Zwölftes Kapitel

[208] Mein Vater hatte die Absicht, mich bis zum Ende meines vierzehnten Jahres in der Schule, und damit volle drei Jahre in der ersten Klasse zu lassen, was sonst nicht üblich war. Man wußte aber nicht recht, wie man mich, wenn ich früher die Schule verließe, angemessen beschäftigen sollte, und da Herr Ulrich mir und einer meiner Mitschülerinnen, bei dem früher erwähnten vortrefflichen Sprachlehrer Herrn Motherby, innerhalb der Schulstunden noch einen besondern Unterricht im Französischen, namentlich in der Conversation ertheilen ließ, und ich inzwischen auch eine große Lust zu feinen Handarbeiten bekommen hatte, die wir in der Schule erlernten, so war es gewiß das Beste, mich ruhig an den Repetitionen der Klasse meinen Theil nehmen zu lassen, während ich dabei noch Handarbeit und Französisch lernte, und die allgemeine Förderung genoß, welche der Unterricht des Herrn von Tippelskirch uns gewährte.

Aber schon nach Ablauf des zweiten Jahres verbreitete sich das Gerücht, Herr Ulrich werde die Schule aufgeben. Man sagte, die ungünstigen Handelsjahre hätten Königsbergs Wohlstand heruntergebracht, die Kaufmannsfamilien[208] wären nicht mehr im Stande, die hohen Schul- und Pensionsgelder zu zahlen, an wel che Herr Ulrich gewöhnt war, und die er thatsächlich auch zur Erhaltung der Anstalt in seiner Weise brauchte; dazu hätten sich die Gymnasien und die städtische Mädchenschule sehr gehoben, und das Bedürfniß einer Privatanstalt sei daher nicht mehr in der frühern Art vorhanden. Wir Schulkinder glaubten aber gar nicht an eine solche Möglichkeit, denn Alles ging in der Schule ruhig seinen Weg, bis etwa im Juli des Jahres achtzehnhundert vierundzwanzig Herr Ulrich den Eltern seiner Schüler die Anzeige zugehen ließ, daß er mit dem Schluß des Sommersemesters, also Mitte September, seine Anstalt auflösen, und selbst nach Memel übersiedeln werde, wo man ihn zur Begründung eines neuen Instituts für Mädchenerziehung aufgefordert habe.

Ich war wie aus den Wolken gefallen bei dieser Nachricht. Der Untergang der preußischen Monarchie hätte mir lange nicht den erschreckenden Eindruck hervorgebracht, als der Untergang unserer, meiner Schule. Mein ganzes Denken und Sein war mit ihr verknüpft, ich konnte mir kaum eine Vorstellung von dem Zustande machen, der für mich mit dem Austritt aus der Schule anheben mußte, und es war mir, als thue sich eine Wüste, als thue sich die unendliche Ferne vor mir auf, wenn ich mir die Tage und Monate und Jahre ohne mein gewohntes Streben, ohne meine gewohnte Beschäftigung auszumalen versuchte.

Sonst, wenn meine älteren Mitschülerinnen von der Klasse aus den Konfirmandenunterricht besuchten, und dann die Schule verließen, um als erwachsene Mädchen[209] zu Hause in ihren Familien zu bleiben, hatte ich mir wohl auch gewünscht, erwachsen zu sein, und gemeint, auf Ostern nächsten Jahres, nach meinem vierzehnten Geburtstag, da würde es sich mit dem Erwachsensein für mich schon finden, wenngleich die andern Mädchen erst ein Paar Jahre später dazu gelangt waren. Aber nun mitten im Schuljahr, so viele Monate vor meinem vierzehnten Geburtstag, konnte das Alles gar nicht gehen; und es waren vielleicht nur wenig Kinder in der Anstalt, welche den Entschluß des Direktors, so wie ich, als ein wirkliches Unglück für sich betrachteten.

Die Paar Wochen bis zum Schluß der Schule vergingen wie im Fluge. Der Lehrer wie der Schüler hatte sich ein erhöhter Eifer bemächtigt, und ohne zu wissen, wie uns eigentlich geschehen war, standen wir plötzlich an dem Trennungstage, zu welchem eine kleine Feierlichkeit veranstaltet worden war. Es wurde ein kurzer Gottesdienst von dem Prediger Ebel gehalten, ich und eine meiner Mitschülerinnen überreichten dem scheidenden Direktor ein Paar silberne Fruchtkörbe, wozu wir einige, von Ebel für uns aufgesetzte, ziemlich geschmacklose Worte hersagten. Herr Ulrich entließ uns mit einer aus dem Herzen kommenden Ansprache, die uns auf das Tiefste erschütterte, weil er selbst tief erschüttert war; Lehrer und Schüler, Alles weinte, Alles umarmte einander, Alles nahm Abschied, und ich kam traurig und in Thränen nach Hause. Ich wußte nicht, wie ich ohne Herrn Ulrich, und namentlich ohne den von mir so verehrten Herrn von Tippelskirch würde leben können.

Mit einem nicht zu beschreibenden Gefühle der Verlassenheit[210] und der Vereinsamung packte ich meine Hefte und Bücher in mein Schränkchen ein. Ich nahm Abschied von jedem Blatte, das ich aus der Hand legte, und eine Stimme in meinem Innern, die mir immer wieder die Thränen in die Augen lockte, sagte mir fortdauernd: jetzt ist Deine glückliche Kindheit vorbei! – Ich kam mir ununterrichtet, unfertig vor, wie nie zuvor, ich las die Unterschriften unter meinen ältesten Arbeiten, als stecke die größte Weisheit darin, ich holte alle Paar Stunden mein Stammbuch hervor, um mich an den Zeilen zu erfreuen, welche meine Lehrer mir eingeschrieben hatten, und mit einemmale, am zweiten, dritten Tage, nachdem ich die Schule verlassen, kam mir aus dem Erinnerungsblatte, welches Herr Motherby mir gegeben hatte, ein Gedanke, und damit auch ein Trost. Es lautete: Tâcher de défaire notre esprit de l'erreur, notre coeur de l'égoisme, voilà la grande tâche de notre vie, voilà le but de toute éducation; de cette éducation de nous même, qui commence quand nos instituteurs nous quittent, quand la main de ceux qui ont veillé sur notre enfance ne nous guide plus!

Ich wollte das befolgen, ich wollte an mir selber arbeiten, und vor Allem: ich wollte den Egoismus ablegen, mit welchem ich die beiden Tage hindurch mich immer nur gefragt hatte, was ich denn jetzt beginnen solle? – statt mich an das Nächste zu halten und im Hause nachzuhören, wo ich helfen und der Mutter nützlich werden könne. Je weniger diese Art der Dienstleistung mir selbst genehm sei, um so besser! Das sollte[211] der erste Akt der Selbstüberwindung werden, von welcher Herr Motherby gesprochen hatte, und da die Jugend opferfreudig ist, fand ich eine Beruhigung in meinem gefaßten Vorsatze.

Die Eltern hatten übrigens meinen Austritt aus der Schule, grade so wie ich, als einen Lebensabschnitt angesehen. Sie hatten mir gesagt, ich sei jetzt kein Kind mehr, und da ich bisher alle meine Zeit ausschließlich für mich verwendet, so sei es nun doppelt meine Pflicht, sie für Andere zu verwerthen. Ich war auch sehr bereit dazu, nur daß Niemand recht wußte, was ich eigentlich thun sollte. Die Paar kleinen Geschäfte, welche meine Mutter mir übertrug, füllten den Tag nicht aus. In den häuslichen Handarbeiten besaß ich noch nicht jene Gewandtheit, welche sie für den Haushalt ersprießlich macht, denn ich arbeitete noch ängstlich und langsam; das, was also zuerst in Angriff genommen werden sollte, war natürlich wieder die Musik, und da ich immer darüber klagte, daß ich nicht verstände, was ich spielte, daß ich von der Musik die Regeln kennen möchte, wie ich sie von den Sprachen kenne, so erhielt ich die Erlaubniß, an einem Musikunterricht Theil zu nehmen, welcher von einem Herrn von Zivet nach Logier's Methode in einer Art Musikschule ertheilt wurde. Ich hatte gehofft, dabei Generalbaß zu lernen, es hatte aber, was ich hier gleich bemerken will, mit der ganzen Schule nicht viel auf sich, und nachdem ich sie den Winter hindurch zweimal in der Woche besucht hatte, wurde die Sache aufgegeben. Die ganze Schule löste sich auch bald nachher wieder auf, und der Lehrer entfernte sich plötzlich, wie er gekommen war.[212]

Die ersten Paar Wochen, nach dem Verlassen der Schule, gingen mit allerlei Versuchsbeschäftigungen hin. Die Mutter wußte mich nicht recht zu verwenden, ich trieb mich also ziemlich planlos in den Stuben umher, bis ich irgend ein Buch erwischte und mich in einen Winkel hinsetzte, um zu lesen. Das lag jedoch gar nicht in meines Vaters Absichten, und eines schönen Morgens, kurz vor dem ersten Oktober, überraschte er mich mit folgendem, von ihm selbst aufgesetzten Stundenplan, den ich seitdem oft mit lächeln der Rührung betrachtet habe und den ich der Originalität wegen hersetze:


Stundenzettel

für

Fanny Marcus,

entworfen Ende September, gültig bis zur veränderten Jahreszeit und bis andere Lehrstunden eintreten.

Allgemeine Bestimmung:


Des Morgens wird spätestens um 7 Uhr aufgestanden, damit um 71/2 Uhr das Ankleiden völlig beendet sei.


Montag


von 8 – 9 Uhr Clavierstunde. Uebung

neuer Stücke.

" 9 – 12 " Handarbeit, gewöhnliches

Nähen und Stricken.

" 12 – 1 " Nachlesen der alten

Lehrbücher, als: Französisch,

Geographie, Geschichte,

Deutsch, Grammatik u.s.w.

" 1 – 21/2 " Erholung und Mittagessen.

" 21/2 – 5 " Handarbeit gleich oben.

" 5 – 6 " Clavierstunde bei Herrn

Thomas.

" 6 – 7 "Schreibeübung.


Dienstag


" 8 – 9 " Uebung neuer Clavierstücke.

" 9 – 10 " Häusliche Handarbeit.

" 10 – 12 " Unterricht im Generalbaß.[213]

von 12 – 1 Uhr gleich Montag.

" 1 – 21/2 " dito.

" 21/2 – 5 " dito.

" 5 – 6 " Uebung alter Clavierstücke.

" 6 – 7 " Schreibeübung wie Montag.


Mittwoch gleich Montag; von 5–6 Uhr Uebung der alten Musikstücke am Clavier.

Donnerstag, Freitag und Sonnabend gleich den drei ersten Wochentagen.

Sonntag wird völlig der Bestimmung von Fanny anheimgestellt, mit Ausnahme der Clavierübung von 8–9 Uhr; jedoch müssen die wöchentlich unnöthig versäumten Lektionen nachgeholt, und die Stunden, welche am Clavier durch Ausgehen oder durch Besuche versäumt worden, genau ersetzt werden.

Fanny wird durch pünktliche Erfüllung dieses Stundenzettels und durch sonstiges gutes Betragen sich bemühen, ihren Eltern den Beweis zu geben, daß sie würdig sei, noch anderweitigen Unterricht zu erhalten, und von ihrem Vater für ihre Erholungsstunden gute Lesebücher zu bekommen.

Besuch außer dem Hause wird wöchentlich einmal, und nur ausnahmsweise zweimal stattfinden.


