[523] Adrast. Juliane.
JULIANE. Adrast, Sie werden Geduld mit ihr haben müssen. – Sie verdient es aber auch; denn sie hat das beste Herz von der Welt, so verdächtig es ihre Zunge zu machen sucht.[523]
ADRAST. Allzugütige Juliane! Sie hat das Glück, Ihre Schwester zu sein; aber wie schlecht macht sie sich dieses Glück zu Nutze? Ich entschuldige jedes Frauenzimmer, das ohne merkliche Fehler nicht hat aufwachsen können, weil es ohne Erziehung und Beispiele hat aufwachsen müssen; aber ein Frauenzimmer zu entschuldigen, das eine Juliane zum Muster gehabt hat, und eine Henriette geworden ist: bis dahin langt meine Höflichkeit nicht. – –
JULIANE. Sie sind aufgebracht, Adrast: wie könnten Sie billig sein?
ADRAST. Ich weiß nicht, was ich jetzo bin; aber ich weiß, daß ich aus Empfindung rede. – –
JULIANE. Die zu heftig ist, als daß sie lange anhalten sollte.
ADRAST. So prophezeien Sie mir mein Unglück.
JULIANE. Wie? – Sie vergessen, in was für Verbindung Sie mit meiner Schwester stehen?
ADRAST. Ach! Juliane, warum muß ich Ihnen sagen, daß ich kein Herz für Ihre Schwester habe?
JULIANE. Sie erschrecken mich. – –
ADRAST. Und ich habe Ihnen nur noch die kleinste Hälfte von dem gesagt, was ich Ihnen sagen muß.
JULIANE. So erlauben Sie, daß ich mir die größre erspare. Sie will fortgehen.
ADRAST. Wohin? Ich hätte Ihnen meine Veränderung entdeckt, und Sie wollten die Gründe, die mich dazu bewogen haben, nicht anhören? Sie wollten mich mit dem Verdachte verlassen, daß ich ein unbeständiger, leichtsinniger Flattergeist sei?
JULIANE. Sie irren sich. Nicht ich; mein Vater, meine Schwester, haben allein auf Ihre Rechtfertigungen ein Recht.
ADRAST. Allein? Ach! – –
JULIANE. Halten Sie mich nicht länger –
ADRAST. Ich bitte nur um einen Augenblick. Der größte Verbrecher wird gehört – –
JULIANE. Von seinem Richter, Adrast; und ich bin Ihr Richter nicht.
ADRAST. Aber ich beschwöre Sie, es jetzt sein zu wollen. Ihr Vater, schönste Juliane, und Ihre Schwester werden mich[524] verdammen, und nicht richten. Ihnen allein traue ich die Billigkeit zu, die mich beruhigen kann.
JULIANE bei Seite. Ich glaube, er beredet mich, ihn anzuhören. – – Nun wohl! so sagen Sie denn, Adrast, was Sie wider meine Schwester so eingenommen hat?
ADRAST. Sie selbst hat mich wider sich eingenommen. Sie ist zu wenig Frauenzimmer, als daß ich sie als ein Frauenzimmer lieben könnte. Wenn ihre Lineamente nicht ihr Geschlecht bestärkten, so würde man sie für einen verkleideten wilden Jüngling halten, der zu ungeschickt wäre, seine angenommene Rolle zu spielen. Was für ein Mundwerk! Und was muß es für ein Geist sein, der diesen Mund in Beschäftigung erhält! Sagen Sie nicht, daß vielleicht Mund und Geist bei ihr wenig oder keine Verbindung mit einander haben. Desto schlimmer. Diese Unordnung, da ein jedes von diesen zwei Stücken seinen eignen Weg hält, macht zwar die Vergehungen einer solchen Person weniger strafbar; allein sie vernichtet auch alles Gute, was diese Person noch etwa an sich haben kann. Wenn ihre beißenden Spöttereien, ihre nachteiligen Anmerkungen deswegen zu übersehen sind, weil sie es, wie man zu reden pflegt, nicht so böse meinet; ist man nicht berechtiget, aus eben diesem Grunde dasjenige, was sie Rühmliches und Verbindliches sagt, ebenfalls für leere Töne anzusehen, bei welchen sie es vielleicht nicht so gut meinet? Wie kann man eines Art zu denken beurteilen, wenn man sie nicht aus seiner Art zu reden beurteilen soll? Und wenn der Schluß von der Rede auf die Gesinnung in dem einen Falle nicht gelten soll, warum soll er in dem andern gelten? Sie spricht mit dürren Worten, daß sie mich zu hassen anfange; und ich soll glauben, daß sie mich noch liebe? So werde ich auch glauben müssen, daß sie mich hasse, wenn sie sagen wird, daß sie mich zu lieben anfange.
