[244] Ne hoc quidem nudum est intuendum, qualem causam vir bonus, sed etiam quare, et qua mente defendat.
Quinctilianus
Aber der Herr Pastor wird ärgerlich werden, daß ich ihm so Schritt vor Schritt auf den Leib rücke, um ihn endlich in dem Winkel zu haben, wo er mir nicht entwischen kann. Er wird schon itzt, ehe ich ihn noch ganz umzingelt habe, mir zu entwischen suchen, und sagen: »Ei, wer spricht denn auch von dem bloßen Drucke? Der ließe sich freilich noch so so beschönigen. Das eigentliche Verbrechen stecket da, daß der Herausgeber der Fragmente zugleich die Advokatur des Verfassers übernommen hat.«
Advokatur? Die Advokatur des Verfassers? – Was hatte denn mein Ungenannter für eine Advokatur, die ich an seiner Statt übernommen? Die Advokatur ist die Befugnis, vor gewissen Gerichten gewisse Rechtshändel führen zu dürfen. Daß mein Ungenannter irgendwo eine solche Befugnis gehabt habe, wüßte ich gar nicht. – Es wäre denn, daß man seine Befugnis, den gesunden Menschenverstand vor dem Publico zu verteidigen, darunter verstehen wolle. Doch diese Befugnis hat ja wohl ein jeder von Natur; gibt sich ja wohl ein jeder von selbst; braucht keiner erst lange von dem andern zu übernehmen. Sie ist weder eine Fleischbank, noch ein Pastorat.
Doch dem guten Herrn Hauptpastor die Worte so zu mäkeln! So genau bei ihm auf das zu sehn, was er sagt; und nicht vielmehr auf das, was er sagen will? Er will sagen, daß ich übernommen, der Advokat des Ungenannten zu sein; mich zum Advokaten des Ungenannten aufgeworfen. Das will er sagen; und ich wette zehne gegen eins, daß ihn kein Karrenschieber anders versteht. –
So habe er es denn auch gesagt! – Wenn ich nur sähe, wo der[244] Weg nun weiter hinginge. Denn auch hier laufen Straßen nach allen Gegenden des Himmels. – Freilich, wenn ich wüßte, was für einen Begriff der Herr Hauptpastor von seinem Advokaten sich mache: so wollte ich den geraden Weg, in seine Gedanken einzudringen, bald finden. –
Sollte der Herr Hauptpastor wohl Wundershalben hier einmal gar den rechten Begriff sich machen? Sollte er wohl gar den wahren Advokaten kennen und meinen? den ehrlichen Mann unter diesem Namen meinen, der der Gesetze genau kundig ist, und keinen Handel übernimmt, als solche von deren Gerechtigkeit er überzeugt ist? – Nein, nein; den kann er nicht meinen. Denn ich habe nirgend gesagt, daß ich die ganze Sache meines Ungenannten, völlig so wie sie liegt, für gut und wahr halte. Ich habe das nie gesagt: vielmehr habe ich gerade das Gegenteil gesagt. Ich habe gesagt und erwiesen, daß wenn der Ungenannte auch noch in so viel einzeln Punkten Recht habe und Recht behalte, im Ganzen dennoch daraus nicht folge, was er daraus folgern zu wollen scheine.
Ich darf kühnlich hinzusetzen, was einer Art von Prahlerei ähnlich sehen wird. Genug, daß billige Leser Fälle kennen, wo dergleichen abgedrungene Prahlerei nötig ist; und Leser von Gefühl wohl empfinden, daß ich mich hier in einem nicht der geringsten dieser Fälle befinde. – Ich habe es nicht allein nicht ausdrücklich gesagt, daß ich der Meinung meines Ungenannten zugetan sei: ich habe auch bis auf den Zeitpunkt, da ich mich mit der Ausgabe der Fragmente befaßt, nie das geringste geschrieben, oder öffentlich behauptet, was mich dem Verdachte aussetzen könnte, ein heimlicher Feind der christlichen Religion zu sein. Wohl aber habe ich mehr als eine Kleinigkeit geschrieben, in welchen ich nicht allein die Christliche Religion überhaupt nach ihren Lehren und Lehrern in dem besten Lichte gezeigt, sondern auch die Christlichlutherische orthodoxe Religion insbesondere gegen Katholiken, Socinianer und Neulinge verteidiget habe.
