Siebentes Kapitel

[120] Der Herbst, der Winter gingen hin, ich wußte nicht wie. Ich merkte auch kaum, daß mein ganzes Wesen sich entwickelte. Nur wenn ich die Briefe meiner Geschwister und Briefe von Mathilde erhielt, fand ich, daß ich um mehr als die Monate, welche mich von ihnen trennten, älter, daß ich reifer geworden war, und andere Anschauungen und Interessen gewonnen hatte als sie. Namentlich fiel es mir an Mathilden's Briefen auf, daß sie einen Ton der Entsagung anschlugen, der ihr sonst fremd gewesen war. Sie hatte eine Neigung zu einem jungen, charaktervollen Adeligen gehabt, die von seiner Seite warm erwiedert wurde. Sie schrieb mir davon selten, reflektirte darüber, und als ich ihr dann gegen das Frühjahr hin, es endlich nicht verbarg, welch ein Schmerz mir das Scheiden von Breslau und die Trennung von meinem Vetter sein würden, ermahnte sie mich zur Resignation, und verwies mich auf die Fügung Gottes, die Alles zu meinem Besten leiten würde.

Damit war mir aber weder geholfen noch gedient. Ich fürchtete, daß der Pietismus ihrer Familie und ihrer Umgangsgenossen Herr über sie geworden sei, nun sie in mir und meinen abweichenden Ueberzeugungen kein Gegenwicht[120] gegen denselben gehabt habe, aber ich getröstete mich der Hoffnung, sie davon zurück zu bringen, wenn ich nur erst wieder in ihrer Nähe lebte. Ich hatte die Erfahrung noch nicht gemacht, daß es viel leichter sei, einen hellen Verstand zu verdunkeln und zu verwirren, als einen verwirrten und verdunkelten Verstand wieder aufzuklären und auf sich selbst zurück zu führen. Indeß der Briefwechsel mit ihr wurde mir immer weniger tröstlich, je näher der Zeitpunkt meiner Abreise von Breslau heranrückte.

Meine Abwesenheit von Hause war von Anfang an höchstens auf ein Jahr berechnet gewesen. Der Vater schrieb mir also im Februar, daß er im März, wenn es nicht zu kalt sei, nach Schlesien kommen werde, um mich abzuholen, und ich sah es mit wahrer Angst, als im Februar die Kälte nachließ, als hier und da der Schnee von den Dächern zu fallen begann, und im März das Eis auf der Oder sich in Bewegung setzte. Mit jedem Tage wurde mir die Vorstellung schrecklicher, daß ich Heinrich nicht mehr sehen, nicht mehr in seiner Nähe leben sollte, und ich hatte Stunden, in denen ich überzeugt war, er liebe mich, weil ich fühlte, wie gern er mit mir war, wie sehr er mir vertraute. Er sprach zuweilen mit rückhaltsloser Offenheit von sich, er war weich und bewegt, ich mußte mir sagen, daß Männer seiner Art nur da, wo sie Neigung empfänden, so hingebend sein könnten. Aber solche Augenblicke währten nicht lange, er überwand sich immer bald, faßte sich wieder, und wenn er seinen alten Gleichmuth gewonnen hatte, begann für mich die Qual auf's Neue.[121]

Ab und zu, wenn wir Bücher mit einander auswechselten oder eine Verabredung zu treffen hatten, schrieben wir einander. Ein paar Wochen vor der Ankunft meines Vaters erhielt ich eines Morgens ein Billet von Heinrich. Der Anfang desselben war aus den ersten Tagen des März geschrieben und lautete:

»Ich bin sehr ärgerlich über mich, daß ich Dich gestern in so schlechter Stimmung begleitete. Aber den ganzen Tag hatte es mir verwirrend im Sinn gelegen, daß es schön wäre, wenn man einen Seitenweg aus der plattgetretenen Heerstraße des Lebens gehen dürfte, aus diesem faden Elend, diesem kläglichen, unsäglich bittern Nichts; diesem, wie der Dichter sagt, ›müden Zirkellauf voll kranker Lust, und wildem Schmerz und wimmerndem Verzagen! Ein Räthsel von Verzweiflung aufgelöst; der wüste Traum des tollgewordnen Staubes.‹ – Sei mir nicht böse deshalb, daß ich Aehnliches gestern Abend gegen Dich ausgesprochen. Es thut zu wohl, die Brust einmal lüften zu dürfen, wenn sie, um Nahestehenden nicht wehe zu thun, mit tausendfachen Banden umschnürt ist. Die Mittheilung ist schon Trost genug, sonstigen bedarf und giebt es nicht, also laß das auch abgethan sein.«