JULIANE. Adrast, Sie betrachten ihre kleinen Neckereien zu strenge und verwechseln Falschheit mit Übereilung. Sie kann der letztern des Tages hundertmal schuldig werden; und von der erstern doch immer entfernt bleiben. Sie müssen es aus ihren Taten, und nicht aus ihren Reden, erfahren[525] lernen, daß sie im Grunde die freundschaftlichste und zärtlichste Seele hat.
ADRAST. Ach! Juliane, die Reden sind die ersten Anfänge der Taten, ihre Elemente gleichsam. Wie kann man vermuten, daß diejenige vorsichtig und gut handeln werde, der es nicht einmal gewöhnlich ist, vorsichtig und gut zu reden? Ihre Zunge verschont nichts, auch dasjenige nicht, was ihr das Heiligste von der Welt sein sollte. Pflicht, Tugend, Anständigkeit, Religion: alles ist ihrem Spotte ausgesetzt. – –
JULIANE. Stille, Adrast! Sie sollten der letzte sein, der diese Anmerkung machte.
ADRAST. Wie so?
JULIANE. Wie so? – Soll ich aufrichtig reden?
ADRAST. Als ob Sie anders reden könnten. – –
JULIANE. Wie, wenn das ganze Betragen meiner Schwester, ihr Bestreben leichtsinniger zu scheinen, als sie ist, ihre Begierde Spöttereien zu sagen, sich nur von einer gewissen Zeit herschrieben? Wie, wenn diese gewisse Zeit die Zeit Ihres Hierseins wäre, Adrast?
ADRAST. Was sagen Sie?
JULIANE. Ich will nicht sagen, daß Sie ihr mit einem bösen Exempel vorgegangen wären. Allein wozu verleitet uns nicht die Begierde zu gefallen? Wenn Sie Ihre Gesinnungen auch noch weniger geäußert hätten: – – und Sie haben sie oft deutlich genug geäußert: – – so würde sie Henriette doch erraten haben. Und so bald sie dieselben erriet, so bald war der Schluß, sich durch die Annehmung gleicher Gesinnungen bei Ihnen beliebt zu machen, für ein lebhaftes Mädchen sehr natürlich. Wollen Sie wohl nun so grausam sein, und ihr dasjenige als ein Verbrechen anrechnen, wofür Sie ihr, als für eine Schmeichelei, danken sollten?
ADRAST. Ich danke niemanden, der klein genug ist, meinetwegen seinen Charakter zu verlassen; und derjenige macht mir eine schlechte Schmeichelei, der mich für einen Toren hält, welchem nichts als seine Art gefalle, und der überall gern kleine Kopien und verjüngte Abschilderungen von sich selbst sehen möchte.[526]
JULIANE. Aber auf diese Art werden Sie wenig Proselyten machen.
ADRAST. Was denken Sie von mir, schönste Juliane? Ich Proselyten machen? Rasendes Unternehmen! Wem habe ich meine Gedanken jemals anschwatzen oder aufdringen wollen? Es sollte mir Leid tun, sie unter den Pöbel gebracht zu wissen. Wenn ich sie oft laut und mit einer gewissen Heftigkeit verteidiget habe, so ist es in der Absicht, mich zu rechtfertigen, nicht, andere zu überreden, geschehen. Wenn meine Meinungen zu gemein würden, so würde ich der erste sein, der sie verließe, und die gegenseitigen annähme.
JULIANE. Sie suchen also nur das Sonderbare?
