu sehen; ich wollte und mußte allein sein ...

Dem Pferde die Zügel lassend, ritt ich lange gesenkten[185] Kopfes umher, bis ich mich endlich an einer Stelle befand, die mir völlig unbekannt war. Da wandte ich das Pferd um und suchte wieder die Straße zu gewinnen. Die Sonne war schon untergegangen, als ich, ebenso erschöpft wie mein Pferd, Kislowodsk erreichte.

Mein Diener sagte mir, daß Werner dagewesen und zwei Briefe zurückgelassen habe.

Der eine war von ihm – der andere von Wera.

Ich öffnete den ersteren; er hatte folgenden Inhalt:

»Alles ist in der besten Weise geordnet. Die Leiche, welche vollständig entstellt war, ist gebracht worden; und ich habe die Kugel aus der Brust gezogen. Alle sind überzeugt, sein Tod sei einem unglücklichen Zufall zuzuschreiben. Nur der Commandant, der vielleicht von Ihrem Streit gehört hat, schüttelte den Kopf, sagte jedoch nichts. Beweise gegen Sie liegen nicht vor, und Sie mögen ruhig schlafen – wenn Sie's können ... Leben Sie wohl!«

Lange Zeit konnte ich mich nicht dazu entschließen, den zweiten Brief zu öffnen ... Was mochte sie mir zu schreiben haben? ... Eine beklemmende Ahnung bedrückte mir das Herz.

Hier ist er, dieser Brief – jedes Wort wird mir unauslöschlich in der Erinnerung bleiben.

»Ich schreibe dir in der festen Ueberzeugung, daß wir uns niemals wiedersehen werden. Als wir uns vor einigen Jahren trennten, glaubte ich dasselbe. Aber es hat dem Himmel gefallen, mich noch einmal zu prüfen, und ich habe diese neue Prüfung nicht bestanden; mein schwaches Herz gab abermals dieser bekannten Stimme nach ... Du wirst mich darum nicht verachten – nicht wahr?

Dieser Brief ist zugleich ein Abschied und ein Bekenntniß. Ich muß dir Alles sagen, was sich in meinem Herzen ereignet hat, seitdem es dich liebt ...

Ich will dich nicht anklagen – du hast gegen mich gehandelt, wie jeder andere Mann an deiner Stelle gegen[186] mich gehandelt haben würde: du liebtest mich wie dein Eigenthum, als eine Quelle von Vergnügungen, Unruhen und Sorgen, die sich einander ablösten, und ohne welche das Leben zu langweilig und einförmig sein würde. Ich begriff das gleich anfangs ... Aber du warst unglücklich, und ich opferte mich dir in der Hoffnung, es werde eine Zeit kommen, wo du mein Opfer anerkennen, wo du meine unendliche Zärtlichkeit, die ich dir ohne irgend eine Bedingung gewährte, begreifen würdest.

Jahre sind seitdem verflossen; ich bin in alle Geheimnisse deiner Seele eingedrungen, – und da habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß ich mich einer trügerischen Hoffnung hingegeben hatte. O, das war bitter für mich! Aber meine Liebe war in das Innerste meiner Seele gedrungen; sie konnte leiden aber nicht erlöschen.

Wir scheiden für immer. Aber sei überzeugt, daß ich niemals einen Andern lieben werde. Mein Herz hat für dich alle seine Schätze, alle seine Thränen und Hoffnungen erschöpft. Die Frau, welche dich einmal geliebt hat, kann nicht ohne eine gewisse Verachtung die andern Männer betrachten; nicht als ob du besser wärst als sie, – o nein! – aber es liegt in deinem Wesen etwas, das nur dir eigenthümlich ist – das dir ganz allein gehört: etwas Stolzes und Geheimnißvolles. Was du auch sagst, in deiner Stimme liegt immer eine unwiderstehliche Macht; Niemand versteht es so wie du, sich immer Liebe zu erzwingen; Niemand vermag in solchem Grade das Böse verführerisch zu machen; keines Menschen Blick verheißt eine solche Seligkeit; Niemand kann besser seine Vorzüge geltend machen, Niemand endlich versteht so wahrhaft unglücklich zu sein wie du, weil Niemand sich eine solche Mühe gibt, sich vom Gegentheil zu überzeugen.

