Fünftes Capitel

[249] Seba hatte während des Krieges an manchem Krankenbette gewaltet und gewacht; sie hatte dabei manchem Kummer, manchem tiefen Schmerze, mancher Trauer und schwerem Herzeleid begegnen und es mit ihren Kranken tragen lernen; aber eine ähnliche Verzweiflung, wie sie sich in Eleonorens Fieberphantasieen kundgab, war nie vor ihr laut geworden, und nur in den traurigen Erinnerungen an ihre eigene Jugend fand sie die Kraft, deren sie an diesem Krankenbette bedurfte.

Viele, viele Tage vergingen, ohne daß Eleonore zu irgend einem klaren Bewußtsein gelangte. Sie hatte in den letzten Monaten so viel, so Gewaltiges erlebt, so große Erschütterungen durchgemacht, daß alles, was ihr begegnet war und was ihr augenblicklich begegnete, sich bei ihrer Schwäche in ihren Träumen und Fieberphantasieen durch einander wirrte. Bisweilen meinte sie in ihrem Schlosse zu sein und beschwerte sich darüber, daß man ihr Zimmer so verändert habe; dann wieder glaubte sie sich in Rom in einer Klosterzelle, und als sie eines Tages in zufälliger Bewegung mit ihren Händen nach dem Haupte faßte und die Fülle des Haares vermißte, das man ihr auf des Arztes Anordnung während ihrer Krankheit abgeschnitten hatte, rang sich der laute Aufschrei: »Es ist vollbracht!« aus ihrem Herzen empor, und sich weit über ihr Lager hinausbeugend, umschlang sie Seba's Leib mit ihren Armen, und ihr Antlitz auf den Knieen ihrer Pflegerin verbergend, weinte sie bitterlich.[249]

Mit der leidenschaftlichsten Sehnsucht rief sie nach dem Abbé und verlangte doch, daß man sie vor ihm beschützen solle. Sie beschwor dann Seba, mit ihr aus den engen Mauern dieses Klosters zu entfliehen, heimlich mit ihr fortzugehen aus dem fremden Lande und sie nach ihrer Heimath zu bringen, unter den Schatten ihrer eigenen Bäumen, an das Ufer des Flusses, der durch ihre Wiesen floß. Sie nannte sich bald eine mächtige Königin, bald eine Gefangene.

Wer darf mich halten? Wer hat Gewalt über mich, wenn ich frei sein will? rief sie in wilder Heftigkeit und flehte im nächsten Augenblicke, daß man ihr ihre Seele wiedergeben solle, damit sie nicht wie ein Schemen unter den Menschen umherzuirren brauche. Das Fieber war im Abnehmen, aber die Vorstellungen der Kranken blieben verwirrt, und die Besorgniß, daß eine dauernde Störung der Denkkraft zurückbleiben könne, hielt diejenigen, welche an dem Schicksale Eleonorens Antheil nahmen, in angstvoller Spannung.

Paul und Davide sahen es mit Sorge, wie Seba in der Frühe das Haus verließ und erst am Abende spät und ermüdet von der Kranken wiederkehrte; aber sie wußten es, daß es vergebens sein würde, sie von den Liebeswerken abzuhalten, die sie als ihre Lebensaufgabe betrachtete.

Ihr braucht mich nicht, sagte sie mit ihrer sanften Ruhe, wenn ihre Pflegekinder ihr doch bisweilen die Vorstellung zu machen versuchten, daß sie sich ihnen nicht so ganz entziehen, daß sie an sich selber denken, sich schonen solle. Ihr braucht mich nicht, denn Ihr seid glücklich. Ihr kennt Euren Weg und Euer Ziel; dort aber ist ein armes, völlig verirrtes Geschöpf. Wie sollte ich anstehen, ihm die Hand zu bieten, damit es nicht verloren geht? Wer wie ich sein eigenes Leben durch seine Schuld nicht zur reinen Schönheit gestalten, nicht zu einem in sich selbständig vollendeten machen konnte, der muß es für Andere[250] zu verwerthen und nützlich zu machen suchen; und Ihr wißt es ja, ich finde darin ein großes Glück. Vielleicht trägt die Natur den Sieg davon, vielleicht erhalten wir Eleonore dem Leben, vielleicht kann man sie sich selber wiedergeben. Sie ist so jung, sie ist ohne Liebe auferwachsen, und sie ist so schön! fügte sie dann stets hinzu und ging voll hoffender Beharrlichkeit immer wieder an das Krankenbett zurück.