ADRAST. Nein, nicht das Sonderbare, sondern bloß das Wahre; und ich kann nicht dafür, wenn jenes, leider! eine Folge von diesem ist. Es ist mir unmöglich zu glauben, daß die Wahrheit gemein sein könne; eben so unmöglich, als zu glauben, daß in der ganzen Welt auf einmal Tag sein könne. Das, was unter der Gestalt der Wahrheit unter allen Völkern herumschleicht, und auch von den Blödsinnigsten angenommen wird, ist gewiß keine Wahrheit, und man darf nur getrost die Hand, sie zu entkleiden, anlegen, so wird man den scheußlichsten Irrtum nackend vor sich stehen sehen.
JULIANE. Wie elend sind die Menschen, und wie ungerecht ihr Schöpfer, wenn Sie Recht haben, Adrast! Es muß entweder gar keine Wahrheit sein, oder sie muß von der Beschaffenheit sein, daß sie von den meisten, ja von allen, wenigstens im Wesentlichsten, empfunden werden kann.
ADRAST. Es liegt nicht an der Wahrheit, daß sie es nicht werden kann; sondern an den Menschen. – – Wir sollen glücklich in der Welt leben; dazu sind wir erschaffen; dazu sind wir einzig und allein erschaffen. So oft die Wahrheit diesem großen Endzwecke hinderlich ist, so oft ist man verbunden, sie bei Seite zu setzen; denn nur wenig Geister können in der Wahrheit selbst ihr Glück finden. Man lasse daher dem Pöbel seine Irrtümer; man lasse sie ihm, weil sie ein Grund seines Glückes und die Stütze des Staates[527] sind, in welchem er für sich Sicherheit, Überfluß und Freude findet. Ihm die Religion nehmen, heißt ein wildes Pferd auf der fetten Weide los binden, das, so bald es sich frei fühlt, lieber in unfruchtbaren Wäldern herumschweifen und Mangel leiden, als durch einen gemächlichen Dienst alles, was es braucht, erwerben will. – Doch nicht für den Pöbel allein, auch noch für einen andern Teil des menschlichen Geschlechts muß man die Religion beibehalten. Für den schönsten Teil, meine ich, dem sie eine Art von Zierde, wie dort eine Art von Zaume ist. Das Religiöse stehet der weiblichen Bescheidenheit sehr wohl; es gibt der Schönheit ein gewisses edles, gesetztes und schmachtendes Ansehen – –
JULIANE. Halten Sie, Adrast! Sie erweisen meinem Geschlechte eben so wenig Ehre, als der Religion. Jenes setzen Sie mit dem Pöbel in eine Klasse, so fein auch Ihre Wendung war; und diese machen Sie aufs höchste zu einer Art von Schminke, die das Geräte auf unsern Nachttischen vermehren kann. Nein, Adrast! die Religion ist eine Zierde für alle Menschen; und muß ihre wesentlichste Zierde sein. Ach! Sie verkennen sie aus Stolze; aber aus einem falschen Stolze. Was kann unsre Seele mit erhabenern Begriffen füllen, als die Religion? Und worin kann die Schönheit der Seele anders bestehen, als in solchen Begriffen? in würdigen Begriffen von Gott, von uns, von unsern Pflichten, von unserer Bestimmung? Was kann unser Herz, diesen Sammelplatz verderbter und unruhiger Leidenschaften, mehr reinigen, mehr beruhigen, als eben diese Religion? Was kann uns im Elende mehr aufrichten, als sie? Was kann uns zu wahrern Menschen, zu bessern Bürgern, zu aufrichtigern Freunden machen, als sie? – – Fast schäme ich mich, Adrast, mit Ihnen so ernstlich zu reden. Es ist der Ton ohne Zweifel nicht, der Ihnen an einem Frauenzimmer gefällt, ob Ihnen gleich der entgegen gesetzte eben so wenig zu gefallen scheinet. Sie könnten alles dieses aus einem beredtern Munde, aus dem Munde des Theophans hören.[528]
Ausgewählte Ausgaben von
Der Freigeist
|
Buchempfehlung
Die Brüder Atreus und Thyest töten ihren Halbbruder Chrysippos und lassen im Streit um den Thron von Mykene keine Intrige aus. Weißes Trauerspiel aus der griechischen Mythologie ist 1765 neben der Tragödie »Die Befreiung von Theben« das erste deutschsprachige Drama in fünfhebigen Jamben.
74 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro