Vierzehntes Kapitel

[231] Wie musikalische Kinder sich schon früh dahindrängen, wo sie eines rhythmischen oder musikalischen Klanges theilhaftig werden können, so hatte ich von Jugend auf große Lust am Verkehr mit Menschen gehabt. Fremde Leute zu sehen, zu sprechen, hatte mir stets noch mehr Vergnügen als das Lesen gemacht. Ich behielt Physiognomien und Art und Weise der unbedeutendsten Personen in der Regel auch noch viel sicherer im Gedächtniß, als manche erhabenen Gestalten der Vergangenheit und der Poesie; denn Alles, was ich mit den Sinnen als ein Lebendiges in mich aufnehmen konnte, wurde mir völlig eigen und ging als ein Unverlierbares in meinen Besitz über.

Begegnungen, wie die mit Herrn von Holtei, Anregungen, wie man sie durch ihn empfangen hatte, versetzten mich für geraume Zeit in eine gehobene Stimmung, und die bedeutenden Eindrücke kamen uns damals in meiner Heimath noch nicht so oft und so schnell zu, daß ich nicht Zeit gehabt hätte, sie innerlich zu verarbeiten, und dasjenige ruhig auszuleben, was auf mich eingewirkt hatte.

Dazu war die ganze Epoche für Preußen noch eine ruhige. Die politische Bewegung zu Anfang des Jahrzehntes hatte unser specielles Vaterland nicht eben wesentlich[231] ergriffen, die konstitutionellen Bestrebungen und die Entwickelung des konstitutionellen Lebens in Süddeutschland blieben vorläufig ohne direkten Einfluß auf unsere Heimath. Das Verhältniß des Volkes zu dem Könige war ein rein persönliches, ja, ein ganz und gar gemüthliches. Man liebte den König und hing an ihm, wie an einem greisen Familienoberhaupte. Man hatte, wie der Volksausdruck lautete, Leid und Freude mit ihm getragen. Man erinnerte sich seiner Flucht nach Memel, seines Aufenthaltes in Königsberg, seines Schmerzes über den Tod der Königin Louise, deren Andenken wie das einer Heiligen geehrt und gefeiert wurde. Man freute sich, daß er auch mit der Fürstin Liegnitz, die er sich hatte antrauen lassen, in so guter und friedlicher Gemeinschaft lebte, und daß des Kronprinzen Ehe ebenfalls eine glückliche sei. Das Verhältniß sämmtlicher Söhne, Töchter und Schwiegerkinder zu dem königlichen Vater galt für ein musterhaftes; auch der Kaiser Nikolaus wurde in den Bereich der Familientheilnahme gezogen, mit welcher man das Königshaus umgab, und so kindlich und selbstlos war die Mehrzahl des Volkes noch, daß es sich durch das Wohlergehen und die Zufriedenheit seines Herrscherhauses geehrt, und in gewissem Sinne auch befriedigt fühlte. Die Menschen hatten ihre Freude daran, daß der König die ostpreußischen grauen Erbsen und die Muränen aus dem Nargensee noch immer gern aß. Sie rechneten es ihm hoch an, daß er die Familien nicht vergessen hatte, auf deren Landsitzen er zur Zeit seines Mißgeschickes verweilt. Die geistreichen Einfälle und Witzworte des Kronprinzen gingen von Mund zu Mund, manche[232] dreiste Aeußerung, die man selbst zu thun nicht wagte, wurde – nach dem alten Grundsatze: wer hat dem wird gegeben – dem geistreichen Königssohne in den Mund gelegt, und im Uebrigen erfuhr man nur dasjenige, was die strenge Censur in den Zeitungen und Büchern passiren zu lassen für heilsam und angemessen befand. Die völkerverbindenden Eisenbahnen, die gedankenschnellen, indiskreten Telegraphen störten den Frieden der Herrscher und die Ruhe des täglichen Lebens noch nicht. Das Reisen war noch immer zeitraubend und kostspielig, der Briefverkehr langsam, das Briefporto fünfmal so hoch als jetzt2, alle Nachrichten, welche man erhielt, waren verhältnißmäßig alt, die Ereignisse, von denen man erfuhr, immer schon vor einer Weile geschehen. Die Völker, die einzelnen Menschen wurden dadurch von einander fern gehalten, das allgemeine Interesse an dem Allgemeinen abgestumpft. Denn was uns räumlich fern liegt, hat für uns im Grunde nur die Bedeutung einer historischen Thatsache, und regt die Mitleidenschaft nicht all zu mächtig auf.