Diese Anordnung mit ihrer befehlenden Kürze er schien mir weder auffallend, noch hart. Ich war von Kindheit auf an eine sehr bestimmte Zeiteintheilung und Zucht gewöhnt, und ich bin gewiß, daß der Stundenzettel meiner Mutter damals ebenso wie mir eine Erleichterung gewährte. Er nahm ihr die Sorge, was sie mich thun lassen solle, und enthob mich dem Unbehagen, das in mir durch ihre wechselnden Versuche, mich zu beschäftigen, erzeugt worden war. Aber langweilig wurde dieser Winter mir im höchsten Grade.

Fünf Stunden an jedem Tag saß ich in der Wohnstube an einem bestimmten Platz am Fenster und erlernte[214] Strümpfe zu stopfen, Wäsche auszubessern und beim Schneidern und andern Arbeiten Hand anzulegen. Zwei Stunden brachte ich am Clavier zu, eine Stunde langweilte ich mich mit dem Inhalt meiner alten Schulbücher, den ich damals von A bis Z auswendig konnte, eine andere Stunde schrieb ich Gedichte zur Uebung meiner Handschrift ab. Dazwischen ging ich Gänge aus der Küche in die Speisekammer, und aus der Wohnstube in die Kinderstube, beaufsichtigte ab und zu die drei jüngsten Geschwister, und hatte am Abende das niederschlagende Gefühl, den Tag über nichts Rechtes gethan zu haben, und einen brennenden Neid auf meine Brüder, welche ruhig in ihr Gymnasium gingen, ruhig ihre Lektionen machten, und an denen also lange nicht so viel herumerzogen werden konnte als an mir. Ihr ganzes Dasein erschien mir vornehmer als das meine, und mit der Sehnsucht nach der Schule regte sich in mir das Verlangen, womöglich Lehrerin zu werden und so zu einem Lebensberuf zu kommen, bei dem mich nicht immer der Gedanke plagte, daß ich meine Zeit unnütz hinbringen müsse.

Diese Ideen gegen meine Eltern auszusprechen hätte ich aber nicht gewagt, denn sie würden darin eine Bestätigung für die alte Ansicht meiner Mutter gefunden haben, daß mir der rechte weibliche Sinn für die Häuslichkeit und für die Familie fehle, daß ich viel mehr Verstand als Herz hätte, und daß meine Neigung für geistige Beschäftigungen ein Unglück für mich wie für sie sei. Hätte sie diese Ansicht nur wirklich festgehalten, so wäre für mich damit fertig zu werden gewesen. Indeß[215] wenn sie mir heute diese Vorwürfe gemacht hatte, so bezeigte sie morgen wieder die alte große Freude über meine Begabung und mein Wissen; und wenn mein Vater, der ihrer sonstigen Beobachtungsgabe mit Recht großes Zutrauen schenkte, nun in Folge ihres Urtheils mich mit seiner etwas gewaltthätigen Consequenz häuslich und weiblich machen wollte, so war es gerade im Gegentheil meine Mutter, die, von Mitleid bewegt, mir wieder etwas mehr Freiheit zu verschaffen suchte. Ich war wirklich in diesem Winter sehr übel daran und habe doch keinen von meinen Eltern deshalb anzuklagen, denn sie handelten Beide aus Liebe zu mir und nach ihrem besten Wissen. Meine Mutter hatte keinerlei Bewußtsein von der Eifersucht, welche sie gegen meine ganze Entwicklung fühlte, und meinem Vater lag der Gedanke, eine solche Eifersucht in der Mutter vorauszusetzen, noch viel ferner. Ja, ich selbst erkannte damals diese Schwäche meiner Mutter nicht. Ich glaubte aus allerlei unvernünftigen Gründen mich, wie schon gesagt, von ihr weniger geliebt als meine andern Geschwister, und das machte das Uebel nicht geringer. Kurzsichtig, wie man es in den Familien meist für die Ursache der Mißstände ist, welche sich unter ihren Mitgliedern entwickeln, errieth Niemand, was eigentlich meine Mutter und mich nie zu dem richtigen Verhältniß kommen ließ. Als viele Jahre später mein Vater diese Einsicht gewann, sind doch alle Uebrigen der Ansicht geblieben, daß die Schuld nur an mir gelegen habe, und Keiner hat es einsehen wollen, wie viel Unrecht, wie viel empfindliche Verletzungen ich von der Mutter, ohne ihr Wissen und Wollen, gerade in den Jahren erduldet habe,[216] in denen mein Herz noch so weich, meine Widerstandsfähigkeit so gering war, daß ich mich über Nichts mündlich auszusprechen, geschweige denn über mich Erklärungen zu machen, oder gar mich gegen irgend ein mir zugefügtes seelisches Leid zu wehren verstanden hätte. Man kann gegen die Jugend in diesem Punkte nicht vorsichtig genug sein. Sie ist verwundbarer, je empfänglicher und je wehrloser sie ist; und jede Herzensverletzung drängt sie in sich selbst zurück, gewöhnt sie an ein einsames Innenleben, das für gewisse Naturen sehr bedenklich werden kann, wenn schon es für kräftige Seelen zum Heil ausschlägt. Was es übrigens mit der Eifersucht von Eltern gegen die größere Bildung der Kinder auf sich hat – einem Mißverhältniß, das sich häufiger wiederholt, als man es gewahr wird – das habe ich später in einem meiner Romane, in den Wandlungen, an den Figuren des alten Brand und seines Sohnes poetisch darzustellen unternommen.