Diese Kleinigkeiten kennt der Herr Hauptpastor größtenteils selbst, und er hat mir ehedem mündlich und gedruckt seinen Beifall darüber zu bezeigen beliebt. Wie erkennt er denn nun erst auf einmal den Teufel in mir, der sich, wo nicht in einen Engel des[245] Lichts, doch wenigstens in einen Menschen von eben nicht dem schlimmsten Schlage verstellt hatte? Sollte ich wirklich umgeschlagen sein, seitdem ich die nämliche Luft mit ihm nicht mehr atme? Sollten mich mehrere und bessere Kenntnisse und Einsichten, die ich seit unsrer Trennung zu erlangen, eben so viel Begierde als Gelegenheit gehabt habe, nur kurzsichtiger und schlimmer gemacht haben? Sollte ich an der Klippe, die ich in dem stürmischen Alter brausender Aufwallungen vermieden habe, itzt erst nachlässig scheitern, da sanftere Winde mich dem Hafen zutreiben, in welchem ich eben so freudig zu landen hoffe, als Er? – Gewiß nicht, gewiß nicht; ich bin noch der nämliche Mensch: aber der Herr Hauptpastor betrachtet mich nicht mehr mit dem nämlichen Auge. Die Galle hat sich seiner Sehe bemeistert, und die Galle trat ihm über – Wodurch? Wer wird es glauben, wenn ich es erzähle! Tantaene animis coelestibus irae? – Doch ich muß meinen Nachtisch nicht vor der Suppe aufzehren.
Ich komme auf die Advokatur zurück und sage: der wahre eigentliche Advokat meines Ungenannten, der mit seinem Klienten über den anhängigen Streit Ein Herz und Eine Seele wäre, bin ich also nicht, kann ich also nicht sein. Ja, ich kann auch nicht einmal der sein, der von der Gerechtigkeit der Sache seines Klienten nur eben einen kleinen Schimmer hat, und sich dennoch, entweder aus Freundschaft oder aus andern Ursachen, auf gutes Glück mit ihm auf das Meer der Chicane begibt; fest entschlossen, jeden Windstoß zu nutzen, um ihn irgendwo glücklich ans Land zu setzen. Denn der Ungenannte war mein Freund nicht; und ich wüßte auch sonst nichts in der Welt, was mich bewegen können, mich lieber mit seinen Handschriften, als mit funfzig andern abzugeben, die mir weder so viel Verdruß noch so viel Mühe machen würden: wenn es nicht das Verlangen wäre, sie so bald als möglich, sie noch bei meinen Lebzeiten widerlegt zu sehen.
Bei Gott! die Versicherung dieses Verlangens, weil ich bis itzt noch wenig Parade damit machen wollen, ist darum keine leere Ausflucht. Aber freilich eigennützig ist dieses Verlangen; höchst eigennützig. Ich möchte nämlich gar zu gern, selbst noch etwas von der Widerlegung mit aus der Welt nehmen. Ich bedarf ihrer. Denn daß ich als Bibliothekar die Fragmente meines Ungenannten[246] las, war nicht mehr als billig; und daß sie mich an mehrern Stellen verlegen und unruhig machten, war ganz natürlich. Sie enthalten so mancherlei Dinge, welche mein Bißchen Scharfsinn und Gelehrsamkeit gehörig auseinander zu setzen, nicht zureicht. Ich sehe hier und da, auf tausend Meilen, keine Antwort; und der Herr Hauptpastor wird sich freilich nicht vorstellen können, wie sehr eine solche Verlegenheit um Antwort ein Wahrheit liebendes Gemüt beunruhiget.
Bin ich mir denn nun nichts? Habe ich keine Pflicht gegen mich selbst, meine Beruhigung zu suchen, wo ich sie zu finden glaube? Und wo konnte ich sie besser zu finden glauben, als bei dem Publico? Ich weiß gar wohl, daß ein Individuum seine einzelne zeitliche Wohlfahrt der Wohlfahrt mehrerer aufzuopfern schuldig ist. Aber auch seine ewige? Was vor Gott und dem Menschen kann mich verbinden, lieber von quälenden Zweifeln mich nicht befreien zu wollen, als durch ihre Bekanntmachung Schwachgläubige zu ärgern? – Darauf antworte mir der Herr Hauptpastor. –
Allerdings habe ich keine besondere Erlaubnis gehabt, von den mir anvertrauten literarischen Schätzen auch dergleichen feurige Kohlen der Welt mitzuteilen. Ich habe diese besondere Erlaubnis in der allgemeinen mit eingeschlossen zu sein geglaubt, die mir mein gnädigster Herr zu erteilen geruhet. Habe ich durch diesen Glauben mich seines Zutrauens unwürdig bezeigt: so beklage ich mein Unglück, und bin strafbar. Gern, gern will ich auch der billigen Gerechtigkeit darüber in die Hände fallen: wenn Gott mich nur vor den Händen des zornigen Priesters bewahret!