Man las allerdings in den Zeitungen, was in den französischen Kammern, was in dem englischen Parlamente geschah, die Namen der dortigen Parteihäupter fanden Parteinahme auch in Preußen, man interessirte sich für die süddeutschen Liberalen, man sah mit Genugthuung auf die Freiheitsäußerungen in der deutschen Literatur, aber man that das, der bei weitem größten Mehrzahl nach, sehr abstrakt. Man hielt sich überzeugt, auf das Beste regiert zu werden, die besten unbestechlichsten[233] Beamten, das beste Volksschulwesen, das beste Militär, und in der Landwehr den wahren Hort aller Unabhängigkeit nach Außen zu besitzen. Die Allianz mit dem Manne der ältesten Königstochter, der Prinzeß Charlotte, die russische Allianz, war ein Rückhalt, wie man ihn besser gar nicht verlangen konnte, und sich selbst zu regieren, wo man sich so gut regiert glaubte, trug man kein eigentlich Verlangen. Man wußte wohl, daß man mehr Freiheit zu fordern berechtigt sei, man klagte über manche drückenden Uebelstände und sprach gelegentlich auch von der verheißenen Verfassung; indeß wer hätte solche von dem geliebten alten Könige fordern mögen, da er sie nicht gewähren wollte. Wenn Friedrich Wilhelm der Dritte einmal todt sein würde, dann dachte man sich zu regen, dann mußten die Zustände, die man immer als ganz vortrefflich bezeichnete, freilich anders werden, aber bis dahin mußte man warten, wollte man zufrieden sein; und man sagte sich nicht, daß man sich in dieser Weise in ehrlichem Selbstbetrug auf den Tod des geliebten Königs hoffnungsvoll vertröstete.

In solchen Zeiten politischer Stille wendet sich die Neigung der Menschen, die, ihrer geselligen Natur zufolge, nach einer Gemeinsamkeit trachten, dem Theater und überhaupt dem gemeinsamen Kunstgenusse zu. Schauspieler und Virtuosen ziehen die Theilnahme auf sich, man bewundert das Talent und seine vergänglichen Leistungen, weil der Augenblick die Entwickelung von Charakteren und die Kundgebung ihrer Kraft und Thaten nicht begünstigt, und auch ich habe damals meine größten Erhebungen und meine reinsten Genüsse durch das Theater empfangen.[234]

Nicht all zu lange nachdem Herr von Holtei bei uns gewesen, kam Frau Auguste Crelinger mit ihren beiden Töchtern nach Königsberg, und durch ihren Schwager, den Rath Crelinger, natürlich auch in unser Haus. Die Töchter waren jung und hübsch, die Mutter noch immer sehr schön. Der Mutter ging der Ruf, eine große, tragische Künstlerin zu sein, voraus, den Töchtern stand das günstigste Vorurtheil zur Seite. Sie wurden als Künstlerinnen und Frauen, auf der Bühne wie in der Gesellschaft, mit der größten Zuvorkommenheit empfangen, und wußten dieselbe in jedem Betrachte zu verdienen. Frau Crelinger war, wie ich glaube, schon früher in Königsberg gewesen, denn mich will bedünken, daß meine Erinnerungen an ihr Gastspiel sich auf zwei verschiedene Epochen beziehen. Ich sah sie als Julie, als Donna Diana, als Sappho, als Gräfin Orsina, als Gräfin Terzky und in einem Raupach'schen historischen Trauerspiele. Ueberall war ihre Darstellung verständnißvoll und würdig, ihre Erscheinung schön und edel, ihre Deklamation richtig. Wo sie mit ihren Töchtern zusammen auftrat, mußte das ineinandergreifende Zusammenspiel erfreulich überraschen, die Mutter war durchweg imponirend, die beiden Mädchen oft sehr reizend und anmuthig, aber keine von allen Dreien hatte jene mit sich fortreißende Gewalt der aus dem innersten Wesen kommenden Leidenschaft und Naturwahrheit, welche dem Hörer die Freiheit des Urtheils nimmt, weil sie ihn unterjocht. Keine von ihnen hatte jene unwiderstehlichen Naturlaute und Genieblitze, welche Sophie Schröder, die einige Jahre vorher in Königsberg gewesen war, so unvergeßlich und unvergleichlich[235] machten. Frau Crelinger war bedeutend jünger als die Schröder, sie hatte vor dieser, die nie schön gewesen sein konnte, sondern klein von Gestalt, und als ich sie sah, schon sehr stark war, ihre große, vollendet edle Gestalt, ihr schönes Antlitz voraus; aber die Schröder hatte jene Zauberkraft des Genius, mit der sie sich wie ein Proteus jedesmal in das Wesen verwandelte, das sie zur Darstellung brachte. Sah man sie als Medea, als Isabella, als Königin Katharina in den Fürsten Chavansky, so konnte man sich diese Gestalten nie mehr anders als unter ihrem Bilde vorstellen. Man dachte sich dann die Medea, die Isabella, die Kaiserin Katharina nicht schön, nicht jung, aber man behielt von ihnen den Eindruck einer freien Seelengröße, einer geistigen Hoheit, und man hatte ein Widerstreben dagegen, diese Rollen jemals wieder von einer andern Schauspielerin ausgeführt zu sehen. Darin aber liegt das sichere Zeichen für das Große, für das zum Ideal vollendete in aller Kunst. Es verlangte und verlangt Niemand nach einem neuen Jupiterkopfe seit Phidias sein Jupiterideal geschaffen; es verlangt Niemand nach einer neuen Composition des Don Juan, und nicht die kleinste Abänderung oder Verzierung mag man willig ertragen, wo man einmal das Vollendete genossen hat.

