Siebender Auftritt


[338] Saladin und die Vorigen.


SALADIN.

Was gibts hier, Sittah?

SITTAH.

Sie ist von sich! Gott!

SALADIN.

Wer ists?

SITTAH.

Du weißt ja ...

SALADIN.

Unsers Nathans Tochter?

Was fehlt ihr?

SITTAH.

Komm doch zu dir, Kind! – Der Sultan ...[338]

RECHA die sich auf den Knieen zu Saladins Füßen schleppt, den Kopf zur Erde gesenkt.

Ich steh nicht auf! nicht eher auf! – mag eher

Des Sultans Antlitz nicht erblicken! – eher

Den Abglanz ewiger Gerechtigkeit

Und Güte nicht in seinen Augen, nicht

Auf seiner Stirn bewundern ...

SALADIN.

Steh ... steh auf!

RECHA.

Eh er mir nicht verspricht ...

SALADIN.

Komm! ich verspreche ...

Sei was es will!

RECHA.

Nicht mehr, nicht weniger,

Als meinen Vater mir zu lassen; und

Mich ihm! – Noch weiß ich nicht, wer sonst mein Vater

Zu sein verlangt; – verlangen kann. Wills auch

Nicht wissen. Aber macht denn nur das Blut

Den Vater? nur das Blut?

SALADIN der sie aufhebt.

Ich merke wohl! –

Wer war so grausam denn, dir selbst – dir selbst

Dergleichen in den Kopf zu setzen? Ist

Es denn schon völlig ausgemacht? erwiesen?

RECHA.

Muß wohl! Denn Daja will von meiner Amm'

Es haben.

SALADIN.

Deiner Amme!

RECHA.

Die es sterbend

Ihr zu vertrauen sich verbunden fühlte.

SALADIN.

Gar sterbend! – Nicht auch faselnd schon? – Und wärs

Auch wahr! – Ja wohl: das Blut, das Blut allein

Macht lange noch den Vater nicht! macht kaum

Den Vater eines Tieres! gibt zum höchsten

Das erste Recht, sich diesen Namen zu

Erwerben! – Laß dir doch nicht bange sein! –

Und weißt du was? Sobald der Väter zwei

Sich um dich streiten: – laß sie beide; nimm

Den dritten! – Nimm dann mich zu deinem Vater!

SITTAH.

O tu's! o tu's!

SALADIN.

Ich will ein guter Vater,

Recht guter Vater sein! – Doch halt! mir fällt[339]

Noch viel was Bessers bei. – Was brauchst du denn

Der Väter überhaupt? Wenn sie nun sterben?

Bei Zeiten sich nach einem umgesehn,

Der mit uns um die Wette leben will!

Kennst du noch keinen? ...

SITTAH.

Mach sie nicht erröten!

SALADIN.

Das hab' ich allerdings mir vorgesetzt.

Erröten macht die Häßlichen so schön:

Und sollte Schöne nicht noch schöner machen? –

Ich habe deinen Vater Nathan; und

Noch einen – einen noch hierher bestellt.

Errätst du ihn? – Hierher! Du wirst mir doch

Erlauben, Sittah?

SITTAH.

Bruder!

SALADIN.

Daß du ja

Vor ihm recht sehr errötest, liebes Mädchen!

RECHA.

Vor wem? erröten? ...

SALADIN.

Kleine Heuchlerin!

Nun so erblasse lieber! – Wie du willst

Und kannst! –


Eine Sklavin tritt herein, und nahet sich Sittah.


Sie sind doch etwa nicht schon da?

SITTAH zur Sklavin.

Gut! laß sie nur herein. – Sie sind es, Bruder!


Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 2, München 1970 ff., S. 338-340.
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