Diesen Zeilen war an dem Morgen, an welchem ich sein Billet erhielt, folgende Nachschrift hinzugefügt: »So eben hörte ich in der Wohnstube von einem an Dich zu sendenden Zettel sprechen, und es fiel mir dabei ein, daß ich Dir vor ein paar Tagen geschrieben, die Zeilen aber, anstatt sie Dir zu senden, aus mehrfachen Dir wohl einleuchtenden Gründen wieder in die große Papiermappe gesteckt. Ich suchte sie hervor – und ein gänzlich fremdes[122] Wesen stiert mich daraus an. Die neuliche Stimmung ist wieder einmal vorüber, und da dergleichen Lamento's nicht eben sehr würdig sind, so würde ich die Zeilen – wie ich wohl auch damals Willens war – ad acta geschrieben, d.h. in's Tagebuch zu ihren Brüdern gelegt haben, wenn ich nicht Dir erklären wollte, was mich neulich angefochten, und wenn ich nicht annehmen könnte, daß Du am Ende bloß Dir Bekanntes aus dem neulichen Billetanfang erfährst. Denn entweder hieltest Du mich für einen Narren, oder konntest Dir während unseres ganzen Zusammenseins nur eben so mein zwanzigmal von der Ausgelassenheit zur Schwermuth überspringendes Benehmen, hervorgebracht durch tausend und einen Umstand, erklären. Darum magst Du es lesen; Unglück ist blos in den Augen der Weltmenschen ein Laster; ich falle Niemandem damit besonders lästig, da ich mit Hülfe meines gottgepriesenen leichten Sinnes mich nur in seltenen Stunden übermannen lasse, obschon ich anerkenne, daß es Menschen giebt und ich zu ihnen gehöre, denen es nicht geziemt, glücklich zu sein, die aus Grundsatz unglücklich sein müssen.«

Der Brief erschütterte mich sehr. Die Gewißheit, daß er leide, daß ich ihm ein Trost sei, kettete mich nur fester an ihn, und ich lag die Nächte auf meinem Lager und sann und sann, wie er mich denn von sich gehen lassen könne, und wie mir sein werde, wenn ich von ihm gegangen sein würde?

Inzwischen traf mein Vater in Breslau ein, und ich bemerkte mit Schrecken, daß ich gar keine Freude über seine Ankunft fühlte, so sehr ich ihn auch liebte. Alles,[123] was er mir mit seinem liebevollen Herzen von Königsberg, von Mutter und Geschwistern erzählte, flößte mir nur eine Art von Angst ein, weil es mich daran erinnerte, daß meine Heimath nicht hier in Breslau sei.

Auch über meine neuen Lieben kam mit der Ankunft meines Vaters der Gedanke an das nahe Scheiden mehr und mehr herauf. Die Tante Simon, die es mir anfühlte, wie sehr ich litt, sprach zuversichtlich mit mir von einem baldigen Wiedersehen, von neuem Beieinandersein. Der Onkel schenkte mir ein Loos zu einer Güterlotterie, und sagte lachend: »Mache daß Du die Herrschaft gewinnst und reich wirst, und dann suche Dir einen Mann nach Deiner Wahl aus.« Die Cousinen umgaben mich mit der größten Liebe, Heinrich war herzlicher als je und verargte es meinem Vater, daß dieser ihm nicht verstattet, mich bis Posen zu geleiten, wozu er sich erboten hatte, als der Vater meinen Onkel Lewald aufgefordert, mich bis Posen zu bringen, um ihm die Winterreise und die Entfernung von Hause zu verkürzen. Ich legte mit unbewußtem Selbsterhaltungstrieb mir das Alles zum Besten und nach meinen Wünschen aus, denn mit zweiundzwanzig Jahren hat man noch nicht den Muth, sich es ohne die äußerste Nothwendigkeit einzugestehen, daß man ohne Hoffnung ist.