Ich muß dir jetzt den Grund meiner schnellen Abreise angeben. Er wird dir wenig wichtig erscheinen, weil es sich nur um mich handelt.[187]

Heute morgen kam mein Mann zu mir und erzählte mir von deinem Streite mit Gruschnitzki. Offenbar hat sich bei seinen Worten meine Aufregung auf meinem Gesicht verrathen, denn er blickte mir lange und durchdringend in die Augen. Ich wäre beinah in Ohnmacht gefallen bei dem Gedanken, daß du dich heut' duellirst und daß ich die Veranlassung bin; ich glaubte, ich würde wahnsinnig ... Aber jetzt, nachdem ich ruhiger habe nachdenken können, bin ich überzeugt, daß dein Leben keine Gefahr läuft; denn es ist unmöglich, daß du ohne mich stirbst – unmöglich!

Lange schritt mein Mann im Zimmer auf und nieder. Ich weiß nicht, was er zu mir sagte; ich erinnere mich nicht, was ich ihm antwortete ... wahrscheinlich habe ich ihm gesagt, daß ich dich liebe ... Ich erinnere mich nur, daß er am Ende unseres Gespräches mir ein schreckliches Wort zuschleuderte und fortging. Ich hörte, wie er anzuspannen befahl ... Da sitze ich nun schon drei Stunden am Fenster und erwarte deine Rückkehr ... Aber du lebst, du kannst nicht sterben! ... Der Wagen wird sogleich zur Abfahrt bereit sein ... Leb' wohl, leb' wohl ... Ich bin verloren – aber was liegt daran! Wenn ich nur überzeugt sein könnte, daß du mich nie vergessen – ich sage nicht lieben wirst – nein! – mich nur nicht vergessen ... Leb' wohl; man kommt ... ich muß diesen Brief verstecken ...«

»Nicht wahr, du liebst Mary nicht, du wirst sie nicht heirathen? ... Ja, dieses Opfer mußt du mir bringen – mir, die ich um deinetwillen Alles hier auf Erden geopfert habe ...«

Wie ein Wahnsinniger stürzte ich vor das Haus, schwang mich auf mein Tscherkessenpferd, das der Diener noch auf dem Hofe umherführte und jagte wie rasend auf dem Wege nach Pjätigorsk dahin. Ohne Erbarmen drückte ich die Flanken meines erschöpften Pferdes, das mich schnaufend und schaumbedeckt auf dem felsigen Wege dahintrug.[188]

Die Sonne hatte sich hinter schwarzen Wolken versteckt, die sich über den Kämmen der westlichen Gebirge aufgehäuft hatten; in der Thalschlucht war es dunkel und feucht. Der Podkumok ließ in seinem Lauf über die Felsen ein dumpfes, eintöniges Gemurmel vernehmen. Fast vor Ungeduld erstickend, jagte ich dahin. Der Gedanke, sie in Pjätigorsk nicht mehr zu finden, wirkte auf mein Herz wie ein Hammerschlag. Sie nur eine Minute, nur eine einzige Minute wiederzusehn, ihr Lebewohl zu sagen, ihr die Hand zu drücken ... Ich betete, fluchte, weinte, lachte ... Nein, nichts vermag meine Verzweiflung auszudrücken! ... Bei dem Gedanken an die Möglichkeit, sie auf ewig zu verlieren, war mir Wera theurer geworden als Alles auf der Welt, – theurer als mein Leben, meine Ehre, mein Glück! Gott allein weiß, welche absonderlichen, welche wahnsinnigen Gedanken in meinem Hirn entstanden ... und noch immer jagte ich dahin, noch immer spornte ich unbarmherzig mein Pferd an ... Endlich bemerkte ich, daß es nur noch schwer athmete, und schon war es zweimal auf ebener Stelle gestrauchelt ... Ich befand mich fünf Werst von Jessentukoff, einer Kosakenstation, wo ich mir ein anderes Pferd nehmen konnte.

Ich bin gerettet, wenn mein Pferd nur noch zehn Minuten Kraft behält! Aber plötzlich, als es sich am Ende eines Waldes aus einer Vertiefung herausarbeiten will, sinkt es zu Boden. Ich springe herunter, will es wieder aufheben, zerre am Zügel – vergebens! Kaum, daß ein schwaches Gestöhn durch das zusammengepreßte Gebiß hervordringt; nach einigen Minuten ist es verendet.