Aber nicht allein zu meiner Mutter, auch zu meinen Geschwistern hatte ich gerade in jenem Zeitpunkte das alte frohe Kindheitsverhältniß nicht mehr. Mädchen entwickeln sich im Allgemeinen viel früher als Knaben, ich war noch schneller als gewöhnlich vorgeschritten, und also den beiden zehn- und zwölfjährigen Brüdern, wie der achtjährigen Schwester völlig entwachsen. Im Hause machten die andern drei kleinen Schwestern der Mutter viel Noth und Arbeit, und es stand ihr ein zehntes Wochenbett bevor. Ihre Gesundheit war sehr schwach, und obschon sie trotz aller dieser Mühen und Beschwerden mir gerade in diesem Winter eine Tanzstunde arrangirte, die abwechselnd[217] bei uns und bei den Eltern der drei andern Mädchen gehalten wurde, welche den Unterricht mit mir gemeinsam nahmen, so empfand ich doch den Druck der Sorge, die auf dem Hause lastete, nur allzuschwer. Aber auch von dieser Einsicht getraute ich mir nicht zu sprechen, und ohne die zärtliche Freundschaft, welche ich damals für eine meiner frühern Mitschülerinnen hegte, wäre ich in jener Zeit wirklich recht unglücklich gewesen.

Ich hatte diese Freundin bald nach meinem Eintritt in die zweite Klasse gewonnen. Wir waren fast vier Jahre in der Schule zusammengeblieben und haben durch unsere ganze Jugend mit der größten Liebe aneinander gehangen, bis später unsere verschiedenen religiösen Ueberzeugungen uns allmählich von einander entfernten.

Mathilde war die jüngste Tochter eines Major von Derschau, und drei Jahre älter als ich. Sie hatte den Vater in ihrer ersten Kindheit verloren. Ihre Mutter, eine Frau von vortrefflichem Charakter und von einer männlichen Geradheit und Wahrhaftigkeit, hatte eine Stelle in einem der Königsberger Frauenstifte. Sie lebte von einer mäßigen Pension und von den Zinsen eines kleinen Vermögens. Auch sie hielt sich, wie ihre älteste Tochter, die ebenfalls in dem Stifte lebte und eine unserer Lehrerinnen in der Schule gewesen war, zu der Ebel'schen Gemeinde, aber eine gewisse Kernhaftigkeit ihrer Natur bewahrte sie vor der weichlichen Weise seiner übrigen Anhänger. Ihr frischer Sinn blieb mit dem Leben und mit der Außenwelt immer vorurtheilslos in Verbindung, und selbst ihre Vorliebe für die schöne Literatur, soweit[218] diese die Lieblingsdichter ihrer Jugend, Schiller, Bürger, und – Philippine Gatterer betraf, war durch ihre spätere religiöse Richtung nicht beeinträchtigt worden. Sie beschäftigte sich viel mit der Bibel und mit Erbauungsschriften, aber sie versagte es sich nicht, dann und wann einmal ihr Lieblingsstück »Kabale und Liebe« sehen zu gehen, und wenn sie auch im Gesangbuch gelesen hatte, hörte sie es gern mit an, daß wir ihr diejenigen Schiller'schen oder sonstigen Gedichte vorlasen, die unserer damaligen Entwicklung und unserm Hange für das Sentimentale und Pathetische angemessen waren.

Mathilde stand im dreizehnten Jahr, als ich sie kennen lernte. Sie hatte früher eine andere Schule besucht, und weil das Lernen damals nicht ihre stärkste Neigung war, fiel es ihr trotz ihrer glücklichen Anlagen Anfangs schwer, sich in die Disciplin und in den Ernst unserer Anstalt zu schicken. Voller Güte, voller Frohsinn, immer zum Lachen aufgelegt, machte sie mit ihrer früh entwickelten Wohlgestalt, mit ihren großen Augen, mit dem prächtigen hellbraunen Haar, das vor lauter Gelock sich in keine übliche Frisur einfangen lassen wollte, den Eindruck eines eben so reizenden als liebenswürdigen Mädchens. Ihre ganze Figur, ihre Hände und Arme waren schön, ihre Zähne, welche der lachende Mund fortwährend enthüllte, ganz unvergleichlich, und ganz im Gegensatz von mir, der von körperlichen Uebungen Nichts als das Tanzen gut gelang, war sie Meister in allen körperlichen Spielen. Es war ein Vergnügen, sie laufen, springen, Ball werfen und klettern zu sehen.

Was uns Beide eigentlich zuerst zusammengeführt,[219] war Mathildens Verlangen, Hilfe bei ihren Arbeiten zu finden. Aber wir faßten bald eine große Zärtlichkeit für einander, und kannten keine größere Freude als das Beisammensein.

Mathilde war in unserm Hause heimisch wie ich selbst, und auch ich war ganz und gar eingelebt in den kleinen Stübchen ihrer Mutter. Sie fand bei uns, so beschränkt unsere damaligen Verhältnisse waren, doch mehr Leben und Zerstreuung als zu Hause, und mir, die immerfort in einer großen Schaar von Kindern lebte, war das Alleinsein mit Mathilde und die Stille auf dem entlegenen Kirchplatz und in den kleinen Stuben ihrer Mutter etwas sehr Zusagendes. Wir arbeiteten dann an dem Tische, an welchem ihre Mutter in ihrem unwandelbaren schwarzwollenen Kleide, mit der schlichten weißen Haube, strickend neben uns saß, wir machten Zeichnungen nach der Natur, oder entschlüpften, wenn die ältere Schwester ausgegangen war, in deren Zimmer, um uns Alles mitzutheilen, was wir irgend dachten und wußten.

