Sechstes Kapitel

[99] Ich fühlte mich sehr wohl in dem Hause meines Onkels. Er und seine Frau hatten Freude an mir und ließen mich gewähren. Was die Tante und Großtante hie und da an mir zu tadeln fanden, wurde mir freundlich verwiesen, und da die Töchter des Hauses noch halbe Kinder und ich das einzige junge Mädchen in dem Kreise war, so wurde mir von den Männern, welche das Haus besuchten, viel Achtsamkeit und Freundlichkeit zu Theil. Mein Selbstgefühl erstarkte daran, und ich kam mir bald mit meinem täglichen Zuwachs an literarischer Kenntniß so reich vor, daß ich wie ein ächter Emporkömmling beständig mit den Goldstücken klimperte, welche in meiner Tasche zu haben mir noch neu war. Mein glückliches Gedächtniß eignete sich alles Gelesene ohne Mühe an, ich hatte Citate im Ueberfluß im Kopfe, ich kombinirte schnell, und da Einer von den Hausfreunden sich in unaufhörlichen Citaten gefiel und ein Anderer gern mit Witzworten um sich warf, so machte ich Beides nach besten Kräften nach, und genoß dabei weniger ein eigentliches Wohlgefallen an mir selbst, als das unbeschreibliche Vergnügen, thun und sagen zu können, was ich wollte. Ich war wie ein in strenger Zucht aufgewachsener Schüler,[99] der bei dem Uebergange auf die Universität in der Uebertreibung seine Freiheit darthun zu müssen meint.

Wie ich den Freunden meines Onkels erschien, das weiß ich nicht zu sagen; ich selber schwankte in meiner Ansicht von mir selbst. Bisweilen hielt ich mir vor, was mein Vater dazu denken würde, wenn er mein maßloses Lesen kennte, oder wie er mich tadeln würde, wenn er hörte, wie entschieden ich über Dinge urtheilte, die ich nicht genugsam verstand. Aber das währte niemals lange. Ich fand mich immer bald wieder mit meiner richtigen Erkenntniß ab, indem ich mir sagte, mein Vater sei es ja grade gewesen, der mich gegen meinen Wunsch von sich entfernt und mich meinem Onkel, oder vielmehr mir selber überlassen habe. Damit habe er mir meine Freiheit gegeben, mich mündig gesprochen, und ich sei jetzt eben mein eigener Herr, und könne lesen und sprechen, thun und lassen was ich wolle, vorausgesetzt, daß ich wöchentlich meine zwei unerläßlichen Clavierstunden nähme und täglich meine Stunde übte.

Denn kaum hatten wir uns in Breslau wieder eingerichtet, als ich von meinem Vater den Befehl erhielt, nun gleich wieder meine musikalischen Studien zu beginnen, und der Musikmeister der Lewald'schen Kinder wurde auch für mich engagirt. Herr Freudenberg war nach dem Urtheil der Sachverständigen ein in musikalischer Beziehung gründlich gebildeter Mann und hatte, wie ich glaube, an einer Kirche eine Organistenstelle. Seine große, magere Gestalt, sein gelbes Haar, seine äußere Unbehilflichkeit, sein altmodischer gelbbrauner Frack und seine seelenvollen Augen machten ihn zu einer besonderen Erscheinung.[100] Die Musik war ihm ein Ideal, ein Göttliches, das er am liebsten nur für sich ganz allein, oder mit einigen Auserwählten in stiller Andacht genossen hätte. Virtuosen und Concerte sah er – und nicht mit Unrecht – im Allgemeinen als Gräuel, ja als eine Art von Unsittlichkeit an; und ich beklage in der Erinnerung den armen Organisten, der eine wahrhaft Jean Paul'sche Figur war, wenn ich bedenke, daß er verdammt war, mich und die völlig unmusikalischen Kinder meines Onkels zu unterrichten.

