Zweiter Auftritt


[522] Adrast. Juliane. Henriette. Lisette.


HENRIETTE. Als wenn Sie gerufen wären, Adrast! Sie verließen mich vorhin, unhöflich genug, mitten in der Erhebung des Theophans; aber das hindert mich nicht, daß[522] ich Ihnen nicht die Wiederholung Ihrer eigenen anzuhören gönnen sollte. – Sie sehen sich um? Nach Ihrer Lobrednerin gewiß? Ich bin es nicht, wahrhaftig! ich bin es nicht; meine Schwester ist es. Eine Betschwester, die Lobrednerin eines Freigeistes? Was für ein Widerspruch! Entweder Ihre Bekehrung muß vor der Türe sein, Adrast; oder meiner Schwester Verführung.

JULIANE. Wie ausgelassen sie wieder auf einmal ist.

HENRIETTE. Stehen Sie doch nicht so hölzern da!

ADRAST. Ich nehme Sie zum Zeugen, schönste Juliane, wie verächtlich sie mir begegnet.

HENRIETTE. Komm nur, Lisette! wir wollen sie allein lassen. Adrast braucht ohne Zweifel unsere Gegenwart weder zu seiner Danksagung, noch zu meiner Verklagung.

JULIANE. Lisette soll hier bleiben.

HENRIETTE. Nein, sie soll nicht.

LISETTE. Sie wissen wohl, ich gehöre heute Mamsell Henrietten.

HENRIETTE. Aber bei dem allen sieh dich vor, Schwester! Wenn mir dein Theophan aufstößt, so sollst du sehen, was geschieht. Sie dürfen nicht denken, Adrast, daß ich dieses sage, um Sie eifersüchtig zu machen. Ich fühle es in der Tat, daß ich anfange, Sie zu hassen.

ADRAST. Es möchte Ihnen auch schwerlich gelingen, mich eifersüchtig zu machen.

HENRIETTE. O! das wäre vortrefflich, wenn Sie mir hierinne gleich wären. Alsdann, erst alsdann würde unsre Ehe eine recht glückliche Ehe werden. Freuen Sie sich, Adrast! wie verächtlich wollen wir einander begegnen! – – Du willst antworten, Schwester? Nun ist es Zeit. Fort, Lisette!


Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 1, München 1970 ff., S. 522-523.
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