Ich befinde mich, meiner letzten Hoffnung beraubt, allein in der Steppe. Ich versuche, meinen Weg zu Fuß fortzusetzen – meine Beine schwanken. Erschöpft durch die Aufregungen des Tages und der schlaflosen Nacht sinke ich in das feuchte Gras und weine wie ein Kind ...

Lange lag ich da unbeweglich, schluchzte und weinte die[189] bittersten Thränen; ich versuchte nicht, sie zurückzuhalten. Mir war, als wollte meine Brust zerspringen. Meine ganze Festigkeit, meine ganze Kaltblütigkeit war wie Rauch verschwunden. Mein Herz war kraftlos, mein Geist gelähmt, und wenn mich in diesem Augenblick Jemand gesehen hätte, er würde voll Verachtung die Blicke abgewandt haben.

Als der Nachtthau und die Bergluft meinen glühenden Kopf etwas gekühlt hatten, und ich meine Gedanken wieder sammeln konnte, da begriff ich, daß es Wahnsinn, unnützer Wahnsinn sei, das entfliehende Glück wieder erhaschen zu wollen. Was wollte ich denn noch? – Sie wiedersehen! – Warum? Ist nicht Alles zwischen uns aus? Ein bitterer Abschiedskuß wird meine Erinnerungen nicht bereichern, – aber unsere Trennung würde er nur noch schmerzlicher machen.

Das eine jedoch ist noch ein Trost für mich: daß ich noch weinen kann. Aber vielleicht liegt der Grund dieser Thränen in der Erschütterung meiner Nerven, in der schlaflosen Nacht, in den zwei Minuten, während welcher ich dem Lauf einer Pistole gegenüberstand, und in meinem nüchternen Magen.

Alles ist also gut gegangen. Diese neue Erregung bewirkte bei mir, um mich eines militärischen Ausdrucks zu bedienen, eine glückliche Diversion. Thränen erleichtern; und wenn ich nicht einen längeren Ritt gemacht und nicht genöthigt worden wäre, fünfzehn Werst zu Fuße zurückzulegen, wahrscheinlich hätte sich dann auch in dieser Nacht der Schlaf nicht eingefunden.

Als ich zu Kislowodsk ankam, war es fünf Uhr Morgens; ich warf mich auf mein Bett und schlief wie Napoleon nach der Schlacht bei Waterloo.

Als ich erwachte, war es bereits dunkel. Ich setzte mich an das Fenster, hüllte mich in meinen Mantel und die Waldluft erfrischte meinen vom Schlaf und der Ermüdung[190] noch etwas schweren Kopf. In der Ferne und hinter dem Flusse schimmerten durch die Zweige der dichten Linden, die ihn mit ihrem Schatten bedeckten, die Lichter im Fort und im Dorfe. In dem Hofe meines Hauses war Alles still; in der Wohnung der Fürstin schimmerte noch kein einziges Licht.

Da trat der Doctor ein. Er zeigte ein finsteres Gesicht. Ganz gegen seine Gewohnheit reichte er mir nicht die Hand.

»Woher kommen Sie, Doctor?«

»Von der Fürstin Ligowski; ihre Tochter ist krank – die Nerven ... Aber darum komme ich nicht zu Ihnen. Hören Sie: die Behörden schöpfen Verdacht, und obgleich kein einziger positiver Beweis gegen Sie vorliegt, möchte ich Ihnen doch rathen, auf Ihrer Hut zu sein. Die Fürstin sagte mir heut', sie wisse, daß Sie sich wegen Ihrer Tochter duellirt hätten. Jener kleine Greis hat ihr Alles erzählt ... Wie soll man's abläugnen? Er ist ja in der Restauration Zeuge Ihres Streites mit Gruschnitzki gewesen. Ich kam, Sie zu benachrichtigen ... Leben Sie wohl. Vielleicht sehen wir uns nicht wieder: man wird Sie irgendwo hinschicken.«

Auf der Schwelle blieb er stehen. Er hätte mir gern die Hand gedrückt ... und wenn ich das geringste Verlangen darnach zu erkennen gegeben hätte, würde er sich mir an den Hals geworfen haben; aber ich blieb kalt wie Stein, und – er ging.

So sind die Menschen! Sie sind sich alle gleich. Sie kennen zum Voraus alle schlechten Seiten einer Handlung, sie helfen, rathen, ja ermuthigen uns, weil sie sehen, daß nicht anders gehandelt werden konnte, – aber dann waschen sie sich die Hände in Unschuld und wenden sich entrüstet von dem ab, der die Verwegenheit hatte, die ganze Schwere der Verantwortung auf sich zu nehmen. So sind sie Alle, sogar die besten und vernünftigsten ...[191]

Am andern Morgen erhielt ich von der höchsten Ortsbehörde den Befehl, mich in das Fort zu begeben. Ich ging zu der Fürstin, um mich von ihr zu verabschieden.

Sie fragte mich, ob ich ihr nicht etwas besonders Wichtiges zu sagen hätte, und als ich mich darauf beschränkte, ihr zu antworten, ich wünsche ihr alles mögliche Glück u.s.w. – da schien sie sehr überrascht.

»Aber ich,« versetzte sie, »habe Ihnen etwas sehr Ernstes zu sagen.«

Ich nahm schweigend Platz.

Es war offenbar, daß sie nicht wußte, wie sie beginnen sollte. Ihr Gesicht röthete sich ein wenig, während ihre dicken Finger auf dem Tische trommelten; endlich begann sie mit bewegter Stimme also:

»Hören Sie, Herr Petschorin, ich glaube, Sie sind ein Ehrenmann.«

Ich verbeugte mich.

»Ich bin sogar davon überzeugt,« fuhr sie fort, »obgleich Ihr Verhalten einige Zweifel erregen könnte; aber Sie dürften vielleicht Gründe haben, die ich nicht kenne, und jetzt bitte ich Sie, mir dieselben anzuvertrauen. Sie haben meine Tochter wider Verleumdungen vertheidigt, sich Ihretwegen duellirt – also für sie Ihr Leben aufs Spiel gesetzt ... Antworten Sie nicht, ich weiß, daß Sie das nicht eingestehen werden, weil Gruschnitzki gefallen ist. (Hier bekreuzte sie sich). Gott vergebe ihm – und Ihnen ebenfalls! ... Es ist nicht meine Sache ... ich habe nicht den Muth, Sie anzuklagen, weil meine Tochter, obgleich unschuldigerweise, die Veranlassung gewesen. Sie hat mir Alles erzählt – ja, Alles, glaube ich. Sie haben ihr Ihre Liebe erklärt ... und sie hat Ihnen die ihre gestanden. (Hier seufzte die Fürstin tief auf). Aber sie ist krank, und ich fürchte, es ist nicht eine gewöhnliche Krankheit, an der sie leidet! Ein geheimer Schmerz nagt an ihr; sie will es nicht eingestehen, aber ich bin überzeugt, daß Sie die Ursache[192] desselben sind ... Hören Sie: vielleicht glauben Sie, daß es mir auf Titel und großen Reichthum ankäme – Sie sind vollständig im Irrthum; ich will nur das Glück meiner Tochter. Ihre jetzige Stellung ist nicht glänzend; allein sie kann besser werden; denn Sie sind in der Lage, sich eine andere Zukunft zu schaffen. Meine Tochter liebt Sie; sie ist so erzogen, daß sie ihren Gatten glücklich machen wird. Ich bin reich, und sie ist mein einziges Kind ... Sagen Sie mir also, was hält Sie ab? ... Ich hätte vielleicht nicht so offen mit Ihnen reden sollen; aber ich habe Vertrauen zu Ihrem Herzen und zu Ihrer Ehre ... Bedenken Sie, sie ist meine einzige Tochter ... mein einziges ...«

Sie begann zu weinen.

»Fürstin,« sagte ich, »es ist mir unmöglich, Ihnen zu antworten; aber gestatten Sie mir, daß ich einen Augenblick allein mit Ihrer Tochter rede ...«

»Niemals!« rief sie aus, indem sie in heftiger Aufregung von ihrem Sitze aufsprang.

»Wie Sie wollen,« versetzte ich – und damit ging ich auf die Thür zu.

Sie dachte einen Augenblick nach, gab mir mit der Hand ein Zeichen zu bleiben und entfernte sich.

Fünf Minuten verstrichen. Mein Herz pochte heftig; allein meine Gedanken waren ruhig, mein Kopf kalt. Vergebens suchte ich in meinem Herzen nach einem Funken Liebe zu der schönen Mary, – nicht das geringste regte sich darin für sie.

Da ging die Thür auf, und sie trat ein.

Mein Gott, wie hatte sie sich verändert, seitdem ich sie zuletzt gesehen, – und in so kurzer Zeit!

Wankend ging sie bis in die Mitte des Zimmers. Ich eilte auf sie zu, reichte ihr meinen Arm und führte sie zu einem Sessel.