Alles, was wir besaßen, liebten wir zu theilen, Alles, was wir von unsern Eltern erhielten, erbaten wir uns womöglich von der gleichen Art, und da man sich in beiden Familien mit den Ausgaben auf das Nothwendigste beschränken mußte, waren unsere Wünsche gleichmäßig bescheiden. Konnten wir es verabreden, so kleideten wir uns möglichst gleich, und die ersten Verse, welche wir in meinem zwölften Jahre machten, galten eben den neuen Umwerftüchern von Bourre de Soie, welche unsere Eltern uns geschenkt hatten, und mit denen wir uns reich wie Fürsten fühlten.[220]

Ein Hauptgenuß aber war es, wenn wir am Sonnabend mit all unsern Arbeiten abschließen und dann vom Sonnabend Nachmittag bis Montag früh, je nachdem, in unserm Hause oder in der Stiftswohnung der Majorin beisammen bleiben konnten. Daß daneben im Stifte Alles so eng, daß es im Grunde dort nicht bequem war, daß wir uns für einander kleine Entbehrungen auflegen, uns miteinander behelfen mußten, das gehörte wesentlich zu dem Vergnügen dieses Beisammenseins, denn die Freundschaft der Jugend ist opferfreudig; und man sollte niemals weder über diese frühen Freundschaften, noch über die frühen Herzensneigungen der Kinder spötteln. Es erwächst dem Menschen keine seiner Eigenschaften, keine seiner Tugenden gleich auf einmal fix und fertig, gleich in ihrer Vollendung und in ihrer Kraft. Die Eigenschaften und die Tugenden wollen sich durch ihre Uebung entfalten, und wo sich in der Kindesfreundschaft nicht Ueberspannung, wo sich in der Liebe der Kinder nicht Sinnlichkeit verräth, soll man sie achten und sie gewähren lassen.

Am Sonntag, wenn ich bei Mathilde war, ging ich mit ihr und ihrer Mutter zu Ebel in die Kirche. Wir saßen dann beieinander, sangen aus demselben Gesangbuch, hörten gemeinsam die Predigt des uns vertrauten Lehrers an, und ich glaube, in jenen Tagen war ich diejenige von uns Beiden, welche dabei die meiste Erhebung fand. Im Sommer machten wir am Nachmittage mit ihrer Mutter einen Spaziergang, bei dem wir häufig das Grab einer Tochter besuchten, die als erwachsenes Mädchen gestorben war, und am Abende spielten wir[221] auf dem Bleichplatz hinter dem Stifte mit den andern im Stifte heimischen Kindern, unter denen die vier Söhne einer Justizräthin Richelot, die Alle älter waren als wir, und von denen einige sich schon in den oberen Klassen eines Gymnasiums befanden, unsere liebsten Genossen waren.

Diese Freundschaft hatte ich aus der Schule mit in das häusliche Leben hinübergenommen, und sie war, je älter wir wurden, um so fördernder für uns Beide und um so herzlicher geworden. Mathildens Frohsinn und Jugendlichkeit waren für mich eine nothwendige Ergänzung, während meine Theilnahme an ernsten Dingen, meine Lust am Lesen ihr zu Gute kamen; und wenn ich durch den Verkehr mit ihr auch noch früher, als es sonst geschehen wäre, mich zu den Erwachsenen zu zählen anfing, so war sie so anspruchslos und ihr ganzes Wesen so kerngesund, daß ich keine bessere Freundin auf der Welt hätte finden können. Alles Grübeln, alles Nachdenken waren ihr verhaßt, die Rührung lästig, und sie war eigentlich ihrer ganzen Natur nach nirgend weniger an ihrem Platze, als in ihrer nächsten Familie. Neben ihrer ernsthaften Mutter, neben ihrer auf kirchliches und auf inneres Leben gestellten Schwester nahm sie sich immer wie ein Vogel unter der Luftpumpe aus. Sie hielt sich dann ängstlich still, ihr fehlte das Lebenselement, und nur im Hause ihres Bruders, der mit einer schönen lebenslustigen Frau verheirathet war, oder in unserm Hause, athmete sie fröhlich auf.

Auch war sie bei uns der allgemeine Liebling. Meiner Mutter war ihre Natur viel verwandter als die meine,[222] mein Vater schalt sie bisweilen, wenn sie ihm zu viel und zu laut lachte, was er nicht gut leiden konnte, aber wenn sie über den Zuruf, den wir oftmals zu hören bekamen: lacht nicht so dumm! lacht nicht so viel, das ist unanständig! nur in neues Lachen ausbrach, und dies nicht zu beenden war, bis man uns zum Zimmer hinauswies, so mußte er zuletzt selbst über die Gutmüthigkeit und Kindlichkeit lachen, mit welcher das erwachsene schöne Mädchen seinen Tadel hinnahm; und Allen fehlte Etwas im Hause, wenn Mathilde einmal eine Woche nicht dagewesen war.

Nur einen Kummer trugen wir gemeinsam, den Schmerz, daß sie ohne mich zum Religionsunterricht gehen, daß sie ohne mich eingesegnet werden müsse, weil ich nicht Christin war wie sie. Dieses Bedauern theilte die Mutter auf das Lebhafteste. Tausendmal habe ich es sie aussprechen hören, wie sehr sie es bereute, aus Rücksicht auf ihre Familie, nicht zum Christenthum übergetreten zu sein, als sich ihrer Verheirathung so viel Schwierigkeiten entgegensetzten; tausendmal habe ich es sie beklagen hören, daß sie keiner Kirche, keiner Religionsgemeinde recht angehöre, und daß wir, wie sie es nannte, ohne rechte Religion aufwachsen sollten.

Sonntags, oder an den andern christlichen Feiertagen, wenn die Familien mit ihren Kindern zur Kirche gingen, that es ihr weh, daß ihr diese Erbauung fehle, und es ist mir zweifellos, daß es für unsere Mutter die größte Wohlthat gewesen sein würde, hätte der Vater sich in diesen Zeiten dazu entschlossen, zum Christenthum überzutreten. Es wäre ihrem Gemüth in dem Anlehnen an[223] eine positive Religion, in dem Aufschauen zu einer höhern Weltführung, eine Stütze und ein Halt geboten worden.

