Der Naturalist

[275] Ein Mann, der das Namenregister der Natur vollkommen inne hatte, jede Pflanze, und jedes dieser Pflanze eigenes Insekt zu nennen, und auf mehr als eine Art zu nennen wußte; der den ganzen Tag Steine auflas, Schmetterlingen nachlief, und seine Beute mit einer recht gelehrten Unempfindlichkeit spießte; so ein Mann, ein Naturalist – – (sie hören es gern, wenn man sie Naturforscher nennt) durchjagte den Wald, und verweilte sich endlich bei einem Ameisehaufen. Er fing an darin zu wühlen, durchsuchte ihren eingesammelten Vorrat, betrachtete ihre Eier, deren er einige unter seine Mikroskope legte, und richtete, mit einem Worte, in diesem Staate der Emsigkeit und Vorsicht, keine geringe Verwüstung an.

Unterdessen wagte es eine Ameise, ihn anzureden. Bist du nicht etwa gar, sprach sie, einer von den Faulen, die Salomo zu uns schickt, daß sie unsre Weise sehen, und von uns Fleiß und Arbeit lernen sollen?

Die alberne Ameise; einen Naturalisten für einen Faulen anzusehen.[275]

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 1, München 1970 ff., S. 275-276.
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