Und warum sollte ich nicht hoffen? warum sollte mein Vetter mich nicht lieben, wie ich ihn liebte? Aber wenn er mich auch liebte, was half mir das? Ich mußte ihn ja doch verlassen. Er war mittellos wie ich, hatte noch ein Examen zu machen, arbeitete viel und schwer,[124] um seinen Unterhalt zu gewinnen, und selbst, wenn sein Examen gemacht war, gab ihm das noch kein gesichertes und festes Auskommen. Was sollte er mit mir? – Ich sagte mir in meinen vernünftigen Stunden, daß Heinrich grade so wie ich das Verlangen habe, sich vollständig auszubilden. Ich hatte ihn oft von weiten Reisen, niemals von Ehe und Häuslichkeit für sich sprechen hören. Ich wußte es von ihm selbst, daß er mit dem Leben noch zerfallen, mit sich noch nicht im Klaren, daß er unglücklich sei. Ich war trostlos darüber, weil ich ihn liebte – und hatte doch im Grunde gar kein heißeres Verlangen, als ihn wo möglich noch unglücklicher zu wissen, durch eine Liebe für mich, die, wie unsere Verhältnisse lagen, im besten Falle für den Vielbeladenen nur eine Sorge und ein Kummer mehr geworden wäre. Aber die ganze blinde, selbstische Sophistik leidenschaftlicher Liebe hatte sich meiner bemächtigt, und von unbegründeten Voraussetzungen zu unbegründeten Hoffnungen übergehend, litt ich zehnfach, weil meine Vernunft mir meine Thorheit oftmals vorhielt, und mein Herz sich der Vernunft nicht unterwerfen wollte.

So kam der Tag der Abreise heran. Wir sollten spät am Abende mit der Schnellpost Breslau verlassen. Am Nachmittage war ich noch einmal zu meiner Tante Simon gegangen, um ihr Lebewohl zu sagen. Von dort aus wollte ich meine verheirathete Cousine besuchen, die mich dann nach Hause und zu meinem Vater zu bringen versprochen hatte.

Unter Thränen verließ ich die Tante. »Denke, daß Du mir wie eins meiner Kinder bist!« sagte sie. Ich[125] küßte ihre Hände, ich hing an ihr von ganzem Herzen. Heinrich gab mir das Geleit.

Es war am achtzehnten März, der Himmel schon dunkel, die Wege trocken. Wir hatten ein paar Straßen zu durchwandern, er hatte mir den Arm gegeben, wir legten ohne ein Wort zu sprechen den ganzen Weg zurück. Ich war so traurig, daß ich unser Schweigen gar nicht bemerkte. Als wir oben an den Zimmern meiner Cousine angelangt waren, fragte er mich: »warum sprichst Du nicht?« – »Ich kann nicht!« gab ich kurz zur Antwort. Ich hatte die Hand erhoben, die Schelle zu ziehen. Er hielt mich zurück. »Warte noch!« bat er, und nun standen wir einander gegenüber, Beide keines Wortes mächtig. Mit einem Male rief er: »Es hilft Nichts! Lebe wohl!« – Wir fielen einander in die Arme und weinten Beide bitterlich. Dann raffte er sich zusammen, wir gaben uns die Hände und trennten uns – um uns nach einer Reihe von mir schwer durchlittener Jahre zu einer Freundschaft wieder zusammen zu finden, die bis zu des unvergeßlichen Mannes Tode uns in nicht wankender Treue und Festigkeit verbunden hat.


Wie ich den Abend durchlebt habe, weiß ich kaum mehr. Es waren viel Leute, die Gäste und Freunde meines Onkel Lewald, es waren auch meine andern Onkel um meines Vaters willen da. Man unterhielt sich mit mir, man beschenkte mich noch mit allerlei Andenken; ich mag mich übel genug dabei benommen haben. Als wir[126] dann in der Schnellpost saßen, die Stadt verließen und in das Dunkel hinausfuhren, war ich in meinem Innern wie zerschlagen. Es war ganz umsonst, daß ich mir vorhielt, mein geliebter Vater sei bei mir, daß ich an die Mutter, an die Geschwister, an meine heimischen Freunde dachte. Ich fühlte mich losgelöst von ihnen, und losgelöst von Breslau ebenso.