Daß sie jemals ein solches Verlangen gegen den Vater in Bezug auf sich ausgesprochen, bezweifle ich, denn die Befriedigung eines solchen geistigen Bedürfnisses bestimmt zu fordern, war ihre eigene Empfindung ihr wahrscheinlich nicht klar genug. Für uns aber äußerte sie fortdauernd den Wunsch, uns Christen werden zu lassen, den sie immer in doppelter Weise motivirte. Sie hielt es dem Vater einerseits vor, daß es traurig sei, zwischen zwei Religionen zu stehen wie wir. Von dem Judenthum wüßten wir gar Nichts, in den Schulen hätten wir christlichen Religionsunterricht empfangen, wir hätten also doch mehr Zusammenhang mit dem Christenthume, und es würde daher ein Segen für uns sein, wenn man uns anwiese, wozu wir uns zu halten hätten, denn eine Religion müsse der Mensch haben. Daneben stellte sie dem Vater vor, daß sich ganz derselbe Zwiespalt wie in religiöser Hinsicht auch für unser praktisches Leben herausstelle. Uns mit den jüdischen Familien verkehren zu lassen, wünschte sie nicht; die angesehenen christlichen Familien aber wiesen die Juden jetzt noch eben so wie vor zehn Jahren von sich zurück. Ein großer Theil der Gesellschaft und eine Menge anderer Vorzüge wären den Juden verschlossen, und der Gedanke, uns lebenslang in einer so peinlichen Lage zu wissen, wie die Juden sie erdulden müßten, werde ihr äußerst schwer. Sie sei überzeugt, daß es mich glücklich machen würde, mit Mathilde zum Religionsunterricht zu gehen, und da ohnehin des Vaters Brüder und seine Schwester in Breslau mit ihren[224] Familien längst zum Christenthume übergetreten wären, würde sie es als eine Wohlthat für uns ansehen, wenn er für die Seinen einen gleichen Weg einschlagen wollte.

Indeß ihre Wünsche drangen in diesem Augenblicke noch für keinen von uns durch. Mein Vater hatte für sich nicht das leiseste Bedürfniß nach einer religiösen Erhebung oder nach einer kirchlichen Gemeinschaft; an den geselligen Verbindungen, die sich ihm nicht öffneten, war ihm selbst gar Nichts gelegen; er hielt obenein seinen Uebertritt zum Christenthum, falls er sich der Mutter zu Liebe zu einem solchen hätte bequemen wollen, seinen geschäftlichen Beziehungen, die ihn beständig mit den strenggläubigen polnischen Juden in Verbindung brachten, für nachtheilig, und es blieb uns also vorläufig noch überlassen, mit unserm Glauben und mit unsern religiösen Bedürfnissen fertig zu werden, wie wir wollten und konnten.

Im Hause kam von Religion äußerst wenig an uns heran. Wir beteten Abends aus Gewohnheit das Vaterunser und damit war es abgethan. Religiöse Gespräche wies mein Vater, wenn hie und da die Rede sich darauf lenkte, meist mit dem Bemerken von sich, daß derlei sich in der flüchtigen Unterhaltung nicht abthun lasse und kein Gegenstand für gesellschaftliche Besprechung sei. Kam es aber doch einmal zu Erörterungen über das Wesen des Menschen, oder gar über die Unsterblichkeit der Seele, so machte auch diesen der Vater meist mit der Bemerkung ein Ende, daß es unfruchtbar sei, den Sinn auf Dinge zu richten, von denen wir Nichts wissen könnten, und thöricht, sich Vorstellungen von einem Zustande machen[225] zu wollen, der dann eintreten sollte, wenn alle Fähigkeiten, mit denen wir jetzt wahrnehmen und urtheilen, erloschen sein würden. Jeden Augenblick, den man den Spekulationen über das Jenseits zuwende, entziehe man dem Diesseits. Ein »Hab' ich« sei aber tausendmal mehr werth als zwei »Hätt' ich«, und da das Thun ein für allemal die Hauptsache sei, so müsse man das Rechte und das Seinige thun und sich weiter um das Jenseits nicht kümmern. In seinen Thaten habe der Mensch seine geistige Unsterblichkeit, in seinen Kindern seine irdische Unsterblichkeit. Das alte Testament wisse Nichts von dem Glauben an eine Fortdauer nach dem Tode, und deshalb hielten die Juden so sehr darauf, sich früh zu verheirathen und eine Nachkommenschaft zu haben, in der sie und ihr Gedächtniß über ihren Tod hinaus lebendig blieben.

Neben dieser rationellen und praktischen Auffassung von dem Wesen des Menschen und von der Unsterblichkeit, die mir sehr einleuchtete, hatte sich aber in mir eine eigene religiöse Welt ausgebildet; denn wenn mir auch die Anschauungsweise meines Vaters verständlich und angemessen war, so ließ sie eine Seite in meinem Gemüthe leer, die in dem Christenthum ihre Nahrung fand.

Die großen Lehren von der Liebe und von der Selbstverläugnung, welche das Christenthum in sich trägt, begeisterten mich, und der Ebel'sche Religionsunterricht sowohl, als der mehrjährige Unterricht des Herrn von Tippelskirch hatten in mir das Verlangen nach einem Ideal erzeugt, für das ich eine Gestalt zu haben begehrte.[226] Weder die historischen Figuren des Alterthums, noch die der neuen Geschichte, boten mir was ich bedurfte. Ich konnte die Thaten, die Seelenstärke, die Großmuth, die Hingebung einzelner Helden bewundern, indeß sie Alle verkörperten mir die ideale Liebe, das Streben nach Selbstvollendung nicht, nach denen ich trachtete, und hätten meine Lehrer mich nicht schon früher auf Christus hingewiesen, so würde mein jetziger Umgang mit der Familie von Derschau hingereicht haben, mir Christus den All-Liebenden, der sich für die Menschen geopfert hat, zum Ideale zu erheben.