Das Spiel der Crelinger war immer edel. Kein Mißton beleidigte, keine Gewaltsamkeit störte den Eindruck. Es war darin etwas Statuarisches, aber auch etwas konventionell Pathetisches und Deklamatorisches, das junge Talente reizen und verführen konnte, sich nach ihr zu bilden, und das ihren großen und nicht günstigen Einfluß auf die Berliner Bühne begründet hat. Nach[236] Sophie Schröder konnte sich nicht leicht Jemand bilden wollen, denn man mußte sie selbst sein, um die schroffen Gegensätze, welche die augenblickliche Begeisterung sie hervorrufen machte, vermittelnd zu erklären, und zur Einheit zu verbinden, und ich wüßte in Deutschland nur ihre Tochter Wilhelmine, die Schröder-Devrient, der das in gleichem Maße wie ihrer Mutter gelang.

Es war ebenfalls zu Ende der dreißiger Jahre, als diese Letztere wieder nach Preußen kam. Damals stand sie auf der Höhe ihres Ruhmes. Freilich war sie nicht mehr die sanfte Gestalt, wie in der ersten Jugend, es war jedoch nun ein Etwas in ihr, das größer war, als jene Anmuth, und das ich nicht anders als mit dem Ausdruck dämonisch zu bezeichnen weiß. Sie war über dreißig Jahre alt, war stark geworden, alle Formen ihres Kopfes und namentlich die Züge um Augen und Mund waren scharf ausgeprägt, aber sie paßten so nur noch besser zu dem großartigen Schädelbau, zu dem mächtigen Hinterkopf und zu dem prachtvollen Nacken. Ihre Schönheit war imponirend, ihre Haltung, auch wo sie sich im Freundeskreis bewegte, meist gebieterisch. Im Verkehr mit Frauen zeigte sie sich freundlich, im Verkehr mit Männern willkürlich, bald stolz herausfordernd und abstoßend, bald anziehend und im höchsten Grade zu gefallen bemüht, ja selbst die freie Benutzung äußerlichen Anreizes nicht verschmähend. Sie gefiel sich in der Wirkung, die sie auszuüben sicher war; indeß der Eindruck, den sie in jener Zeit in der Gesellschaft und als Frau auf mich machte, war kein angenehmer.