Es war nun freilich mit dem Unterrichten und mit den Stunden und dem Ueben lange nicht so schlimm und so ernst gemeint als zu Hause, und ich sah zu, wie ich mich und meinen Lehrer aus der Noth zog. Ich hatte meinen Unterricht in dem Zimmer der Großtante, in welchem sich auch ein Instrument befand. Uebte ich, so schwatzte ich dabei mit der guten alten Frau, die immer über Kopfweh klagte, sobald man musizirte, und froh war, wenn sie mir sagen konnte, daß meine Uebungsstunde um sei. Kam mein Lehrer, so sprachen wir viel von Musik, wobei ich mehr Vortheil hatte, als bei dem Spielen, und wobei ich ihn geflissentlich festzuhalten suchte. Gingen die praktischen musikalischen Studien an – ich mußte meist Fugen spielen, die ich damals gar nicht verstand – so korrigirte er mein Spiel und lobte meine schönen Hände und Arme, und meine Großtante benutzte die Gelegenheit, ihm von ihrer Jugendfreundin, der Baronin Eskeles, zu erzählen, die viel schönere Hände und Arme gehabt hätte als ich, und wundervoll anzusehen gewesen sei, wenn sie die Harfe gespielt. Dazwischen[101] machten wir gelegentlich wieder ein wenig Musik, das heißt, der Lehrer spielte die Fuge, die unter seinen Händen freilich ganz etwas Anderes wurde, als unter den meinen, und die Großtante schalt ihn, weil er grade in der Zeit, am Tage nach der Entbindung seiner Frau, um derselben eine angenehme Ueberraschung und eine Freude zu bereiten, vor der Thüre ihrer Wochenstube mit seinen Freunden einige Quartette aufgeführt hatte. Er behauptete und betheuerte aber, daß einer so musikalischen Seele, wie seine Frau es sei, gute Musik nur stärkend wirken könne. Die Gesellschafterin, welche der Musikstunde ebenfalls zuhörte und bereits in die Jahre gekommen war, in welchen weibliche und gefühlvolle Herzen, wenn sie in der Welt allein stehen, das Loos der Frauen beklagenswerth finden und für seelische Genüsse und Musik schwärmen, tadelte ebenfalls die Unvorsichtigkeit und Selbstsucht des Musikers, und gab doch zu, daß eine Frau zu beneiden sei, deren Mann sie an seinen geistigen Erhebungen Theil nehmen lasse. Auch dazu wurde etwas Clavier gespielt, und wenn während dessen, was in der Regel geschah, ein Besuch erschien, so mußte der arme, höchst gewissenhafte Organist die Stunde natürlich aufgeben, was er immer nur mit Widerstreben that; denn bei all seiner Phantastik war er ein Muster von einem braven Manne und einem pflichttreuen Lehrer. Er konnte nicht dafür, daß die Großtante und ich keine Freunde von Clavierstunden waren, und sie uns zu verkürzen suchten, so gut wir eben konnten.

Indeß, wie es zu gehen pflegt, ich wurde es bald müde, meine Freiheit in Uebertreibungen und durch ein[102] geschmackloses Beweisen meines Geistes zu genießen. Es lag auch im Grunde gar nicht in meiner Natur, und wäre mir meine eigene Vernunft nicht zu Hilfe gekommen, so würden das Leben im Hause meiner ältesten Tante und der Sinn, welcher in demselben herrschte, mich wohl allmählig wieder auf das rechte Maß zurückgebracht haben.

Die Gesellschaft meiner Cousinen und meiner Cousins stand mir durch ihr Alter und ihre Erziehung, durch die Art ihrer Bildung näher, als der Kreis von Männern, in dem ich mich im Hause meines Onkels bewegte. Das streng disciplinirte Familienleben sprach mich vertraut an, und bald hatte sich zwischen mir und meinen Cousinen eine Zuneigung entwickelt, die uns durch viele Jahre eng verband. Mehr aber noch als meine Cousinen gewannen meine Tante, und vor Allen mein Vetter Heinrich meine Liebe, und Einfluß auf mich und meine ganze Zukunft.

Von dem ersten Tage, an welchem ich ihn gesehen, hatte er mich innerlich beschäftigt. Er war damals nahezu siebenundzwanzig Jahre alt und, wie schon gesagt, einer der schönsten jungen Männer, die ich gekannt habe. Seine hohe, kräftige Gestalt und seine Haltung hatten einen großen Adel. Die Gesichtsbildung, die in spätern Jahren die auffallendste Aehnlichkeit mit dem Moseskopfe von Michel Angelo, dem Idealbilde des jüdischen Typus zeigte, hatte damals bei aller Kraft der Formen doch etwas Leidendes. Ueber der schönen Stirne, die von einer Fülle schwarzen, lockigen Haares umgeben war, lag ein Zug von tiefer Schwermuth, der jedoch einem Ausdruck von leuchtender Klarheit weichen konnte, wenn er heiter und frohen Muthes war; und noch in seinem Mannesalter[103] riß er Alles zum Frohsinn mit sich fort, wenn sein Gesicht heiter war und sein silberhelles Lachen ertönte. Er war ein Meister in allen männlichen Uebungen, ein guter Turner, ein guter Reiter, ein guter Schütze und vortrefflicher Schwimmer. Seine jungen Collegen und seine Vorgesetzten nannten ihn einen tüchtigen Juristen und unermüdlichen Arbeiter, seine Freunde einen treuen Freund, seine Schwestern liebten ihn mit einer Art von Stolz, und seinen Eltern und seinem Bruder war er offenbar das Licht ihrer Tage.

Auch kam jedesmal ein anderes Leben in die Familie, wenn der älteste Sohn in dem Garten anlangte, und doch sagte die Mutter mir einmal seufzend: es thut mir recht leid, daß Du Heinrich nicht früher gekannt hast. Er war ein so fröhlicher Mensch! – Auch die Schwestern betrachteten ihn immer mit einer Art von Sorge, deren Grund mir nicht recht einleuchten wollte, weil er mir heiter, geistesfrei, beständig zur Unterhaltung aufgelegt, und stets bereit schien, sich mit voller Liebe den Seinen hinzugeben. Er führte die Mutter im Garten spazieren, schaffte die kranke Schwester an den ihr zusagendsten Platz, trug seine kleine Nichte mit sich herum, so lange das Kind es verlangte, und wußte Jedem etwas Liebes zu leisten, so daß Alles, selbst die alten Dienstboten des Hauses an ihm hingen und seines Lobes voll waren.

Sein Sinn war aber entschieden ernsthaft und sein Denken groß und weitreichend. Er hatte viel gelesen, viel gelernt, und war damals in dem ganzen Kreise beinahe der Einzige, auf welchen das Blendende der damaligen literarischen Neuigkeiten keinen Eindruck machte.[104] Er brauchte gelegentlich einen Heine'schen Vers als Citat, »weil es bequem war, wie auch die unsaubere und abgegriffene Scheidemünze gelegentlich bequem sein kann,« aber er verachtete Heine's Cynismus, und verachtete ihn selbst, weil es ihm »mit dem Heiligsten nicht ernst sei.« Das Letztere machte er auch gegen Viele der andern Schriftsteller geltend, für die ich eingenommen war. »Sie thun nur so!« pflegte er zu sagen, oder: »Sie würden sich wohl hüten im Leben zu bethätigen, was sie in ihren Büchern behaupten; ich fühl's ihnen überall an, sie sind nicht aus einem Stück.« Damals kam mir das Urtheil hart vor, später hatte ich manche Gelegenheit, zu erkennen, wie richtig er gesehen und geurtheilt hatte.

Er selbst war dafür ganz aus einem Gusse, eine in sich beruhende Natur, die bewußt und unbewußt daran arbeitete, sich selbst zu vollenden. Er trug ein Ideal von Mannestüchtigkeit und Manneswürde in der Seele, dem er nachstrebte, und hatte eine Begeisterung für das Schöne, die ihn danach trachten ließ, sich selber zu einem in Schönheit lebenden Menschen zu erziehen. Dabei war ihm eine Art von Phantastik und Romantik eigenthümlich, die sich auch in seiner Vorliebe für Jean Paul und Byron kund gab, und ihn daneben einen großen Reiz in feingeplanten Scherzen und Mystificationen finden ließ, die er, wenn seine Seele frei war, mit jugendlichem Uebermuth gegen uns Alle auszuführen liebte, und deren ich Anfangs alle Arten zu erleiden hatte.

Der Verkehr zwischen mir und ihm war schon nach einigen Tagen der heiterste von der Welt. Wir kamen aneinander wie ein Paar gute Kameraden, die miteinander[105] zu ringen lieben, weil sie sich einander gewachsen glauben. Einer forderte den Andern heraus, und Jeder nahm die Ausforderung an. Die nahe Verwandtschaft enthob uns manches Zwanges; wir neckten einander von früh bis spät, man hatte in der Familie seinen Spaß daran, und selbst meine Tante fand sich dadurch häufig belustigt.

Bei all der Heiterkeit und all den Scherzen lernte ich es allmählig einsehen, daß mein Vetter nicht immer so hingebend und aufgeschlossen war. Er war vielmehr ungewöhnlich zurückhaltend im Verkehr mit Fremden, die übermüthig spielende Laune machte augenblicklich einem scharf zusammengefaßten Ernste Platz, sobald eine Unterhaltung mit Männern seine Theilnahme erregte. Sein Scharfsinn und seine unbestechliche Wahrheitsliebe traten bei allen Fragen, welche man erörterte, schlagend hervor; und wie er nachgiebig im engeren Verkehr war, wo es sich nur um seine Wünsche oder Interessen handelte, so konnte er bis auf das Aeußerste seine Meinung verfechten, und man war sicher, ihn starr und unbeugsam zu finden, sobald es einen Grundsatz oder eine Idee galt, die aufrecht zu erhalten ihm eine Sache der Ueberzeugung war. Er hatte von Natur, um es mit wenig Worten zu sagen, einen ernsten, strengen Geist und ein fröhliches, liebevolles Herz.

Mitten in seinen heitern Stunden aber überkam ihn zu Zeiten, und ohne daß man bisweilen ergründen konnte, weßhalb eben jetzt, eine plötzliche Niedergeschlagenheit. Er konnte, wenn wir eben ganz fröhlich beisammen gewesen waren, in Nachdenken versinken, es schwand dann alle Lebhaftigkeit aus seinen Mienen, und er ging unter irgend[106] einem Vorwande davon, um nach ein paar Stunden, still und ernst, aus seinem Arbeitszimmer wieder zu uns zurückzukehren.

Seine Mutter, die mit ihm gleichsam von demselben Athemzuge zu leben schien, wurde dann gewöhnlich niedergeschlagen wie ihr Sohn. Sie sah ihm mit ihrer sanften, traurigen Miene nach, wenn er sich entfernte, und blieb er lange aus, so fragte sie mit einer Stimme, der man die zärtliche Sorge anhörte: habt Ihr Heinrich nicht gesehen?

Ich habe niemals den Zug gehabt, nach den persönlichen Verhältnissen meiner Freunde zu fragen, wenn sie sich nicht gedrungen fühlten, sie mir mitzutheilen. Wer vorzeitig ein Vertrauen zu gewinnen sucht, ist mir immer wie die Kinder erschienen, welche eine Rosenknospe aufblättern und eine Rose zu gewinnen hoffen; und so war ich denn schon mehrere Wochen ein täglicher Genosse in dem Kreise meiner Tante, ehe irgend Jemand speciell des Grundes gegen mich gedacht hätte, aus welchem man die Melancholie meines Vetters herleitete, oder nur mit einer Sylbe des Duells erwähnt hätte, das ihn auf die Festung gebracht und damit in seiner juristischen Laufbahn zurückgehalten hatte.

Was ich dann endlich darüber erfuhr, war Folgendes. Heinrich Simon war nach seinem ersten juristischen Examen an das Oberlandesgericht von Brandenburg gegangen, dessen Director den Ruf genoß, sehr tüchtige Juristen heranzubilden, und unter den Räthen und jüngern Beamten des Collegiums durch sein Beispiel eine Art des geselligen Verkehrs eingeführt zu haben, die eben so der[107] weltmännischen als der juristischen Entwickelung der jungen Männer Vorschub leistete. Räthe, Assessoren und Referendarien gingen freundschaftlich miteinander um, es kam häufig zu lebhaften, außeramtlichen Erörterungen über schwierige, juristische Fragen, und in Folge eines solchen Anlasses war Heinrich Simon bei einem Diner mit einem sich unter den Gästen befindenden Justizkommissarius in einen Wortwechsel gerathen. Beide Männer hatten sich durch denselben erhitzt, der Erstere, der älter als Simon war, glaubte sich von diesem beleidigt und beauftragte den Justizkommissarius Ziegler, den nachmaligen Oberbürgermeister von Brandenburg, Simon auf Pistolen zu fordern.

Als mein Freund Ziegler, dessen schriftlichen Mittheilungen ich die näheren Umstände dieses Vorganges verdanke, welche ich mir mit seinen Worten wiederzugeben erlaube, zu Simon kam, sagte er zu diesem: »ich habe den bestimmten Auftrag, Sie auf Pistolen zu fordern. Sie wissen, daß mein Freund eine Frau und fünf Kinder hat, wissen auch, daß er, der für das Vaterland als Offizier gefochten und geblutet, die herkömmlichen Gesetze der Ehre nicht aufgeben kann und will, und Sie werden daher auch begreifen, daß nur eine genügende Erklärung von Ihrer Seite meinen traurigen Auftrag zu einem guten Ende zu führen vermag.«

»Sie fordern von mir,« fiel Simon, der mit Ziegler ebenfalls befreundet war, demselben in die Rede, »wie es scheint, eine schriftliche Ehrenerklärung.«

»Ich fordere sie nicht,« erwiderte der Cartelträger, »aber ich glaube, daß ich sie erhalten werde, weil[108] ich Ihnen den moralischen Muth zutraue, sie mir zu geben.«

»Das ist's eben,« rief Simon, »das ist's eben, daß zu dieser Erklärung deshalb so viel Muth gehört, weil Sie recht gut wissen, daß ich in dem vorliegenden Falle Nichts thun kann, als auf mich schießen lassen.«

Bei einer solchen Auffassung der Sache wurde es dem Secundanten nicht schwer, Simon's Bedenken zu beseitigen, und dieser setzte sich plötzlich an seinen Schreibtisch und sagte: »diktiren Sie.«

»Ich werde mich hüten, das zu thun,« erwiderte der Cartelträger, »da ich von Ihrem Herzen eine bessere Erklärung erhalten werde, als von meinem Diktat.« – Simon sah den vermittelnden Freund mit einem Blick voll freudiger Zustimmung an, und schrieb eine so freimüthige Ehrenerklärung nieder, wie Jener sie ihm abzufordern nie gewagt hätte.

Vierzehn Tage nach diesem Vorgange fiel der Auskultator Bode im Pistolenduell von Simon's Hand.

Simon war in Verzweiflung darüber. Sein starker Verstand und sein gesundes Gefühl ließen ihn das Duell als eine Sünde gegen den Geist der Menschlichkeit und als eine Unsittlichkeit ansehen. Und doch wäre es für ihn auch bei dem besten Willen von seiner Seite nicht möglich gewesen, dieses zweite Duell durch eine Ausgleichung zu vermeiden, ohne sich dem Vorwurf der Muthlosigkeit ausgesetzt zu sehen, den selbst um einer gerechten Sache willen zu ertragen er noch nicht die Kraft besaß. Reue und Aufregung warfen ihn auf das Krankenlager, er hatte ein Fieber zu bestehen, in dessen Phantasien[109] er beständig den Erschossenen vor sich sah, und erst als nach seiner Krankheit sein Onkel, der Geheime Ober-Justizrath Simon, den Leidenden im Gefängnisse besuchte, gelang es der Autorität des von ihm hoch verehrten Mannes, ihn über den innern Vorwurf zu beruhigen, daß er gegen sein besseres Wissen, ja gegen seine Ueberzeugung, einem Vorurtheile zu Liebe, das Leben eines Menschen geopfert habe. Und es war von jenem Zeitpunkte an, daß sich in Heinrich der feste Vorsatz entwickelte, überall für das Recht und gegen das Vorurtheil einzutreten, ein Vorsatz, den er fest und männlich bis an sein Ende durchgeführt hat.


Eines Abends, als die Tage gegen den Herbst hin schon kürzer waren, gingen mein Cousin und ich aus dem Garten hinaus, eine Strecke in das Freie spazieren. Der Tag war schon hinunter, es fing zu dunkeln an und die Luft war, wie man das im September noch häufig findet, sehr schwül und drückend, so daß wir plaudernd immer weiter vorwärts schritten, in der Hoffnung, irgendwo auf einen Punkt zu kommen, wo wir einen frischen Luftzug fänden. Wir sprachen mit behaglichem Gleichmuth von lauter heitern Dingen, als plötzlich der Ton eines fallenden Schusses an unser Ohr schlug, und Heinrich zusammenzuckte. Er führte das Gespräch noch einen Augenblick, aber sichtlich antheillos fort, verstummte danach, und sagte nach einem kurzen Schweigen: »Hast Du einmal gesehen, wie ein Schuß tödtet?« –[110] Ich antwortete nicht. Der gepreßte Ton seiner sonst so klangvollen Stimme schnürte mir das Herz zusammen. »Es ist merkwürdig genug!« fuhr er fort. »Ein Mensch in der Fülle seiner Kraft steht Dir gegenüber, Du hältst das elende todte Mordinstrument in der Hand, ein kleiner Druck, ein kaum sichtbares Aufblitzen, und ein Mensch mit all seinen Hoffnungen, mit all seinen Kräften liegt vernichtet vor Deinen Füßen.« –

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich hätte ihn gern trösten mögen, aber ich fand das Duell eben so abscheulich als er. Ich konnte Nichts thun als still weinen, es that mir so unbeschreiblich wehe, ihn unglücklich zu sehen, und ich bewunderte die Selbstbeherrschung, mit welcher er sich in der Familie, und namentlich der Mutter gegenüber, bewegte. Wir wendeten bald darauf um, und ohne weiter ein Wort zu wechseln, langten wir vor dem Garten an. Als wir uns dem Hause näherten, drückte er mir die Hand und bat: »Sprich nicht davon gegen die Mutter und vergieb, daß ich Dir den Spaziergang verdorben habe.«

Im Zimmer sah ich bei dem Lichte, daß er ungewöhnlich düster war. Auch seiner Mutter fiel es auf. Sie befragte ihn, ob er unwohl sei, er verneinte es, und hatte auch bald danach den muntern Ton wiedergefunden, in welchem er, eben weil er ihm in solchen Augenblicken nicht natürlich war, sich bis zur Ausgelassenheit steigern konnte, wenn er bemerkte, daß die Seinen an seine Heiterkeit glaubten und sich daran erfreuten. Wir blieben in einem fortwährenden Lachen über ihn. Als wir aber vom Tische aufstanden, nahm die Tante[111] mich auf die Seite. »Was fehlt dem Heinrich?« fragte sie, »er ist so überreizt.« Ich sagte, ich wisse es nicht. »Hat er Dir auf dem Spaziergange Etwas erzählt, was ihn aufgeregt hat?« fuhr sie fort. Ich verneinte auch das. Sie wendete sich mit einem stillen Seufzer von mir. Ihr Mutterauge war nie zu täuschen.