Es mag für einen Mann ein schlimmes Gefühl sein, sich auf der Erde im bürgerlichen Sinne ohne feste Heimath zu wissen; aber es ist noch schlimmer für ein Mädchen, sich mit dem Herzen heimathlos zu fühlen. Was ich besaß, dünkte mich in den Stunden gänzlich werthlos, was ich erstrebte, war mir versagt, und von einer Hoffnung zur andern schweifend, tröstete ich mich bald damit, daß ich mich unter den Meinen wieder einleben und mich bei ihnen wieder heimisch machen werde; bald sagte ich mir, es sei unmöglich, daß Heinrich meine Entfernung nicht eben so schwer empfände, als ich die Trennung von ihm; und zu Allem, was ich mir Ermuthigendes vorhielt, sagte mein Verstand: betrüge Dich nicht selbst.

Die Reise war sehr unangenehm. Die Schnellpost fuhr nur bis zur schlesischen Grenze, wo die Chausseen aufhörten, und wir hatten von dort bis Dirschau ein paar Tagereisen ohne Chaussee zu machen. Weil die Fahrpost zu langsam ging und uns gar zu lange aufgehalten haben würde, nahm mein Vater von der Grenze ab Extrapost, und weil wir keinen eigenen Wagen hatten, waren wir genöthigt, alle drei Meilen das Fuhrwerk zu wechseln und das Gepäck umpacken zu lassen, wenn es[127] hier und da sich nicht zufällig traf, daß ein Posthalter seine Chaise auf einer fremden Station hatte stehen lassen, und wir also sechs Meilen in demselben Wagen bleiben konnten.

Dazu war es, als wir in das Großherzogthum Posen kamen, dort noch völlig Winter. Es hatte schon in der Nacht, in welcher wir Breslau verließen, wieder zu schneien angefangen, und schneite danach ohne Unterlaß. Von Weg und Steg war keine Spur. Die Postillone stiegen ab und zu vom Wagen, um sich zurecht zu finden, die unabsehbaren weißen Flächen ließen jedoch kein Abzeichen erkennen, wenn man nicht hier und da an einen Wegweiser kam; und gleich an dem ersten Abend, nachdem wir Extrapost genommen hatten, warf der Postillon uns unweit von einem kleinen Orte in einen tiefen mit Schnee angefüllten Graben. Den Schreck abgerechnet, kamen wir gut davon, nur daß wir lange warten mußten, bis Leute anlangten, die den Wagen und die Pferde in die Höhe und wieder in Gang bringen konnten. Mein Vater beschloß aber danach, in der Nacht nicht wieder zu fahren, und wir hatten dadurch zwei, drei Nachtquartiere zu ertragen, die mit ihren schmutzigen Stuben und Betten nach meinem Gefühl weit schlimmer waren, als in den Schnee geworfen zu werden.

Antheillos sah ich Posen, das einen fremdartigen Eindruck auf mich machte, aber etwas Großstädtisches hatte. Wir fuhren durch Städte, auf deren Wochenmärkten sich betrunkene Polen küßten und prügelten. Judenfrauen und Juden in polnischer Tracht machten unsere Wirthe in den abscheulichen Gasthöfen von Wongrowiez, Nackel und wie die Orte noch geheißen haben[128] mögen, in denen wir rasten mußten; und obschon ich mir fortdauernd vorpredigte, alle diese Unbequemlichkeiten halte der arme Vater nur um meinetwillen aus, und ich habe ihm tausendfach dafür zu danken, so hatte ich doch nur den Schmerz und die Frage, warum er mich von da fortgeholt, wo – freilich Niemand daran gedacht hatte, mich festhalten zu wollen.

Es war eine Wohlthat, als wir wieder die Pappeln einer Chaussee vor uns auftauchen sahen, als endlich wieder die gelbe Schnellpost und in ihr zufällig derselbe Conducteur, der uns vor einem Jahre von Königsberg nach Berlin gefahren hatte, in unsern Gesichtskreis kamen. Nun waren alle Fährlichkeiten und Widerwärtigkeiten der Reise überstanden, denn daß man vor den großen Strömen in dieser Jahreszeit die Post verlassen mußte, um zwischen dem treibenden Eis in Kähnen über die Weichsel und Nogat gesetzt zu werden, an deren entgegengesetzten Ufern Passagiere und Gepäck in bereit gehaltenen Postwagen weiter befördert wurden, das war man, ehe die Eisenbahnbrücken über die Ströme vollendet worden, in unserer Gegend so sehr gewohnt, daß man es nicht wesentlich zu den Unbequemlichkeiten rechnete, wenn die Ueberfahrt nicht grade ungewöhnlich beschwerlich war und dadurch sehr lange dauerte.

Am Tage vor der Ankunft in Königsberg hellte sich das Wetter auf und wurde trocken. Es war der Vorabend meines zweiundzwanzigsten Geburtstages, und die Nähe der Heimath, die Nähe der Meinen und des Wiedersehens mit ihnen, fingen mich zu bewegen an. Wir hatten schon in Breslau erfahren, daß eine äußerst[129] heftige Grippe in Königsberg epidemisch herrsche, daß mein jüngster Bruder fast der Erste gewesen sei, der davon befallen worden war. Seine starke Natur hatte die Krankheit glücklich überwunden, aber es waren nach den Briefen auch einige von den Schwestern davon erfaßt worden. Ich fing an, viel daran zu denken, ob die Mutter nicht erkrankt sein möge, ich beschäftigte mich im Geiste mit den Meinen, und schlief danach eigentlich zum ersten Male, seit wir Breslau verlassen hatten, einen gesunden Schlaf.

Am Morgen beim Erwachen fand ich mich zum Geburtstag mit meinem Vater allein. Das war mir nie geschehen und rührte mich deshalb. Er umarmte mich mit seiner warmen Liebe, er sagte, ich würde nun hoffentlich zu Hause für Mutter und Geschwister zu verwerthen wissen, was ich durch meinen Aufenthalt unter Fremden an Erfahrung gewonnen hätte. Er finde mich geistig sehr entwickelt, das wolle er mir nicht verhehlen, und darum grade erwarte er, daß ich vor allem Andern gelernt haben würde, in mir selbst zu leben. Es freue ihn, daß Tante Minna, die er ungemein hochschätze, so viel Liebe für mich gewonnen. Sie habe sich gegen ihn über mich in einer Weise ausgesprochen, die mir Ehre mache; dies zu wissen, werde mich nun auch ermuthigen, selbstlos und pflichttreu wie die Tante das Meinige zu thun. Er habe mir von der Tante und von den Ihren die herzlichsten Glückwünsche zu sagen, und ihnen versprochen, mir das Päckchen, das er aus der Brusttasche zog, noch vor der Ankunft in Königsberg auszuhändigen.

Ich war voll Dank, voll Beschämung, als mein Vater[130] mir so gütig zusprach. Ich hatte das durch meine innere Widerspenstigkeit, durch die Unlust, mit welcher ich zu den Meinen heimkehrte, nicht verdient, und ich wußte durch jenes Aufleuchten der Wahrheit in meinem Herzen, gegen welches sich auch die blindeste Leidenschaft in gewissen Augenblicken nicht zu verblenden vermag, daß es Thorheit sei, an die Liebe meines Vetters zu glauben. Ich wußte, daß meine Zukunft in dem Kreise meiner Familie ihren Halt zu suchen habe, ich nahm mir vor, mich mit allen Kräften an sie zu klammern, nur für sie zu leben, standhaft in meinem Verzichten zu sein. Ich hatte einige ganz heldenmüthige Minuten. Aber kaum sah ich die Handschrift meiner Tante auf dem Geburtstagsbriefe, kaum hatte ich das Packet eröffnet und den Ring heraus genommen, der eine Flechte von dem Haar meiner Breslauer Lieben enthielt, als ich in Thränen ausbrach und mir die Flügel der Morgenröthe wünschte, um dorthin zurück zu kehren, von wo ich mit so bitterm Leid geschieden war.

Alle hatten sie mir geschrieben: Onkel und Tante, die Töchter, die Söhne, der Schwiegersohn. Selbst von dem Enkelkinde hatte man die braunen Härchen in die Flechte gethan, und dem Kinde die Hand geführt, damit auch sein Name nicht fehle unter Denen, die mich ihrer Liebe, ihres Andenkens, ihrer Hoffnung mich wiederzusehen, mit der größten Zärtlichkeit versicherten. Das war zu viel für mich und mein innerer Kampf begann auf's Neue. Es war mir ganz verwirrt zu Muthe.

Ich konnte mich kaum zurecht finden, als ich die ersten bekannten Häuser in den Dörfern vor meiner[131] Vaterstadt erblickte. Da lag der Gasthof in Kalgen, vor dem ich einst so glücklich gewesen war, weil ein fremder Mensch es ausgesprochen, daß ich einmal hübsch werden könne. Aber wie lange war das her, und wie gleichgültig war mir das jetzt! Was hätte es mir geholfen, wäre ich schön wie ein Engel gewesen, wenn der Mann mich nicht schön fand, dem zu gefallen ich allein Verlangen trug? – Nun kamen wir an ein kleines Haus, in welchem unsere Milchfrau wohnte; dort ging der Weg nach dem Dorfe Ponarthen hinab; ich konnte schon das Thor sehen. An dem Zollhause stand noch immer, nahe an dem Walle, der Baum, unter welchem sich im Sommer der Einnehmer mit seiner langen Pfeife aufzuhalten pflegte. Der Baum war entblättert – das war mir grade recht!

Wenn man in das Brandenburger Thor einfuhr, hatte man damals zur Linken die kahlen Mauern von ein paar Kirchhöfen, zur Rechten einige niedrige Gebäude, die, so viel ich mich erinnere, während der Kriegsjahre eilig als Lazarethe aufgebaut worden und dann stehen geblieben waren. Vor ihnen befand sich eine Pumpe, auf welcher die aus Holz geschnittene und bunt bemalte Figur jenes Königsberger Schuhmachers, des Hans von Sagan, aufgestellt war, der die Stadt einst muthig gegen einen Angriff der Polen vertheidigt hatte. Es war ein unansehnliches, wenige Schuh hohes Ding, und daß es keine Herrlichkeit sei, hatte ich immer gewußt; aber ich hatte es recht gut leiden können, wie es da so wunderlich auf einem Beine mit seiner rothen Fahne dastand. An dem Morgen meiner Heimkehr sah mir dieser Hans von[132] Sagan äußerst abgeschmackt aus, und Alles war mir überhaupt wie verwandelt.

Die Vorstadt, die mir immer sehr stattlich erschienen war, kam mir kleinstädtisch vor, das grüne Thor mit dem Thurme am Eingang unserer Straße dünkte mir kleiner geworden, die Langgasse weit schmäler, als ich sie mir in der Erinnerung vorgestellt. Ich machte die Erfahrung von der Wechselwirkung der verschiedenen von uns aufgenommenen Eindrücke aufeinander, ich lernte einsehen, daß Nichts für sich allein dasteht, daß unser geistiger Maßstab immer ein relativer, und damit alles Urtheil ein persönlich bedingtes ist. Von der Sinnenwelt ausgehend, predigt diese Erfahrung wie kaum eine andere Duldung und Nachsicht – zwei Tugenden, welche zu besitzen oder gar zu üben ich in jenen Tagen weit entfernt war, und die sich lebhafte und entschiedene Naturen überhaupt schwer aneignen, weil in ihnen ein Zug zu dem Absoluten vorherrscht.

Meine Verwandten wußten den Tag unserer Ankunft. In der Vorstadt lag meine gute alte Tante im Fenster, mich zu begrüßen; ich freute mich gar nicht, sie zu sehen. In der Langgasse schauten meine Bekannten um meinetwillen nach der Ankunft der Post aus, und grüßten mich hier und da: ich hätte weinen mögen bei ihrem Anblick. Was sollte ich mit ihnen, was sollten sie mit mir machen?

Nun sah ich unser Haus. Es war Sonntag, die Weinkeller und das Comptoir waren geschlossen, die Straßen still. Mein Vater hatte es, gegen das Postreglement, von dem Conducteur erlangt, daß er uns an unserer Thüre aussteigen lassen sollte. Der Postillon,[133] dem es aufgetragen war, an unserem Hause anzuhalten, blies vom grünen Thore ab, eines guten Trinkgeldes sicher, geflissentlich seine schönste, lustige Melodie, und ich – ich hatte mit einem Male den Vers aus dem Cid im Sinne: »blast unglückliche Drommeten!« –

Da sah ich unsere Thüre sich öffnen, alle meine Schwestern kamen auf den Wolm hinausgelaufen, meine beiden Brüder halfen uns aus dem Wagen, mir wallte das Herz auf. Es waren die Menschen, die ich geliebt von meiner frühesten Erinnerung an, die an mir hingen, mit denen ich, jung wie wir Alle waren, bereits so manches Leid, so manche Freude getheilt – und jetzt fühlte ich es auch, wie theuer sie mir waren, und der Schmerz kam über mich, daß ich ihnen, die mir als die Alten entgegeneilten, nicht als die Alte, nicht mehr so ausschließlich als die Ihre wiederkehrte!