Das Jahr war fast zu Ende, ehe Eleonore auch nur zu fragen anfing, wo sie sich befinde oder wer die Fremde sei, die neben ihrer alten englischen Amme an ihrem Lager weile; und noch eine geraume Zeit verging, ehe sie zusammenhängend über sich zu denken, ehe sie ihre Gedanken wieder mitzutheilen im Stande war.

Was der Beobachtung Seba's zuerst auffiel, war, daß Eleonore zwar an jedem Morgen und an jedem Abende mit tiefer Inbrunst betete, daß sie sich aber nie des Kreuzes dabei bediente, welches sie an einer goldenen, zugelötheten Kette an ihrem Halse trug; und die Sonne schien schon wieder frühlingswarm auf die Erde herab, als die Genesende sich eines Tages erkundigte, ob es ihr geträumt habe, daß der Freiherr von Arten bei ihr gewesen sei, als sie erkrankt war.

Man sagte ihr, daß ihre Erinnerung sie nicht täusche. Sie wollte wissen, weßhalb er nicht wiedergekommen sei. Als man ihr das Verbot des Arztes, irgend Jemanden zu ihr zu lassen, vorhielt, erkundigte sie sich, ob Seba vielleicht den Freiherrn kenne.

Er hat mich zu Ihnen geholt, mein Kind, antwortete ihr diese.

Sind Sie mit ihm verwandt? fragte Eleonore.

Nein, aber seine Mutter war meine Freundin, und als ich jung war, wie Sie jetzt, habe ich seine Mutter, die auch viel Kummer hatte, in meinem Vaterhause lange gepflegt.[251]

Eleonore gab sich damit zufrieden. Matt, wie sie es war, gehörten nur wenig Vorstellungen dazu, sie eine geraume Zeit zu beschäftigen, und erst nach langem Schweigen richtete sie sich ein wenig in die Höhe und sprach: Sie sagten, die Mutter des Freiherrn von Arten habe auch viel Kummer gehabt; Sie wissen also, daß ich Kummer habe?

Ihre Worte, Ihre unbewußten Klagen haben es mir verrathen, entgegnete ihr Seba; aber sorgen Sie Sich nicht darum. Was ich vernommen habe, hat mir Mitleid mit Ihnen, hat mir Liebe für Sie eingeflößt, und es ist bei mir wohl aufgehoben.

Sind Sie katholisch? forschte Eleonore weiter.

Nein, ich bin eine Jüdin, antwortete ihr Seba.

Eleonore sah sie ungläubig und wie erschreckend an, und als mache sie sich diesen Blick zum Vorwurfe, ergriff sie plötzlich die Hand ihrer Pflegerin und küßte sie zu wiederholten Malen. Seba hinderte sie nicht daran. Alles, was sie während Eleonorens langer Krankheit von Renatus über die Vergangenheit dieses Mädchens erfahren, alles, was Eleonorens Amme ihr über die Vorgänge in Haughton Castle gesagt, hatte Seba überzeugt, daß Eleonore einer völligen Umgestaltung ihres ganzen Wesens bedürftig sei, wenn sie nicht aus Verzweiflung über sich selber untergehen solle; und wie man ein Kind langsam und allmählich auf die Begriffe hinführt, die man ihm zu geben wünscht, wie man es so leitet und führt, daß es sehen muß, was man es sehen lassen will, so langsam und so vorsichtig leitete Seba die Gedanken ihres neuen Pfleglings auf den Pfad, auf welchem sie Heilung und Rettung für Eleonore finden zu können hoffte.

Weil sie selber sich gewöhnt hatte, das Leben eines Menschen in seinem ganzen Zusammenhange zu betrachten und Ursache und Wirkung einander gegenüber zu stellen, hatte sie die Kunst erlernt, sich es in den meisten Fällen klar zu machen, durch[252] welche Umstände ein Charakter sich eben so und nicht anders gebildet habe. Noch ehe also ihre Kranke im Stande war, sich über sich selbst auszusprechen, wußte die feinsinnige Pflegerin, was Eleonoren von Jugend auf gemangelt hatte, und sann darüber in stillem Herzen nach, wie sie diesem auf den reichen und prächtigen Höhen des Lebens geborenen und erzogenen Mädchen den Segen zuwenden könne, der in der Hütte des Armen dem Kinde selten fehlt – den Segen der selbstlosen Liebe, die selbstlos lieben lehrt.

Eleonore hatte ihre Mutter nicht gekannt, ihr Vater, der Marquis von Lauzun, war nicht der Mann gewesen, einem Kinde durch seine Hingebung die Mutterliebe zu ersetzen, und Arabella Warwell, zu deren strengen Grundsätzen und zu deren starkem Verstande Eleonoren's Mutter mit Recht ein großes Vertrauen gehegt hatte, war selbst eine Waise und in der Erziehung ihres Pfleglings von dem Gedanken geleitet gewesen, daß sie das verwaiste Mädchen vor allen Dingen dahin gewöhnen und bilden müsse, in sich selbst beruhen und den nachtheiligen Einflüssen widerstehen zu lernen, welche ihm von Seiten der Herzogin schon frühe drohten. Mit bewußter Absicht hatte ihre Erzieherin die junge Gräfin mißtrauisch gegen ihre Tante und gegen die Freunde derselben gemacht. Mit Geflissenheit hatte sie das ohnehin sehr selbstgewisse Mädchen darauf angewiesen, nur seinen eigenen Eingebungen, nur seinem eigenen Verstande zu folgen, und die glänzende Ausnahmestellung, in welcher Eleonore sich befand, die unausgesetzte Bewunderung und Huldigung, welche ihr von den Männern seit ihrem ersten Auftreten in der Gesellschaft dargebracht wurden, hatten die junge Gräfin mehr und mehr dazu verleitet, nichts zu begehren und zu bedürfen, als immer neue Nahrung für ihre eitle Selbstgenügsamkeit, immer neue Befriedigung für ihren ungemessenen Stolz.

Ihre Erzieherin war in Folge einer Herzenstäuschung unvermählt[253] geblieben, und wie sie, um sich für den Irrthum ihrer Jugend zu bestrafen, sich eben deßhalb zu einer unerbittlich scharfen Beobachterin gemacht hatte, war auch Eleonore durch sie gewöhnt worden, an die Menschen, und namentlich an die Männer, ideale Maßstäbe anzulegen und schonungslos über sie abzuurtheilen, wo sie diesen Maßstäben nicht entsprachen. Fräulein Warwell hatte gewünscht, Eleonore vor dem Mißgriffe zu bewahren, den sie selber einst begangen, als sie in einem geringen und unbedeutenden Manne die Eigenschaften zu finden geglaubt hatte, die sie in ihrem Gatten sich ersehnte; und alles, was sie für ihre Pflegebefohlene damit erreichte, war die Erweckung des Glaubens gewesen, daß kaum ein Mann es werth sei, von einem edeln, reinen Frauenherzen mit voller Hingebung geliebt zu werden, daß nur selten ein Mann es verstehe, den Werth einer großen weiblichen Seele und das Opfer ihrer Hingebung zu würdigen, und daß es das höchste, ja, das einzige Glück des Weibes sei, den Mann zu finden, den es in Bewunderung lieben, den es über sich stellen könne, während er in jedem Augenblicke wisse, was diese freiwillige Unterordnung des Weibes von ihm fordere und ihm auferlege. Mitten in einer auf den äußern Lebensgenuß, auf Befriedigung ihres weltlichen Ehrgeizes gestellten Gesellschaft hatte Eleonore einsam da gestanden, in hoher Selbstüberschätzung von dem Leben die Gewährung und Erfüllung ihrer idealen und überspannten Ansprüche erwartend, nach Liebe dürstend und doch in keiner Weise darauf vorbereitet, sich an die Liebe liebend hinzugeben.

So hatte der Abbé sie gefunden, und entschlossen, sich ihrer für seine Kirche zu bemächtigen, hatte er das traurige Werk ihrer Erzieherin vollendet, Eleonore ganz abzutrennen von dem Zusammenhange mit ihrer Umgebung, um sie sich desto leichter aneignen zu können. Daß seine Schönheit, seine persönliche Bedeutung Eleonorens Liebe für ihn erweckten, hatte er früh[254] gesehen, früh zu benutzen gewußt; selbst die Leidenschaft, die in ihm für die Gräfin erwacht war, hatte er seinen Zwecken dienstbar gemacht. Es hatte ihm das wollüstige Entzücken der Herrschsucht und den Genuß gewährt, den man empfindet, wenn man sich seinem Ziele nahe sieht, als er Eleonore, Dank seinen Rathschlägen, vom Hofe verwiesen, von dem Freiherrn, dem sie sich angetragen, verschmäht, völlig vereinsamt gefunden hatte; und erst als sie, aufgegeben auch von der Gesellschaft ihres Heimathlandes, sich hülferufend an ihn gewendet, war er vor ihr erschienen, erst da hatte er das Kreuz mit dem Bilde des Gekreuzigten vor ihr erhoben und es ihr als die Zufluchtsstätte dargeboten, in der er und sie sich begegnen, er und sie sich in einer ewigen und ausschließlichen Liebe zusammenfinden konnten.

Nicht aus Ueberzeugung, nur aus Leidenschaft für den Geliebten war Eleonore zu der katholischen Kirche übergetreten; nicht eine Befriedigung ihres Herzens, nicht eine neue Beseligung hatte sie in dem Anschlusse an den Katholizismus gesucht, sondern nur ihn, den Geliebten, der in diesem Glauben seine Welt zu haben behauptete, ihn, der ihr verheißen hatte, sich nie von ihr zu trennen, wenn sie ihn zu suchen käme, wo er seines Lebens, seines Geistes, seines Wirkens Heimath habe. Und als sie nun zu seiner Kirche sich hingewendet, da hatte er sich ihr entzogen, da hatte er das junge Weib, das man gewiegt hatte mit allen Ansprüchen auf der Erde höchstes Glück und das sich in der Lage wußte, es einem geliebten Manne und sich selbst in jedem Augenblicke bereiten zu können, von sich gestoßen mit der grausamen Lust der Willkür, der einzigen Freiheit, die sein Eid ihm gönnte.

Ich muß Dich fliehen, denn ich liebe Dich! hatte er ihr gesagt. Willst du mich wiedersehen, willst Du mich nicht verlieren, so mußt Du alles daran setzen, was Du hast und bist, so mußt Du der Welt entsagen, wie ich es gethan habe, und[255] eines unlöslichen Schwures Schranken müssen aufgerichtet werden zwischen uns, zwischen mir und Dir, denn wir sind Menschen!

Eleonore hatte ihm auch diesen Schwur geleistet! Was hätte ihre Liebe dem Abgotte ihres Herzens versagen können, so lange er an ihrer Seite war, so lange sein Blick, sein Wort sie beherrschten und in ihre Bande schlugen? Aber die Lebenslust in ihr war zu mächtig. Ihre Jugend, ihre Schönheit in der Gefangenschaft eines Klosters verblühen zu lassen, der Heimath, dem Ahnenschlosse ihrer Väter und vor Allem der königlichen Freiheit zu entsagen, deren sie sich theilhaftig gewußt und gefühlt seit ihrer frühesten Kindheit an, das war über ihre Kräfte gegangen. Auf ihren Knieen hatte sie den Abbé beschworen, sie von der Erfüllung des Eides zu entbinden, den er ihr auferlegt; mit inbrünstiger Liebe hatte sie von ihm begehrt, sich begnügen zu lassen mit ihrem Gelöbniß, daß sie niemals einem Andern angehören wolle, und ihr Leiter und Führer zu bleiben in der Welt und in der Freiheit, denen zu entsagen sie sich nicht entschließen konnte. Sie hatte kein Gehör bei ihm gefunden. Voll Mißtrauen in die Zulänglichkeit der eigenen Kraft, mit dem festesten Glauben an die Gewalt von Eleonorens Liebe hatte er sie verlassen – sicher, daß sie ihm folgen werde, wohin er immer gehe, bis er sie hingeführt haben würde zu dem Altare, auf dem sie ihre Zukunft opfern und sich und ihren reichen Besitz der Gemeinschaft einverleiben sollte, der er angehörte, und deren Unerbittlichkeit er sich verfallen wußte, wenn er ihren Erwartungen nicht entsprach, wie er's verheißen, wie man es von ihm erwartet hatte.

Seine Berechnung hatte ihn auch nicht getäuscht. Wie von einer Naturgewalt gezwungen, war Eleonore ihm nach Deutschland nachgeeilt, und noch einmal hatte er sich von ihr entfernt. Noch einmal hatte sie erkennen müssen, daß keine Gnade von[256] ihm zu hoffen sei, und überwältigt von der Größe ihres inneren Kampfes war sie zusammengebrochen, ihrer selbst nicht länger mächtig.

Es war Herbst gewesen, als die Krankheit sie er griffen, das Bewußtsein sie verlassen hatte; nun war es Frühling geworden. In einfacher Umgebung, unbewundert, von Niemandem beansprucht, fremd und in der Fremde, hülflos wie ein Kind, so lag sie da, und die warmen Sonnenstrahlen, die auf den Wänden wie die rieselnden Wellen eines lichten Stromes hin und wieder flossen, waren ihres Auges stille Freude. Sie war zufrieden, daß sie dieselben sehen konnte, daß sie noch athmete, daß der Erde dunkler Schooß sie noch nicht umfing.