Von dem Abende an begann ich um ihn zu sorgen, und was wir sorgend beobachten, das wächst uns in das Herz. Ich freute mich, daß meine Gesellschaft ihm lieb war, ihn zerstreute. Ich glaube, auch die Tante gewann mich dadurch lieber, und ich zog auf ihren und ihrer Kinder Wunsch, ehe sie den Garten verließen, noch für ein paar Wochen ganz zu ihnen hinaus.

Das waren fröhliche Tage. Wir waren Alle jung, mein Onkel Simon hatte einen sehr heitern Sinn, der Mann der zweiten Tochter, der eben jetzt verstorbene Justizrath Heinrich Gräff, war damals ein junger, vielbeschäftigter Advokat, der, glücklich an der Seite seiner schönen und liebenswürdigen Frau, das Leben liebte, und dem die Lebhaftigkeit und die Lust an seinem Dasein aus den Augen leuchteten. Seine Freunde, eine Anzahl junger Juristen, unter denen der damalige Oberlandesgerichtsrath Wenzel, der sich später in der parlamentarischen Geschichte Preußens so ehrenvoll ausgezeichnet, ihm am nächsten stand, kamen mit ihren Frauen oftmals zum Besuch hinaus, ein paar Familien von höheren Offizieren, mit denen man bekannt geworden war, weil sie ebenfalls im Conrad'schen Garten wohnten, schlossen sich dem Kreise an, und innerhalb der Vaterstadt, innerhalb eines mäßig großen Gartens, führten wir ein Dasein,[112] wie man es sonst nur in Badeorten anzutreffen pflegte. Man sah und mied sich nach Bequemlichkeit, ernstes Gespräch und heiteres Geplauder wechselten mit einander ab, und ohne daß man es merkte, trat man sich näher und lernte man sich kennen und schätzen.

Meine Cousinen und ich faßten eine große Zärtlichkeit für einander, und die ganze Familie liebte mich, wie ich sie liebte. Zum ersten Male in meinem Leben genoß ich das Glück, mich gegen eine Frau, die ich von ganzer Seele verehrte, frei und offen aussprechen zu können. Meiner Mutter und auch meinem Vater gegenüber war das eine Unmöglichkeit für mich gewesen. Vor der Tante konnte ich mein Verlangen nach einer umfassenden Bildung kundgeben, ohne ihr selbst damit wie meiner Mutter zu nahe zu treten, oder sie zu verletzen; vor der Tante konnte ich von meinem Verlangen nach Unabhängigkeit, von meiner Lust, die Welt und die Menschen kennen zu lernen, reden, vor ihr konnte ich, ohne dafür Zurechtweisungen zu befürchten, es aussprechen, daß eine nur um der Versorgung willen geschlossene Ehe mir als eine Erniedrigung der Ehe und als eine Unsittlichkeit erscheine, zu welcher ich mich niemals hergeben würde. Ihr erzählte ich von meiner Neigung für Leopold, und sie hörte mich ruhig an. Sie wußte es sicherlich besser als ich, wie nahe ich daran war, dieser blöden ersten Liebe für immer zu vergessen. Ich gewann in meiner Tante eine Mutter und hatte in ihrem Hause durch eine lange Reihe von Jahren meine zweite Heimath.

Alle Seiten meines Wesens fanden ihre Befriedigung in diesem Theile meiner Familie. So hoch mein Vater[113] die deutsche Literatur schätzte, so sehr er die Schönheit und Erhabenheit der Dichtkunst und ihrer Werke empfand, und so viel Herz und Gefühl meine beiden Eltern besaßen, so war der Geist in meinem Vaterhause doch vorwiegend ein strenger, weil das ganze Thun und Treiben fortwährend dem Urtheil der Vernunft unterworfen wurde. In meines Vaters Gegenwart Etwas zu sagen oder zu thun, was irgendwie an Uebertreibung oder an Phantastik grenzte, wäre mir, und ich glaube uns Allen, nicht möglich gewesen. Wer sich aber in der Jugend niemals ganz gehen läßt, wer sich nicht frei und sorglos dem Reize einer augenblicklichen Stimmung überläßt, wer sich nicht die Freiheit zuerkennt, auch einmal etwas Unüberlegtes zu thun, der bleibt ewig am eigenen Gängelbande, der verliert die Fähigkeit des Aufschwunges und büßt damit einen großen Theil seiner Ursprünglichkeit und seiner Glückesfähigkeit ein.

Niemand, weder mein Onkel noch meine Tante, noch eines ihrer Kinder hatte ein poetisches Talent, aber sie waren mehr oder weniger poetische Naturen, und es war ihnen Allen jener Zug gemeinsam, das eigene Leben poetisch zu gestalten, der oft Niemandem mehr abgeht, als den Dichtern selbst. Ich habe in spätern Zeiten, als ich die Mehrzahl unserer Dichter und Schriftsteller kennen gelernt hatte, mich oftmals gefragt, wie es möglich sei, daß Menschen, die erdichtete Schicksale mit so viel Wärme und Schönheit auszustatten wußten, ihr eigenes Dasein so unschön, und oft in so strohtrockener Weise hingehen lassen konnten. Und ich habe dagegen wieder andern Personen und Familien gegenüber gestanden, und[114] gedacht: warum sind diese Menschen keine Dichter, da ihr Sein und Leben ein Kunstwerk und ein Gedicht ist? Ja es sind mir im Allgemeinen nur wenig Personen vorgekommen, bei denen ihr eigenes Leben die Wiederspiegelung und Ergänzung ihrer Schriften abgab, denn dies zu ermöglichen, dazu gehören nicht nur möglichst vollkommene Organisationen, sondern auch unabhängige Charaktere, die es nicht scheuen in der Wirklichkeit zu vertreten, was sie in der Dichtkunst als berechtigt hinstellen. Ist doch überhaupt die Zahl der Menschen, welche den Muth haben, für sich und nicht für die Meinung Anderer zu leben, sehr gering.

Diesen Muth besaß man aber in dem Hause meiner Tante, und ohne daß man darüber besonders sprach, ohne daß es Erörterungen über das Recht der Selbstbestimmung gegeben hätte, und ohne daß eine von den Töchtern meiner Tante jemals den fast zu eng begrenzten Kreis ihres Familienlebens verlassen hätte, athmete ich in ihrer Nähe eine Luft der Freiheit ein, die für mich eine belebende und befreiende war.

Im Herbste, als man in die Stadt zog, lernte ich die Familie erst recht in ihrer völligen Abgeschlossenheit, und die klösterliche Regelmäßigkeit ihrer Tage kennen. Der Onkel und mein Vetter waren durch ihre Amtsverhältnisse bestimmte Stunden außer dem Hause. Die Wohnung war nicht groß, die Zimmer lagen nahe bei einander. An die Wohnstube stieß auf einer Seite das Zimmer meines Cousins, an die andere Seite ein Schlafzimmer; des Onkels Stube lag apart. Eine der Frauen bewachte in der Schlafstube beständig[115] jene Tochter, die sich darin gefiel, die Kranke zu spielen.

Zu welcher Stunde man auch kommen mochte, es war todtenstill im Hause, weil die Kranke kein Geräusch zu hören wünschte, und immer, wann ich auch erschien, war ich sicher, die Tante mit ihrer Arbeit und mit ihrem guten schwermüthigen Gesichte, auf ihrem Platz am Fenster, nähend oder bei einem Buche, zu Hause zu finden. Klingelte es an der Außenthüre, so kannte man die Personen, welche kom men konnten, schon an ihrem Läuten, und war die Mittagsmahlzeit vorüber, war gegen Abend der Onkel in seinen Club gegangen, und der Sohn aus dem Kaffeehause heimgekehrt, in welchem er an jedem Nachmittage die Zeitungen las, so herrschte wieder dieselbe vollkommene Stille wie am Morgen.

Im Dämmerlichte ging die Tante, gewöhnlich mit Einer von uns untergefaßt, im Wohnzimmer hin und wieder, wir hörten wohl auch Heinrich in seiner Stube auf- und abgehen, und dann setzten wir uns mit unseren Arbeiten an dem Tisch vor dem Sopha hin. Ich konnte hören, wenn er den Stuhl vor seinem Arbeitstische fortschob, wenn er aufstand um Etwas zu holen, ich konnte an der Uhr in der Wohnstube die Viertelstunden abzählen, die er noch bei der Arbeit verweilen würde, bis er mit dem Schlage acht Uhr zum Abendbrode in das Zimmer trat, und es war mir solch ein Glück, ihn erwarten zu können.

Wir scherzten nicht mehr so viel mitsammen als in der ersten Zeit, aber mein ganzes Denken und Sinnen war bald nur auf ihn gerichtet. Ich konnte ihm jede[116] Stimmung von seinem edeln Gesichte ablesen, ich genoß und litt nur mit ihm, und der Antheil, die Liebe für ihn, machten mich bald sehr gleichgültig gegen die bewegte Geselligkeit, deren ich im Lewald'schen Hause theilhaftig ward, und die mich eine Zeit hindurch so lebhaft angezogen hatte.