Sie sahen Alle krank und blaß aus, sie hatten mehr oder minder schwer von der Grippe gelitten, meine arme Mutter war am meisten mitgenommen. Sie blieb auch halsleidend von da ab, und die arge Grippe hatte den Keim für die Schwindsucht gelegt, an welcher sie später starb. Es muß damals schlimm mit der Epidemie gewesen sein, denn in unserm Hause hatte es mehrere Tage gegeben, an welchen das ganze Haus, die Mutter, die Kinder, zwei von den Commis und die Dienstboten zu Bett gelegen, und nur mein jüngster, zuerst von der Krankheit ergriffener und auch zuerst wieder hergestellter Bruder, mit einer zur Hilfe genommenen Wärterin, von Bett zu Bett gegangen war, die nöthige Pflege zu besorgen.[134]

Man empfing mich mit offenen Armen oder besser und wahrer mit offenen Herzen. Man hatte mir so viel zu erzählen, so viel von mir zu erfragen. Die Mutter lag noch zu Bette, aber meine älteste Schwester war stark und ein ganz erwachsenes Frauenzimmer geworden, sie hatte ihr sechszehntes Jahr zurückgelegt und vertrat die Hausfrau vollständig. Meine Brüder hatten ein männlicheres Aeußere bekommen, der Jüngste war in meiner Abwesenheit Student geworden; die jüngeren Schwestern waren sehr gewachsen. Sie sahen mir dadurch Alle so fremd aus, und ihre Stimmen, ihr preußischer Dialekt klangen mir fremd. Lange Abwesenheiten haben für Menschen, die noch in ihrer Entwickelung begriffen sind, eine sehr bedenkliche Seite. Sie geben uns oft eine unerwartete Richtung, und es findet sich, daß der Baum, dem man mit frischer, neuer Luft nur ein wenig nachzuhelfen gedacht, nicht mehr in den Kübel hineinpaßt, für den man ihn bestimmt hatte.

Es war wie gesagt mein Geburtstag, es kamen also meine Onkel, meine Cousinen, meine Freundin Mathilde, einige von meinen andern Bekannten, aber auffallend genug hatte von allen den Menschen grade in diesem Jahre Niemand daran gedacht, mir Etwas zu schenken. Der Ring, den ich am Morgen aus Breslau erhalten, blieb mein einziges Angebinde, und das erhöhte nur noch seinen Werth in meinen Augen. Nur die Mutter hatte mir trotz aller ihrer Krankheit eine Freude bereiten wollen. Sie wußte, wie sehr ich mein Stübchen liebte, und sie hatte es mir neu malen und neue Gardinen in dasselbe machen lassen. Aber auch dieser[135] gute Wille sollte mir nicht frommen. Es lag eben kein Glück auf jenem Tage!

In der That hatte ich bei all' meinem Herzleid immer mit einer Art von Getrostheit an meine Stube gedacht. Ihre engen und niedrigen grünen Wände, ihre alten bunten Gardinen hatten etwas Einfriedendes für meine aufgeregte Phantasie besessen, und es war mir ordentlich wohl, als meine Schwester mir mit einer herzlichen Freude über die mir bereitete Ueberraschung die Thüre meiner Stube öffnete. Aber ich kannte das kleine Zimmer gar nicht wieder. Statt der grünen Farbe leuchtete mir ein gewaltsames Rosa entgegen, statt der dunkeln, schadhaften aber schattigen Gardinen hing ein blendend weißer Mousselin an den Fenstern, und ließ das Licht mit solcher Macht hinein, daß die Wände noch unerträglicher aussahen. So geringfügig die Sache an sich war, so weh that sie mir. Ich kam mir wie ein Vogel vor, dem man sein Nest zerstört hat. Der einzige Punkt, auf den ich meine Hoffnung gebaut, auf den ich mich gefreut hatte, den hatte man mir unangenehm gemacht, und doch hatte ich mich dafür zu bedanken, doch waren es Liebe und treue, gütige Vorsorglichkeit gewesen, welche mir meine letzte Zuflucht geraubt hatten.