Desto herrlicher war sie auf der Bühne. Ein allgemeiner[237] Laut der Bewunderung empfing sie, als ich sie zum ersten Male wieder auf derselben erblickte. Schon drei Scenen hindurch hatte man den, in der deutschen Uebersetzung mitunter ganz sinnlosen Text der Norma, mit allem Glockenspiel Bellinischer Musik an sich vorübergehen lassen, als aus dem Dunkel des Waldes, gefolgt vom Chor der Priesterinnen, Norma hervortrat, leuchtend in dem weißen Gewande, das ihre Gestalt in langen anschmiegenden Falten umfloß, den grünen Kranz auf dem Haupte, das Beil der Opferpriesterin in ihrer Rechten. So schritt sie bis zu dem Altar im Vordergrunde; um sich schauend mit einem Blicke, der Alles verstummen machte, und sich auf das Beil stützend, intonirte sie die strafende Frage: »Wer läßt hier Aufruhrstimmen, wer Kriegesruf ertönen?«

Und so wie sie, mögen die Velleden und Thusnelden ausgesehen haben, so wie sie mußte man sich die Priesterinnen der deutschen Vorzeit denken. Alles was in dem Texte der Oper zusammenhanglos und unbegründet, ja selbst das, was jämmerlich in der Rolle des Sever erscheint, wurde durch sie nicht nur wahrscheinlich, sondern berechtigt und nothwendig. Der römische Feldherr Sever, der die Opferpriesterin Norma verführt, und dem sie zwei Söhne geboren hat, macht eine klägliche Figur mit seiner Treulosigkeit gegen Norma und mit seiner Liebe für die jugendliche Priesterin Adalgisa. Norma's Absicht, aus Rache die Söhne Severs zu ermorden, sticht bis zum Unglaublichen ab gegen ihre schwärmerische Hinneigung zu Adalgisa, als diese sich erbietet, auf Sever zu verzichten, und eben so unbegreiflich ist am Ende Norma's[238] plötzlicher Entschluß, sich als Schuldige zu bekennen und den Flammentod zu erleiden, dem sie Sever als Entweiher des Altars überantwortet.

Indeß dieser Norma gegenüber kam das Alles gar nicht in Betracht, denn sie war eine von den Frauengestalten wie Medea, von denen ein Mann hingerissen, aber nicht festgehalten werden kann, weil ihre Kraft und Gewalt erdrückend und damit erkältend und abstoßend wirken. Zum Herrschen geboren, war sie nur als Königin oder Hohenpriesterin an ihrem Platze. Mit der Hingebung an Sever hatte sie sich selbst verloren, und sie schien überall wie sich selbst entfremdet, wo sie nicht als gebietende Priesterin vor ihrem Volke stand. So tief sie den Schmerz der verlassenen Liebe ausdrückte, so rührend ihre Klage erscholl, wenn Adalgisa ihr das Bekenntniß ablegte, daß und wie Sever ihr Herz gewonnen, und sich in Norma dabei die Erinnerung an die erste Zeit der eigenen Liebe regte, so furchtbar sie erschien an dem Lager der schlafenden Söhne, die sie aus Rache tödten will, so blieb das für mich Alles hinter der Hoheit zurück, mit welcher sie im letzten Akte, Sever entgegentretend, zum Tode entschlossen, die Worte sang:


In dieser Stunde sollst Du erkennen,

Was für ein Herz Du Dein konntest nennen.

Du wolltest fliehn? Du bist bezwungen,

Treuloser Römer, Du bleibest hier!

Des Fatums Stimme, der Götter Gnade

Hat uns vereinigt am Todespfade,

Die Flammenzungen in Eins verschlungen

Theilt Deine Norma ein Grab mit Dir!


Es kann Einem wehe thun zu denken, daß eine[239] Schröder-Devrient durch Jahre und Jahre genöthigt gewesen ist, solche Trivialitäten zu singen, aber durch ihr göttliches Talent machte sie selbst diesen abgeschmackten Text zu etwas ganz Erhabenem; und man fühlte eine Genugthuung, wenn Norma sich dem unschönen Wirrsal ihres Liebesleidens durch den Tod entzog, wenn die Opferpriesterin und das beleidigte Weib zu einer Einheit gelangten, indem Norma sich und den Geliebten zugleich opferte, sich und die Götter zugleich rächte und befriedigte.

Von Wilhelmine Devrient als Sängerin zu sprechen, muß ich Andern überlassen, dazu fehlen mir die Kenntnisse, aber was sie als Darstellerin so auszeichnete, und was mir gleich damals in der Rolle der Norma so schlagend entgegentrat, das waren die Klarheit und Festigkeit, mit welcher sie den eigentlichen Gehalt einer dichterischen Gestalt erkannte und ergriff, und dann auch nur diesen allein, durch alle Abweichungen und Schattirungen der Rolle, ja selbst gegen die Irrthümer des Dichters aufrecht erhielt. Die Dichtung war ihr im Grunde nur der Stoff, ihre Schöpfung war immer frei, und da sie Opernsängerin war, immer unendlich größer als der Inhalt ihres Textes. Die Norma, wie sie gewöhnlich aufgefaßt wird, ist ein sehr geringes Motiv, nichts mehr und nichts weniger als eine verlassene Geliebte. Die Norma der Devrient aber war eine Priesterin, die es dem Manne nicht vergeben konnte, daß er sie von ihrer stolzen Höhe herabgezogen hatte. Auch ohne Severs Verrath, – das Gefühl wurde ich nicht los, – hätte diese Norma ihm und sich selbst, früher oder später den Untergang, als letzte That ihrer Freiheit und ihrer Macht[240] bereiten müssen, um sich dafür zu rächen, daß er sie vor ihrem Volke und vor ihrem eigenen Bewußtsein erniedrigt hatte.

Eben so erhaben, aber weiblicher war sie als Donna Anna im Don Juan; und wie in allen ihren Rollen stellte gleich die erste Scene, stellte gleich ihre äußere Erscheinung die Idee, welche sie sich von ihrer Aufgabe gemacht hatte, in solcher Weise fest, daß Niemand sich mehr darüber täuschen konnte, daß ein Mißverstehen ihrer Absicht kaum möglich war. Es war das etwas Charakteristisches an ihr, und eben das Zeichen ihrer großen schöpferischen Kraft. Was sie erkannt hatte, das stand gleich lebendig da. Wer sie als Norma, als Donna Anna, als Romeo, als Valentine gesehen hat, wird, wie ich glaube, das Bild ihres ersten Erscheinens in jeder dieser Rollen nie wieder vergessen, und eben dieses festgehalten haben. Andere Künstler lieben es, im Verlaufe des Stückes, an dem Gange der Entwicklung und der Ereignisse, den Charakter ihrer Rollen allmählig heraus zu gestalten. Die Devrient trat immer im vollen Besitz des Charakters auf, sie glich darin ihrer großen Mutter, sie war Donna Anna, war Romeo, war Valentine! Sie stand gleich mitten in ihrer Schöpfung und sie hatte Nichts mehr an ihrer Rolle zu erklären, wenn man sie angesehen hatte; sie hatte nur noch ihr Schicksal innerhalb der Bedingungen ihres Charakters zu erfüllen.

Als Norma eine Art von rächender Göttin, war sie als Donna Anna vollständig das Weib, das mit Wollust der Kraft des Mannes erliegt, und ihr Schmerz war nur der Wehschrei ungesättigter Liebesgluth. Gleich ihr Bestreben,[241] Don Juan festzuhalten, war voll leidenschaftlicher Liebe. Sie klammerte sich an ihn, und ihre Verzweiflung galt vor Allem seiner Flucht. Ich bin gewiß, daß sie Hoffmann's Erklärung des Don Juan gekannt hat, aber auch ohne diese, glaube ich, hätte sie die Donna Anna in seinem Sinne spielen müssen, denn diese Auffassung lag in ihrer eigensten Natur; und in keiner andern Rolle war sie so vollkommen sie selbst, als eben in der Donna Anna. Ihre Klage um den todten Vater klagte zugleich um den entflohenen und begehrten Geliebten, der den Mord des Vaters als Scheidewand zwischen ihnen aufgerichtet hatte, und als sie dann in Oktavio's Armen aus der Ohnmacht ihres Schmerzes erwacht, mußte man es ihren Worten, mußte man es dem bleichen, erschöpften Antlitz glauben, daß es für Donna Anna nur noch einen Gedanken, nur noch einen Wunsch geben könne: das Wiederfinden des Entflohenen; aber Niemand konnte glauben, daß sie ihn zu finden wünsche, um sich an ihm zu rächen. Ihr ganzes Wesen war in dieser Rolle aufgelöste Liebe, und selbst in dem Terzett mit Elvira und Oktavio, in welchem sie sich zur Entlarvung Don Juan's und zur Rache an ihm verbinden, konnte man sich des Gedankens nicht erwehren, daß Donna Anna's Worte: »Der Schritt ist voll Gefahren, ach wer wird Dich bewahren!« mehr der Sorge um Don Juan galten, als der Besorgniß um Oktavio, der neben einer solchen Donna Anna erst recht zum Schemen zusammenschrumpfte. Diese Haltung des Charakters, die sich durch die ganze Dichtung gleich treu blieb, gewann in der Schlußscene, deren Moralsprüche im Munde dieser Donna[242] Anna ohnehin befremdlich klangen, erst ihre volle Bestätigung durch ihre Bitte an Oktavio, die Hochzeit noch hinaus zu schieben. Der Wunsch: »lascia, o caro, un'ann ancora allo sfogo del mio cor!« »Ach, Geliebter, noch laß uns harren, dulden nur zwölf Monden noch!« läßt an und für sich auf keine große Zuneigung für Oktavio schließen, und wer ihn von den Lippen der Schröder-Devrient, mit dem Tone herzzerrissener Klage, mit dem Ausdruck des tiefsten Schmerzes aussprechen hörte, der konnte nicht anders als glauben, daß ihre Leidenschaft, für den in Höllenflammen untergegangenen Don Juan, sie zurückschaudern mache vor der Verbindung mit ihrem biederen, makellosen und langweiligen Verlobten. Donna Elvira war eine verlassene Geliebte, Donna Anna eine verzweifelnde Braut, ein trauerndes, untröstliches und liebendes Weib.