Ich konnte mich Anfangs gar nicht darin finden, als ich es gewahrte, daß und wie sehr ich meinen Vetter liebte. Mit der Naivetät der Jugend hatte ich die Lehre von der einen Liebe, welche das ganze Herz und das ganze Leben ausfüllen sollte, als einen Glaubensartikel angenommen, und stand nun vor mir selber wie vor einem Wunder da. Ich war überrascht, froh und stolz, und auch sehr glücklich. Weil mir als halbes Kind eine schöne Liebe zu Theil geworden war, ohne daß ich sie ersehnt, meinte ich, es könne mir nicht fehlen geliebt zu werden, wo ich liebte; und weit entfernt, die erste schüchterne Jugendliebe als die schönste Blüthe unserer Natur zu erkennen, kam mir Alles, was ich in der Vergangenheit empfunden hatte, matt und blaß vor, gegen das starke, freudige Gefühl, das mich durchglühte. Es sind auch armselige Naturen, deren Liebeskraft sich in einer Jugendliebe ein für allemal erschöpft, armselig und schwach und krank, wie ein Baum, der nur einmal Blüthen und niemals Früchte tragen könnte.

Wir sahen einander fast täglich, und doch nicht so viel, daß die Entbehrung seiner Nähe mir es nicht zu einer Freude gemacht hätte, ihn immer wiederzusehen.

Wir waren im Alter nur durch sechs Jahre getrennt, hatten ähnliche Bildungsgrundlagen, und Freude Einer[117] an des Andern Wesen. Dazu fanden wir uns in der hingebenden Liebe für die Mutter zusammen, und waren doch wieder verschieden genug von einander, um durch die Gegensätze einen Anreiz zu ihrer Ausgleichung zu erhalten.

Heinrich Simon war mit siebenundzwanzig Jahren natürlich noch nicht der Mann, der später im Jahre achtzehnhundert neunundvierzig mit dem festen Bewußtsein, sich einer für den Augenblick verlorenen Sache zu opfern, die auf ihn gefallene Wahl zur Reichsregentschaft annahm, weil auszuharren in Ueberzeugungstreue ihm ein Bedürfniß geworden war; aber es lag schon damals etwas Mächtiges in seinem Wesen, das ich fühlte und das mich beherrschte.

Wie sehr ich an ihm hing, das wußte er sicherlich sehr bald, und er hätte kein Mann sein müssen, hätte ihn das nicht anziehen sollen. Ob er sich in jenem Winter jemals gefragt hat, was er für mich empfände, weiß ich nicht. Er hatte mich lieb, wie die Seinen mich liebten, er hatte Zutrauen zu der Kraft meiner Natur, wie ich zu der seinen, und er und seine Mutter hatten eine Ahnung davon, daß in mir wohl mehr vorhanden sei, als sich bis dahin entwickelt und bethätigt hatte.

»Ich würde, wenn ich Dein Vater wäre,« sagte meine Tante einmal zu mir, »Dich täglich schreiben lassen.« – »Ja! was denn?« fragte ich. – »Was Du wolltest. Dir ist es offenbar ein angebornes Bedürfniß, Dich mitzutheilen, und Du wirst Dir, das habe ich oft gesehen, in der Mittheilung selbst viel klarer.« – »Ich spreche Dir wohl zu viel?« fragte ich noch einmal. –[118] Sie lächelte. – »Ich meine nur,« entgegnete sie, »Du sagst doch nicht Alles, was Du denkst, und beim Schreiben würdest Du ruhiger und tiefer nachdenken können als beim Sprechen, und also noch mehr Vortheil davon haben.«

Ein andermal sagte mein Vetter: »Ich glaube, Du wirst im Leben viel zu leiden haben, denn mir kommt vor, als könntest Du standhaft ertragen, und solchen Naturen schenkt's das Schicksal nicht. Ich möchte wohl wissen, was aus Dir noch einmal werden wird? Ewig Tapisserie nähen und Strümpfe stopfen wirst Du gewiß nicht.« – »Ich versichere Dich, daß dies auch keinesweges mein Verlangen, sondern nur mein Loos ist!« versetzte ich. – »Hast Du nie Verse gemacht oder sonst gedichtet?« fragte er. – Ich nannte diese Frage lächerlich, und damals war meine Seele auch wirklich auf Nichts weniger gestellt, als auf ihre Bethätigung durch die Poesie.[119]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 2, Berlin 1871, S. 99-120.
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