Es war aber nicht der Gottessohn, den ich verehrte, denn an das Dogma von dem eingebornen Sohne Gottes hatte ich von jeher eben so wenig zu glauben vermocht, als an die Menschwerdung der griechischen Götter, sondern es war der Mensch Jesus Christus, der meinem Volke entsprossene Befreier, der historische Christus, den ich verehrte und dem ich nachstrebte, ohne daß ich damals diese Bezeichnung gekannt, oder von den über diese Auffassung obwaltenden Streitigkeiten Etwas gewußt hätte. Auf dem Boden jedoch, auf dem ich lebte, in den Verhältnissen, in denen ich aufwuchs, gehörten weder ein besonderer Scharfsinn noch eine besondere Divinationsgabe dazu, um zu einer Anschauung zu kommen, welche ohnehin in der Zeit lag.

Da ich von früh auf gewöhnt worden war, meine Vernunft zu brauchen, war ich zum urtheilslosen Glauben nicht gemacht, und je an ein Wunder geglaubt, je einen andern als einen mythologischen Eindruck von den christlichen Wundern gehabt zu haben, kann ich mich nicht[227] erinnern. Ich versuchte hie und da einmal sie mir natürlich zu denken, wenn mir das aber nicht gelang, so sagte ich mir, alle alten Völker hätten an Wunder geglaubt, und ließ es dabei, wie an etwas Abgethanem bewenden. Aber die Geschichten des alten Testaments, mit den abenteuerlichen Fahrten und Thaten seiner Völker und Helden, zogen mich lebhaft an. Die Züge der Juden durch die Wüste, die Episode von Joseph und seinen Brüdern, von Saul und David und Jonathan, die Erzählungen von Ruth, von Esther, die Pracht der Bundeslade und des Tempels von Jerusalem, der Verrath von Absalon, und die Geschichte der heldenmüthigen Makkabäer, hatten ihrer Zeit meine Phantasie lebhaft beschäftigt, bis endlich Christus den Sieg über sie Alle davon trug und mir zum Ideal erwuchs.

Diese letztere Verehrung hatte sich bei mir aber erst in bestimmter Form herausgebildet, nachdem ich die Schule verlassen hatte, und mein Trieb zum Gestaltgeben hatte sich dieser Verehrung zugesellt. Ich erinnere mich noch des Tages, an dem ich zum erstenmale darauf verfiel, mir »die Geschichte des Heilandes deutlich vorzustellen.«

Ebel hatte seine Gemeinde, einen oder zwei Tage vor Weihnachten, zu einem Nachmittagsgottesdienst in der Altstädtischen Kirche versammelt, und ich war mit der Familie von Derschau zur Kirche gegangen. Es war ein trüber Tag, Regen und Schnee wechselten miteinander ab, und noch während der Predigt fing es zu dunkeln an, so daß man den am Altar hängenden Kronleuchter anzündete, dessen Licht jedoch nur strichweise Helle verbreitete.[228] In seiner ergreifenden Weise hatte Ebel von der Geburt Christi, von diesem zweiten: »es werde Licht!« gesprochen, das über der Erde ertönt war, und da er ein Mann voller Phantasie, und in der Darstellung höchst plastisch war, hatte sich mir, deren Sinn diesem plastischen Vermögen entgegen kam, die heilige Familie, die Maria mit ihrem Kinde und dem heiligen Joseph, fast sinnlich deutlich auferbaut, wie sie in dem Stalle zu Bethlehem ihr Lager gefunden, wie das Licht erschienen in dem Dunkel, wie der Herrlichste der Menschen in der Niedrigkeit geboren worden war, und besonders hatte mich das Bild des Sterns beschäftigt, dem die Könige nachzogen aus dem fernen Morgenlande, bis er stille stand über der Stätte, an welcher ein noch hellerer Stern für die ganze Menschheit aufgegangen war.

Sehr gerührt und in mich versunken saß ich da, während zu den Tönen der Orgel das Hosiannah der Gemeinde durch die Kirche klang, und als ich den Blick einmal zu dem mir gegenüberliegenden Fenster erhob, flimmerte plötzlich ein leuchtender Stern vor meinen Augen. Daß dies nur ein Wiederschein des Lichtes vom Altare war, daß durch die trüben Scheiben der alten Kirchenfenster kein Sternschein dringen, daß an dem umwölkten Himmel kaum ein Stern hervorleuchten konnte, das fiel mir gar nicht ein. Ich faltete unwillkürlich die Hände, ich fühlte eine große freudige Bewegung in meinem Herzen, und ohne einem Menschen ein Wort davon zu sagen – denn über starke Empfindungen zu sprechen, trägt die wahrhaftige Jugend Scheu, weil ihr die Kraft und die Selbstbeherrschung dazu fehlen – hatte ich die Ueberzeugung,[229] daß erst mit diesem Tage Jesus auch für mich lebendig geworden sei.

Von da ab begannen die christlichen Feiertage für mich eine eigene Bedeutung zu gewinnen, und meine Verehrung des Heilandes bekam etwas Enthusiastisches, das seinem Heroismus und seiner Selbstverläugnung galt. Ich staunte ihn an, weil er mit der Voraussicht aller der Schrecken, die ihm bevorstanden, doch aus Pflichtgefühl hingegangen war, sie über sich zu nehmen, um der Menschheit das Beispiel der Liebe und der Opferfreudigkeit zu geben.

Vornehmlich war es die Zeit von dem Palmsonntage bis zum Pfingstfeste, an denen die Phantasie und das Gemüth sich ergötzten. Von Tag zu Tag verfolgte ich nach bestem Wissen die biblische Tradition; von Stunde zu Stunde suchte ich mir in der Zeit vom Palmsonntage bis zum Ostermorgen die Passionsgeschichte vorzustellen, und mir auszumalen, wo Christus eben jetzt gewesen sei, und was er jetzt gethan habe. Nun zog er nach Jerusalem ein, und sie breiteten Palmen auf seinen Weg und sangen Hosiannah. Nun verspotteten ihn die Juden. Nun war er auf dem Oelberge und betete. Nun genoß er mit seinen Jüngern das Abendmahl. Nun führten sie ihn vor Pontius Pilatus, und so weiter fort. Und das Alles belebte sich mir nach der Weise der wenigen Kupferstiche, die ich gesehen hatte, und es schien darüber eine Sonne, und es war in einem Lande, die beide schöner waren, als Alles, was ich kannte. – Dann kam der Charfreitag, dessen Feier in der Kirche ich nicht versäumte. Und wenn dann das Charfreitags-Evangelium verlesen wurde, in seiner ganzen tragischen Majestät, wenn die Kunde[230] von der Kanzel heruntertönte, daß der Himmel sich verfinstert und die Erde gebebt habe bei dem Tode meines Helden, so erbebte mir selbst das Herz in der Brust, und ich hatte eine stolze Genugthuung darüber, daß ihm also geschehen war, daß bei dem Untergange des edelsten der Menschen, daß bei dem Untergange eines gerechten Helden Gott die Welt erzittern lassen.

Danach wurde es am Sonnabende still in meiner Seele, bis ich mir am Ostermorgen sagen durfte: Christus ist erstanden! und damit eine volle Freude in mir erwachte.

Ich glaube, die Mysterien, welche man im Mittelalter der gläubigen Menge zur Erinnerung aufführte, können ihr nicht mehr Genügen bereitet haben, als ich mir selbst verschaffte. Alles war mir lebendig, die heiligen Gestalten waren mit mir, was auch sonst um mich her vorgehen mochte. Ich belebte mir die Scenerie mit Allem, was ich von der Bibel, von dem Orient und von der Zeit der Römer wußte. Jede Stunde war mir voller Handlung.

Es lag ein großer Genuß in dieser Anschauungsweise, in welcher sich vielleicht zuerst die mir angeborne plastische Kraft ein Genüge that, während sich zugleich die Bedeutung der historischen Gestalt des Heilandes und die erhebende Gewalt des rein historischen Christenthumes darin kund gaben. Und ich bin gewiß, daß das Christenthum nicht weniger wirksam, ja daß es in unsern Tagen auf viele junge Seelen im Gegentheil wirksamer werden würde, wenn man die dogmatischen und mythischen Elemente desselben hinter die historischen stellen, und statt für Christus göttliche Anbetung zu fordern, für ihn die höchste menschliche Verehrung der Jugend in Anspruch[231] nehmen würde. Denn es ist der Jugend leichter möglich und fördersamer, einem großen Menschen mit allen ihren Kräften nachzustreben, als sich im Glauben auf die erlösende Liebe eines schuldlos geopferten Gottes zu verlassen; auch wenn der Begriff eines sterbenden Gottes nicht dem Christenthum widerspräche, und den Erlöser der Menschheit der ganzen übrigen Reihe menschgewordener mythologischer Gestalten einverleibte, die für Gebilde der Phantasie zu halten und an die nicht zu glauben, man uns von unserer Kindheit an gewöhnt.

Später, etwa von meinem sechszehnten, siebzehnten Jahre ab, trat die Lektüre der Goethe'schen Osterfeier im Faust an die Stelle meines innerlichen Osterkultus. Ich hatte den Faust schon gelesen, als ich noch in die Schule ging, und er war mir seitdem eine Art von Lebensgefährte geworden, von dem ich mehr und mehr zu gewinnen vermochte, je nachdem ich vorwärts kam. Als dann meine Brüder heranwuchsen, haben wir durch eine lange Reihe von Jahren eine Art geistiger Frühlingsfeier darin gehabt, daß wir am Ostermorgen gemeinsam die Schlußscene des ersten Aktes vom Faust lasen, und uns das Herz erquickten an dem jubelnden: Christ ist erstanden!

Ich habe eigentlich in dieser Epoche meines Lebens die Erzählungen der Bibel überhaupt bei weitem den homerischen Erzählungen vorgezogen, an denen die Wiederkehr der Beiwörter, und auch der Ereignisse, mich ermüdeten. Dazu stießen die Schilderungen von Mord und Kampf mich ab, und ich erinnere mich, daß mein Vater mich nur mit einer Art von Zwang, indem ich täglich ein bestimmtes Pensum lesen und erzählen mußte,[232] zur Lektüre der Ilias bewegen konnte. Mein Vater wurde einmal ganz verdrießlich über die Hartnäckigkeit, mit welcher ich behauptete, es sei mir ganz gleich, ob sie dem Einen ihren Spieß durch die Zähne, oder dem Andern den Spieß durch den Leib stießen. Es würde doch Nichts weiter gethan, als gemordet, und zwar für Nichts und wider Nichts gemordet. Denn daß zwei Völker einander zerfleischten, und eine Stadt zerstört würde, nur weil eine Frau von ihrem Manne fortgelaufen, das sei unvernünftig, und dafür könne ich mich nicht begeistern. Wäre nicht hie und da eine Geschichte wie die von Hektor und Andromache, so würde die Ilias abscheulich und das Morden und Sterben, ohne eine Idee, für die die Menschen stürben, nicht zum Aushalten sein.

Mit solchen Aussprüchen, die der Vater als Eigenwilligkeiten verdammte und ohne Weiteres streng zurückwies, zog ich mir immer harten Tadel zu; und doch konnte ich sie nicht unterdrücken, denn ich empfand es ganz so, wie ich es sagte, und ich konnte keine Bewunderung erheucheln für Etwas, das meinem innersten Wesen widersprach. Es lag das wohl in meiner Abneigung gegen das Grausame überhaupt, und war ein Vorbote der Mißempfindung, welche ich später bei der Darstellung der Dante'schen Höllenqualen und aller gemalten Martyrien erlitten habe. Heute noch kostet mich der Anblick der Laokoon's-Gruppe Ueberwindung, und in Rom war es mir stets ein Trost, daß im Vatikane der Belvedere'sche Apoll sein nächster Nachbar war, bei dem ich zu verweilen pflegte, wenn meine Freunde sich in das Studium des Laokoon versenkten.[233]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 1, Berlin 1871, S. 208-234.
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