Fidelio, der im Allgemeinen für eine der vollendetsten Rollen der Devrient angesehen wurde, entbehrte für mich der einheitlichen Gewalt, die grade ihre Persönlichkeit allen ihren übrigen Rollen verlieh. Aber das lag in dem Stoff der Oper, nicht an der Künstlerin. Die ersten halb komisch gehaltenen Scenen bereiten nicht gut auf das Pathos vor, das folgen soll, und die Verliebtheit Marzellinens ist vollends widerwärtig, da sie einer Frau gilt. Wer nun zu den unglücklichen Opernbesuchern gehört, denen es nicht gleichgültig ist, was gesungen wird, vorausgesetzt, daß gut gesungen wird, der kann diese Abneigung gegen das Meisterwerk Beethovens nicht ungerecht finden. Ich habe mich niemals einer Mißempfindung dabei erwehren können, und der Chor der[243] abgezehrten Gefangenen und Leonorens: »Da nimm, da nimm das Brod, Du armer, Du armer Mann,« haben mir stets den Eindruck des vollkommen Häßlichen gemacht, selbst wenn die Devrient die Leonore spielte und sang, selbst wenn ihnen ihr Klageruf: »O mehr als ich ertragen kann!« mit dem Ausdruck der Herzzerrissenheit folgte, den sie in denselben zu legen wußte, und der sicher allen Denen unvergessen sein wird, die ihn von ihr gehört haben. Es ist wahr, ihr Doppelspiel war in dieser Rolle bewundernswerth; jeder Augenblick, in welchem sie sich in der heiter aufrecht erhaltenen Männerrolle der eigenen Frauenempfindung hingab, war sehr innig, ihre ganze Haltung schön, aber zu ihrer rechten Geltung kam sie erst in den großen pathetischen Scenen des letzten Aktes. Erst in dem Quartett: »Er sterbe!« erst in Leonorens Ausruf: »Zurück!« fand man die ganze Mächtigkeit der Künstlerin wieder, und aus der Figur des jugendlichen Mannes entwickelte sich nun die große Gestalt des liebenden Weibes, der Alles wagenden, todesmuthigen Gattin in ihrer vollen Erhabenheit. – Sie selbst hatte übrigens eine Vorliebe für diese Rolle und erzählte es gern, wie sehr sie Beethovens Beifall in derselben errungen hatte.

Wenn ich behauptet habe, daß das eigentlich Pathetische, das Hochtragische ihr das Angemessenste war, so gelang ihr deshalb das Liebliche nicht weniger, und die Arie aus der Euryanthe: »Glöcklein im Thale« wurde, von ihr gesungen, zu dem schönsten musikalischen Ausdruck des Frühlings, zu einem Ausdruck mädchenhafter Sehnsucht, wie sie nicht reiner, nicht zarter gedacht werden[244] konnte. Man wurde in ihrer ganzen Auffassung der Euryanthe immer an die Genoveva erinnert, und das typisch Deutsche in ihrer Erscheinung trug mit dazu bei, diese mährchenhafte Erinnerung beständig wach zu erhalten. Das Weibliche, das Unschuldige, stand ihr vollkommen zu Gebot, aber die Fülle ihrer Kraft erschien, wie gesagt, im Pathos am freiesten und am glorreichsten.

Die Rolle, welche mir, vom dramatischen Standpunkt aus, immer als ihre höchste Leistung vorgekommen ist, war Romeo, weil in derselben ihre ganze Begabung, ihre Anmuth, ihre Innigkeit und ihre Kraft gleichmäßig Gelegenheit fanden, sich zu entfalten. Auch in dieser Rolle war ihr erstes Auftreten schon ein vollständiger Sieg, und ihre Arie: »Vor Romeo's Rächer-Armen soll kein Gott, kein Gott Dich schützen!« durchzuckte das Auditorium wie eine Flamme. Sie strahlte in Schönheit, wenn sie raschen Schrittes aus der Coulisse hervortrat, die feuerrothe Schärpe über der Schulter, das schwarze Barett mit wallender Feder auf dem blonden Haar, mit blitzendem Auge, mit stolz aufgeworfenem Kopfe wie ein Gebieter sich zwischen die Kämpfenden stellend – ein jugendlicher Held in aller seiner Pracht. Ich habe nie einen Mann gesehen, der sich in der Darstellung des Romeo mit der Devrient vergleichen konnte. Aus dem elenden Operntexte, unter dem Zwange der Unwahrheit, welche die italienische Musik ihr aufnöthigte, gestaltete sie das Ideal des Shakespeare'schen Romeo rein und erhaben heraus. Sie und kein Anderer war Romeo, und wer sie in dieser Rolle gesehen, ist wirklich einer Offenbarung des Genius theilhaftig geworden.[245]

Ueberwältigend durch Kraft und Schwung, durch Feuer und Adel, wo sie den Männern im Kampfe gegenüberstand, war sie unwiderstehlich in den Scenen mit Julia. Wie sie in Julia's Zimmer eintrat, wie sie ihr Barett und ihre Handschuhe von sich warf, wie sie Julia an ihr Herz drückte, das kann das Wort nicht wiedergeben. Und wenn Julia dann ihre Weigerung, dem Geliebten zu folgen, ausgesprochen hatte, wenn Romeo sein: »Nein! nein! Du liebst mich nicht!« im Tone des schmerzlichsten Vorwurfs und doch wie ungläubig erschallen ließ, so faßte man einen Zorn gegen Julia, die diesem Romeo gegenüber schwanken konnte. Aber sein ganzer Liebeszauber kam erst zur Erscheinung, wenn Romeo sich zürnend von der Geliebten abgewendet hatte, und sich dann ihr schnell wieder nähernd, die Worte sang: »Des Geliebten Glück und Leben sind in Deine Hand gegeben!« – Es lag in diesem Tone das felsenfeste Vertrauen in Julia's Liebe, und doch wieder die schmeichelnde Bitte, der es eine Wonne ist zu fordern, was gewährt zu finden ihr als ein immer neues Glück erscheint; es lag die höchste Liebesschönheit in und über diesen Worten Romeo's, und noch heute, während ich dies niederschreibe, höre ich sie mit ihrem vollen Zauber in mir erklingen.

Wie die reine Tragödie des letzten Aktes von Romeo und Julia ihr gelang, bedarf der Erwähnung kaum, aber es wird Niemand, der es gesehen, das Bild vergessen haben, das die Devrient darbot, wenn sie sterbend Julia's Kopf in ihre Hand nahm, und mit bleicher Lippe die letzten Küsse auf das Haupt der Geliebten drückte. Jede Bewegung, jede Miene war vollendet schön, jeder Ton[246] voll erschütternder Wahrheit – und all diese Poesie ist dahingegangen mit ihr!

Schon in jener Zeit hörte ich sie in der Gesellschaft Lieder singen, und schon damals waren es vorzüglich Schubert'sche und Mendelssohn'sche Compositionen, welche sie vorzutragen liebte. Der »Wanderer,« dessen Text ein wahres Wunder von leeren Redensarten ist, der Erlkönig, die Forelle, dann das Berger'sche Lied vom blauen Veilchen, kamen fast immer an die Reihe, und schon damals machte man ihr den Vorwurf, daß sie das Lied zu dramatisch behandle. Man vergaß dabei aber, daß sie nicht anders konnte, daß Alles, was sich irgend zur lebendigen Gestaltung eignete, ihr unter der Hand selbstständiges Leben gewann. Sie glich darin dem verzauberten Mädchen, unter dessen Berührung sich Alles auch wider seinen Willen in Gold verwandeln muß.