Und was wird dieser zornige Priester nun vollends sagen, wenn ich bei Gelegenheit hier bekenne, daß der Unbekannte selbst, an das Licht zu treten, sich nicht übereilen wollen. Daß ich ihn schon itzt an das Licht gezogen, ist nicht allein ohne seinen Willen, sondern wohl gar wider seinen Willen geschehen. Dieses läßt mich der Anfang eines Vorberichts besorgen, der mir unter seinen Papieren allerdings schon zu Gesichte gekommen war, noch ehe ich mich zu dem Dienste seines Einführers in die Welt entschloß. Er lautet also: »Die Schrift, wozu ich hier den Vorbericht mache, ist schon vor vielen Jahren von mir aufgesetzt[247] worden. Jedoch habe ich sie bei Gelegenheit eines öftern Durchlesens an manchen Stellen vermehrt, an andern eingekürzt, oder geändert. Also meine eigene Gemütsberuhigung war vom ersten Anfange der Bewegungsgrund, warum ich meine Gedanken niederschrieb; und ich bin nachher nimmer auf den Vorsatz geraten, die Welt durch meine Einsichten irre zu machen, oder zu Unruhen Anlaß zu geben. Die Schrift mag im Verborgenen, zum Gebrauch verständiger Freunde, liegen bleiben; mit meinem Willen soll sie nicht durch den Druck gemein gemacht werden, bevor sich die Zeiten mehr aufklären. Lieber mag der gemeine Haufe noch eine Weile irren, als daß ich ihn, ob wohl ohne meine Schuld, mit Wahrheiten ärgern und in einen wütenden Religionseifer setzen sollte. Lieber mag der Weise sich des Friedens halber, unter den herrschenden Meinungen und Gebräuchen schmiegen, dulden und schweigen; als daß er sich und andere durch gar zu frühzeitige Äußerung unglücklich machen sollte. Denn ich muß es zum Voraus sagen, die hierin enthaltenen Sätze sind nicht katechismusmäßig, sondern bleiben in den Schranken einer vernünftigen Verehrung Gottes, und Ausübung der Menschenliebe und Tugend. Da ich aber mir selbst, und meinen entstandenen Zweifeln zureichend Genüge tun wollte: so habe ich nicht umhin können, den Glauben, welcher mir so manche Anstöße gemacht hatte, von Grund aus zu untersuchen, ob er mit den Regeln der Wahrheit bestehen könne, oder nicht.«
Luther und alle Heiligen! Herr Hauptpastor, was haben Sie da gelesen! Nicht wahr? so gar strafbar hätten Sie mich nimmermehr geglaubt? – Der Ungenannte war bei aller seiner Freigeisterei, doch noch so ehrlich, daß er die Welt durch seine Einsichten nicht irre machen wollte: und ich, ich trage kein Bedenken, sie durch fremde Einsichten irre zu machen. Der Ungenannte war ein so friedlicher Mann, daß er zu keinen Unruhen Anlaß geben wollte: und ich, ich setze mich über alle Unruhen hinweg, von welchen Sie, Herr Hauptpastor, am besten wissen, wie sauer es itzt einem treufleißigen Seelensorger wird, sie auch nur in einer einzigen Stadt zur Ehre unsrer allerheiligsten Religion zu erregen. Der Ungenannte war ein so behutsamer Mann, daß er keinen Menschen mit Wahrheiten ärgern wollte: und ich, ich glaube ganz und gar an kein solches Ärgernis; fest überzeugt,[248] daß nicht Wahrheiten, die man bloß zur Untersuchung vorlegt, sondern allein Wahrheiten, die man so fort in Ausübung bringen will, den gemeinen Haufen in wütenden Religionseifer zu versetzen fähig sind. Der Ungenannte war ein so kluger Mann, daß er durch allzufrühzeitige Äußerungen, weder sich noch andere unglücklich machen wollte: und ich, ich schlage als ein Rasender meine eigene Sicherheit zuerst in die Schanze, weil ich der Meinung bin, daß Äußerungen, wenn sie nur Grund haben, dem menschlichen Geschlechte nicht früh genug kommen können. Mein Ungenannter, der ich weiß nicht wenn schrieb, glaubte, daß sich die Zeiten erst mehr aufklären müßten, ehe sich, was er für Wahrheit hielt, öffentlich predigen lasse: und ich, ich glaube, daß die Zeiten nicht aufgeklärter werden können, um vorläufig zu untersuchen, ob das, was er für Wahrheit gehalten, es auch wirklich ist.
Das ist alles wahr, Herr Hauptpastor; das ist alles wahr. Wenn nur bei der löblichen Bescheidenheit und Vorsicht des Ungenannten, nicht so viel Zuversicht auf seinen Erweis, nicht so viel Verachtung des gemeinen Mannes, nicht so viel Mißtrauen auf sein Zeitalter zum Grunde läge! Wenn er nur, zu Folge dieser Gesinnungen, seine Handschrift lieber vernichtet, als zum Gebrauche verständiger Freunde hätte liegen bleiben lassen! – Oder meinen Sie auch, Herr Hauptpastor, daß es gleich viel ist, was die Verständigen im Verborgenen glauben; wenn nur der Pöbel, der liebe Pöbel fein in dem Gleise bleibt, in welchem allein, ihn die Geistlichen zu leiten verstehen? Meinen Sie?[249]
Buchempfehlung
Nachdem Christian Reuter 1694 von seiner Vermieterin auf die Straße gesetzt wird weil er die Miete nicht bezahlt hat, schreibt er eine Karikatur über den kleinbürgerlichen Lebensstil der Wirtin vom »Göldenen Maulaffen«, die einen Studenten vor die Tür setzt, der seine Miete nicht bezahlt.
40 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro