Dreizehnter Brief

[296] An den Herrn D**


Die Natur weiß nichts von dem verhaßten Unterscheide, den die Menschen unter sich fest gesetzt haben. Sie teilet die[296] Eigenschaften des Herzens aus, ohne den Edeln und den Reichen vorzuziehen, und es scheinet sogar, als ob die natürlichen Empfindungen bei gemeinen Leuten stärker, als bei andern, wären. Gütige Natur, wie beneidenswürdig schadlos hältst du sie wegen der nichtigen Scheingüter, womit du die Kinder des Glücks abspeisest! Ein fühlbar Herz – – wie unschätzbar ist es! Es macht unser Glück, auch alsdann wann es unser Unglück zu machen scheinet – –

Was sind das für Betrachtungen, werden Sie sagen, und mit was für einem Briefe drohen Sie mir? Es sind Betrachtungen, welche ich heute bei Lesung einer englischen Monatsschrift gehabt habe, wo ich eine Erzählung fand, die mich auf eine zwar traurige, aber doch so angenehme Art rührte, daß ich mich wider unsre Freundschaft versündigen würde, wann ich Sie an diesen Rührungen nicht wollte Anteil nehmen lassen. Hören Sie also; meine Geschichte ist der Triumph der väterlichen Liebe und mein Held heißt Jacob Tomms –