Ich hatte tausend Anfragen zu begegnen, das war ein Glück, denn es half mir über den Tag hinweg. Ich mußte meine neuen Kleider, meine Hüte, meine neuen Bücher und die vielen Geschenke und Kleinigkeiten zeigen, die man mir im Laufe dieses letzten Jahres gegeben hatte. Jedes Stück enthielt für mich eine Erinnerung an dasjenige, was ich zu verschweigen beschlossen, und[136] was sich sicherlich all' Denen, die Auge und Ohr dafür hatten, gleich an dem Tage verrieth, weil mein Herz gar zu voll davon war.

So kamen der Abend und die Nacht heran. Wir waren wieder in der alten, großen Hinterstube, Mathilde war mit uns, aber sie war am meisten verändert und mir am meisten fremd. Sie war sehr dunkel und geflissentlich einfach gekleidet, und über ihr schönes, lachendes Gesicht hatte sich jener Schleier von ernster Abgeschlossenheit gelegt, welchen der Pietismus für sich als Erkennungszeichen auserkoren zu haben scheint. Sie sprach mit halber Stimme, sie lächelte kaum noch. Ich merkte es ihr an, daß sie sich damals mit ihrer ganzen Haltung in einer Rolle bewegte, die aufrecht zu erhalten ihr eine Ueberzeugungssache, aber offenbar noch ein großer Zwang war.

Aufgeregt und recht eigentlich fassungslos, wie ich mich fühlte, benutzte ich die erste Gelegenheit, mit ihr allein auf mein Zimmer zu gehen, um mich ihr in die Arme zu werfen und ihr mein ganzes gequältes Herz auszuschütten. Sie hörte mich an, aber statt der alten Theilnahme, statt der Liebe, die gar nicht raisonnirt, sondern tröstet und forthilft, so gut sie kann, erhielt ich einige halb religiöse Zusprüche, von deren gänzlicher Wirkungslosigkeit auf mich sie überzeugt sein mußte. Ich stand vor der liebsten Gespielin meiner Kindheit, vor der mir so theueren Gefährtin meiner Jugend mit dem Bewußtsein da, daß ich sie verlieren würde oder sie schon verloren hatte, und dazu sahen mich die unglückseligen rosa Wände auch eben so kalt und eben so fremd an, wie sie.[137]

In dem Leben jedes Menschen, wie in der Weltgeschichte, dem Leben aller Menschen, sind es immer einzelne Momente, an welchen sich die lange und allmählig vorbereiteten Veränderungen zur Entscheidung bringen. Diese hervorragenden Tage prägen sich mit ihren Leiden und Freuden, mit ihren großen und kleinen Vorgängen dem Gedächtniß ein, und es bleibt dem Menschen auch das Geringfügigste, was sich an ihnen zutrug und was er an ihnen empfand, lebendig und deutlich in der Seele. Es sind aber, wenn man viel durchlitten hat, oft grade die an sich geringfügigsten Dinge, es sind Zufälligkeiten, welche man in einer andern Stunde, in einer anderen Verfassung gar so schwer nicht gefühlt haben würde, die jedoch, weil sie an dem vollgemessenen Kelch des augenblicklichen Leidens den Tropfen des Uebermaßes bilden, ihn zum Ueberfließen bringen, und seine Bitterkeit uns so unerträglich machen. Die Pein, mit welcher ich mich fern von dem Geliebten, fern von der Frau, die ich wie eine Mutter verehrte, fremd in meiner Familie, geschieden von meiner Jugendfreundin fühlte, fand ihren Ausdruck und ihren Gipfel darin, daß mir auch mein Zimmer mit den rosa Wänden und den weißen Gardinen statt einer Zuflucht eine Qual geworden war. Und man leidet von den Qualen der Einbildung nicht weniger, als von wirklichen Leiden, so lange man nicht im Stande ist, über sie mit seiner Vernunft den Sieg davon zu tragen, und sie als selbstgeschaffen zu erkennen. Ich aber hatte Niemand neben mir, der mir gesagt und dem ich es geglaubt hätte, daß eine kräftige und ehrliche Natur an einer hoffnungslosen Liebe nicht zu Grunde zu gehen braucht.[138]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 2, Berlin 1871, S. 120-139.
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