In den vierziger Jahren sah ich sie dann hier in Berlin zum letzten Male auf der Bühne als Valentine in den Hugenotten, und das war denn auch wieder recht eigentlich eine Rolle für sie. Die großen Scenen mit Raoul im vierten und fünften Akte gaben ihr Gelegenheit, ihre ganzen Mittel zu entfalten, und das Herz erbebte Einem in der Brust, wenn sie ausrief: »Nein, bei Gott, Du darfst diese Schwelle, darfst sie nicht überschreiten! Fest an Dich klammre ich mich an!« – Wenn man sie knieend den Geliebten um den Tod von seiner Hand anflehen hörte, da er es verweigerte, sich um ihretwillen dem sichern Untergange zu entziehen, fühlte man, daß hier ein Höchstes an Leidenschaft dargestellt und in voller Schönheit dargestellt wurde. Ich habe später die[247] Grisi, die eine große Künstlerin und eine mächtige Natur ist, als Valentine gesehen, aber auch hierin ist die Devrient mir als ein Ideal er schienen, und die todesmuthige Entschlossenheit, mit welcher sie im letzten Momente mit den Worten: »Hugenotten, auch wir!« den Mörderschaaren entgegenschritt, kann Niemand erhabener ausdrücken, als sie es that.

Ich habe bei den Erinnerungen an diese verschiedenen rhetorischen und theatralischen Leistungen mich so lange verweilt, um in gewissem Sinn eine Pflicht der Dankbarkeit abzutragen. Der ausübende Künstler, der Lektor, der Musiker, der Sänger und der Schauspieler haben keine andere irdische Unsterblichkeit als diejenige, welche die Erinnerung ihrer Zeitgenossen von ihnen aufbewahrt. Den Maler, den Bildhauer, den Dichter und den Componisten überdauern seine Werke. Sie reden von ihm, sie schaffen ihm Ehre und Liebe über seinen Tod hinaus, und oftmals in höherem Grade, als sie ihm zu Theil wurden, während er noch auf der Erde wandelte. Was der Schauspieler in feuriger Begeisterung erschafft, stirbt mit dem Augenblicke, welcher es erzeugte, und nur in der Wirkung, welche er auf Andere ausübt, wird ihm selbst die Möglichkeit zu Theil, sich von dem Gelingen seines Werkes zu überzeugen, sich an dem Gelungenen zu erfreuen. In diesem Sinne ist die Schauspielkunst die idealste aller Künste, sie ist losgelöst von Vergangenheit und Zukunft, ein Leben, Schaffen und Vergehen im Moment; eine gewaltige Herrscherin über den Augenblick, und völlig ohnmächtig, wenn er verrauscht ist. Wie sollten also Diejenigen, welchen es gegeben ist, Großes in dieser Kunst[248] zu leisten, nicht ein gesteigertes Leben führen? Wie sollten sie nicht Erregungen und Entmuthigungen empfinden, die weit hinausgehen über das Maß des Gewöhnlichen? Und wie könnte oder dürfte man den Versuch unterlassen, im Worte, in dem bleibenden Worte, wenigstens den Schattenriß des Schönen und Erhabenen festzuhalten und für eine spätere Nachwelt aufzubewahren, an dem eine ganze Generation sich erfreut und erhoben hat?

Meine persönliche nähere Bekanntschaft mit Wilhelmine Devrient gehört einer spätern Zeit an. Damals in Königsberg erfreuten mich das stolze Selbstgefühl, mit dem sie von sich selber sprach, und die Ehrlichkeit, mit welcher sie sich über alle die mit ihr gleichzeitigen Opernsängerinnen stellte. »Ich bin von Gottes Gnade!« sagte sie einmal. »Es ist mir viel gegeben und ich habe gut damit gewuchert. Die nach mir kommen, werden Noth haben, mich vergessen zu machen.«

Der Stolz stand ihr prachtvoll an. Schmucklos wie sie ihr schönes Haar beständig trug, sah man doch das Diadem auf ihrem Haupte, und sie hatte recht mit ihrem Worte: »Ich kann keine Coiffüren tragen! Der Kopf ist nur für den grünen Kranz und für das Diadem gemacht!«[249]

2

Diese Aufzeichnungen sind zu Anfang des Jahres 1860 geschrieben.

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 2, Berlin 1871, S. 231-250.
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