Ich stand vor ihr. Beide beobachteten wir langes[193] Schweigen. Ihre großen Augen, in welchen ein Ausdruck unaussprechlicher Traurigkeit lag, schienen in meinen Blicken einen Schimmer von Hoffnung suchen zu wollen. Ihre blassen Lippen versuchten vergeblich zu lächeln; ihre zarten über den Knien gefalteten Hände waren so weiß und durchsichtig, daß ich mich eines Gefühls des Mitleides nicht erwehren konnte.

»Fürstin,« sagte ich, »Sie wissen, daß ich mir einen Scherz mit Ihnen erlaubt habe ... Sie müssen mich verachten.«

Ueber ihre Wangen verbreitete sich eine krankhafte Röthe.

»Und darum,« fuhr ich fort, »können Sie mich nicht lieben.«

Sie wandte sich ab, stützte die Arme auf den Tisch, bedeckte das Gesicht mit den Händen, und es schien mir, als ob Thränen in ihren Augen glänzten.

»O, mein Gott,« murmelte sie mit kaum vernehmlicher Stimme.

Das wurde unerträglich: Noch eine Minute, und – ich wäre ihr zu Füßen gefallen.

»Sie sehen also selbst,« fuhr ich mit fester Stimme und gezwungenem Lächeln fort; »Sie sehen also selbst, daß ich Sie nicht heirathen kann, und wenn Sie es jetzt sogar wünschen sollten, Sie würden es bald bereuen. Meine Unterredung mit Ihrer Mutter zwingt mich zu dieser offenen und harten Erklärung. Ich hoffe, daß sie sich im Irrthum befindet; es wird Ihnen leicht sein, ihr denselben zu benehmen. Sie sehen, ich spiele in Ihren Augen die bedauernswertheste und häßlichste Rolle, und – auch das muß ich eingestehen – ich kann bei Ihnen keine andere Rolle spielen. Welche schlechte Meinung Sie von mir auch haben mögen, ich unterwerfe mich ihr ... Sie sehen, wie niedrig ich vor Ihnen stehe! ... Nicht wahr? Selbst wenn Sie mich wirklich geliebt hätten, jetzt würden Sie mich verachten?«[194]

Sie wandte sich mir zu, bleich wie Marmor; aber ihre Augen hatten einen furchtbaren Glanz.

»Ich hasse Sie,« sagte sie.

Ich dankte ihr, verbeugte mich achtungsvoll und entfernte mich.

Eine Stunde später brachte mich eine mit drei Courierpferden bespannte Kibitke aus Kislowodsk. Einige Werst von Jessentukoff erkannte ich am Wege den Cadaver meines Pferdes. Der Sattel war fortgenommen, wahrscheinlich von Kosaken, und statt des Sattels saßen zwei Raben auf dem Rücken. Ich fuhr zusammen und wandte die Augen ab ...

Und jetzt, in diesem trübseligen, langweiligen Fort kehrt mein Geist oft in die Vergangenheit zurück, und ich frage mich, warum ich den Weg nicht betreten wollte, den das Geschick mir angewiesen hatte, und wo ich stille Freuden und die Ruhe der Seele gefunden haben würde ... Aber nein, für ein solches Leben war ich nicht geschaffen! Ich gleiche dem Matrosen, der auf einem Piratenschiff geboren und aufgewachsen ist: An Stürme und Schlachten gewöhnt, grämt und härmt er sich auf dem festen Lande ab, mag er auch in dem schattigsten Hain lustwandeln, mag auch die Sonne ihre friedlichsten Strahlen auf ihn herabsenden; den ganzen Tag irrt er auf dem Sande am Gestade umher, lauscht dem eintönigen Klatschen der heranrollenden Wellen, und sein Auge starrt in die nebelhafte Ferne: ob nicht dort, an dem blassen Horizont, über dem blauen Abgrund des Meeres das ersehnte Segel sichtbar wird ... Anfangs gleicht es nur dem Flügel einer Seemöwe, aber nach und nach steigt es aus den Fluten empor und nähert sich dann in raschem Fluge dem einsamen Gestade ...

1

Eine sprichwörtliche Redensart. Eine Variante des Salomonischen Spruches: »Alles ist eitel.«

Quelle:
Lermontoff, Michael: Ein Held unsrer Zeit. Leipzig [o. J.], S. 91-195.
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