Nichts kann eingeschränkter sein, als der Verstand dieses Mannes, und nichts erhabener als seine Empfindungen. Nicht lange bedacht! – – Und wenn mich alle Orakel für den Weisesten erkläret hätten; wäre es möglich, ich würde den Ruhm des Empfindsamsten mit Verlust aller meiner Weisheit dafür eintauschen. – – Jacob Tomms war arm; er empfand seine Armut vierfach härter; denn er hatte ein Weib und drei Kinder, die er mit Verkaufung weniger Gartenfrüchte kümmerlich erhielt. Er hatte mit einem reichen Manne einen kleinen Vergleich gemacht, welcher ihm wöchentlich eine gewisse Menge derselben aus seinem Garten zukommen ließ, und erst mit Ausgang der Woche das Geld von ihm verlangte – – Wie großmütig, ohne Zweifel, schien sich der reiche Mann zu sein! Einem ehrlichen Manne sieben ganzer Tage zu borgen! Wo es ihm nur nicht bald reuet, so viel gewagt zu haben – – Jacob Tomms hatte lange Zeit die vorgeschoßnen Früchte genau abgezahlt, als sein Weib und seine älteste Tochter plötzlich krank wurden. Dieser Zufall setzte ihn in die Unmöglichkeit seinem Vertrage nachzukommen, und am Ende der andern Woche sahe er sich in der Schuld einer unermäßlichen Summe von dreißig und einem halben Groschen[297] stecken. Der Reiche glaubte seinem Ruine nahe zu sein, und voller Zorn begab er sich zu seinem Schuldner. Das erste war, daß er ihm ferner die nötigen Früchte, zu Fortsetzung seines kleinen Handels, vorzuschießen versagte. Das andre, daß er ihm einen Befehl zeigte, ihn in Verhaft nehmen zu lassen, wann er ihn nicht auf der Stelle, wegen der dreißig und einem halben Groschen befriedigte. Ungefähr mochte Tomms noch so viel haben, allein das war es auch alles, was er hatte. Er warf sich zu den Füßen des Reichen; Er stellte ihm vor, an diesen dreißig und einem halben Groschen hange seines Weibes und seiner Kinder Leben; er müsse seinen kleinen Kram damit unterhalten etc. Er erbot sich, alle Wochen sechs Groschen abzutragen. Er zeigte ihm sein Weib, und seine älteste Tochter, welche eben in der Hitze des Fiebers auf ein wenig Stroh lagen. Er zeigte ihm die zwei andern kleinen Kinder, denen er nicht einen Bissen Brod würde geben können. Umsonst, der Reiche blieb unbewegt – – Ihr seid alle Schelme, sagte er, wenn ihr Geld habt, so besauft ihr euch – – Ich will durchaus nicht länger warten – – In diesem Tone fuhr er eine Zeit lang fort, bis ein großmütiger Unwille in unserm Tomms endlich die Empfindung seines Unglücks unterdrückte. Nu da! sagte er, indem er aus allen Nähten seiner Taschen die kleine Schuld zusammensuchte. Der Reiche strich sie ein, und ging fort. Tomms verfolgte ihn mit einem Blicke, – – mit dem ein tugendhafter Arme meinen ärgsten Feind verfolge! Wüßte ich mich grausamer zu rächen? – – Kaum warf er seine Augen wieder auf sein unglückseliges Geschlecht, als er in Tränen zerfloß. Bald aber hemmte sie die stille und finstre Verzweiflung. Seine Frau verlangte einige Erquickung; seine Kinder verlangten Brod – – »Ihr sollt Brod haben, meine Kinder, sagte er; ihr sollt haben. Zwar wird es euerm Vater teuer zu stehen kommen.« – – Hier besann er sich, daß sich das Kirchspiel der Waisen annehme. Auf einmal war sein Entschluß gefaßt. Meine Kinder zu versorgen, dachte er, muß ich ihnen den Vater nehmen, der ihnen kein Brod mehr geben kann. Er begab sich in einen kleinen Verschlag neben der Stube, wo er seine Gartenfrüchte zu stehen hatte, fest entschlossen zu sterben. Einige[298] Augenblicke hielt ihn die Betrachtung seiner Seligkeit zurück – – »Hätte ich doch nie von jenem Leben etwas gewußt! – – Wie leicht würde es mir werden, meinen Kindern Brod zu schaffen! Ich tue vielleicht nicht recht, aber kann ich besser tun?« – Er fing an zu beten und schloß in der Einfalt seines Herzens: »Lieber Gott, setze dich an meine Stelle; ich weiß, du würdest eben das tun.« – Mit diesen Gedanken bewaffnet legte er sich den Strick um den Hals; in den heftigen Bewegungen aber, die er dabei machte, hörte die Nachbarin die starken Stöße, die er gegen die Wand tat. Sie frühstückte gleich, und kam also mit dem Messer in der Hand herzugelaufen, in der Meinung es sei ihrer kranken Nachbarin etwas zu gestoßen. Sie fand diese Frau in der äußersten Unruhe wegen dieses Tumults, den sie gleichfalls gehört hatte; und als sie auf ihr Ersuchen in den Verschlag ging, sahe sie den unglücklichen Tomms, welcher vielleicht kaum noch einige Minuten zu leben hatte. Sie stürzte sich auf ihn zu, schnitt den Strick ab, und brachte ihn mit Hülfe der Kranken, welche auf ihr Geschrei herbei gekommen war, sterbend auf das Lager. Man ließ ihm zur Ader, und Tomms kam wieder zu sich. Doch die Scham über sein mißlungenes Unternehmen, und die Furcht des Vorwurfs hätten ihn gewiß in eine neue Verzweiflung gestürzt, wenn sich der Graf von G**, welchem sein Bedienter diesen traurigen Zufall erzählt hatte, nicht in das Mittel geschlagen hätte. Er ließ unsern Tomms zu sich kommen; er verwies ihm auf eine leutselige Art sein Verbrechen, und setzte ihn in Umstände, in welchen seine natürliche Liebe eine so harte Probe niemals wieder wird aushalten dürfen – –

Ich will Ihr Gefühl durch keinen fremden Zusatz zerstreuen. Leben Sie wohl! Ich bin etc.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 3, München 1970 ff., S. 296-299.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Briefe
Briefe,die neueste Literatur betreffend.Mit einer Dokumentationzur Entstehungs-und Wirkunsgeschichte
Werke und Briefe. 12 in 14 Bänden: Band 4: Werke 1758-1759
Werke und Briefe. 12 in 14 Bänden: Band 6: Werke 1767-1769
Werke und Briefe. 12 in 14 Bänden: Band 11/1: Briefe von und an Lessing 1743-1770
Briefe. 2 in 3 Bänden