Eines Morgens, als die Sonne auch wieder freundlich in ihr Zimmer schien, trat in der Frühe Seba bei ihr ein und legte ein paar Veilchen auf ihr Lager. Es sind die ersten unseres Gartens, sagte sie. Meiner Pflegetochter Söhnchen hat sie gepflückt und sendet sie Ihnen mit einem schönen Guten Morgen.

Eleonore nahm die Veilchen in die Hand; ihr Duft, ihre Form, ihr ganzer Anblick schienen ihr wie neu. Sie drückte sie an ihre Lippen und die Thränen traten ihr in die Augen.

Seba fragte, was sie so bewege.

Es rührt mich, antwortete ihr Eleonore, daß hier in der Fremde Blumen für mich wachsen und daß ein fremdes Kind sie für mich pflückt. Lieben Sie die Kinder?

Welche Frage! rief Seba. Wer sollte den Frühling, wer sollte die Hoffnung nicht lieben? In tiefster, eigener Entmuthigung hat die Beschäftigung mit Kindern mich aufgerichtet, und noch heute, wenn ich mich niedergeschlagen fühle, brauche ich nur auf die schöne Zuversicht hinzublicken, mit welcher die Kinder in das Leben schauen, um zu begreifen, daß schon in dem bloßen Wollen, Streben, Hoffen ein Glück verborgen liegt. Und nun vollends der Gedanke, wie leicht man solch ein Kind erfreuen[257] kann! Diesen holden, genügsamen Geschöpfen gegenüber besitzen wir ja eine wahrhaft göttliche Allmacht!

Eleonore seufzte und kaum hörbar sagte sie: Ich habe nie ein Kind bei mir gehabt, nie mit einem Kinde gespielt, und keinem Kinde je etwas zu Lieb gethan.

Armes Mädchen, sagte Seba, Sie sind eben einsam und ohne Liebe groß geworden; Sie werden viel nachzuholen haben, wenn Sie erst genesen sind!

Eleonore schüttelte traurig das schöne bleiche Haupt, Seba brach von dem Gespräche augenblicklich ab; indeß Eleonore blieb fort und fort mit dem Gedanken an den Knaben, der die Blumen für sie gesendet hatte, beschäftigt. Sie wollte wissen, wie alt er sei, sie wollte, daß Seba ihr beschreibe, wie er aussehe, und als diese von ihrer Uhrkette die Kapsel loslöste, in welcher sie das Miniaturbild ihres Lieblings trug, konnte Eleonore sich an dem blonden Lockenkopfe und an den hellen, braunen Augen des Kindes gar nicht satt sehen. Sie fragte nach des Knaben Mutter, nach seinem Vater, nach Seba's Verwandtschaft mit ihnen, nach ihrem Thun und Treiben, und Seba konnte es bemerken, wie die schlichte Darstellung dieses gesunden und beglückten Familienlebens die junge Gräfin, als etwas ihr völlig Unbekanntes, anzog und bewegte.

Am Abende, da Seba sie, wie immer, verlassen wollte, hielt Eleonore sie zurück. Sie schien etwas auf dem Herzen zu haben und Scheu zu hegen, es zu offenbaren. Endlich, als Seba sich erkundigte, ob sie irgend etwas wünsche, was sie ihr gewähren könne, fragte die Genesende: War meine Krankheit von der Art, daß meine Nähe Andern Nachtheil bringen konnte? Ist eine Ansteckung für diejenigen zu befürchten, die mich jetzt besuchen?

Seba verneinte es auf das bestimmteste. Da richtete sich Eleonore auf, ergriff die Hände ihrer Pflegerin und sagte: Sie[258] haben so viel für mich gethan; Herr Tremann und seine Frau haben mir so großmüthig durch alle diese langen Monate Ihre Pflege gegönnt, bitten Sie sie – Aber es war, als halte eine unbesiegliche Scheu sie von dem Aussprechen des Wortes zurück. Sie verstummte plötzlich, und erst als Seba ihre frühere Frage wiederholte, sagte Eleonore, während ein flüchtiges Roth ihre eingesunkenen Wangen färbte und ein verschämtes Lächeln ihren schönen Mund umspielte: Wenn es ihm nicht schadet, wenn es ihm gar nicht schadet, und wenn seine Eltern ihn mir einmal senden wollen – bringen Sie mir den Knaben mit!

Man hatte keinen Grund, ihr die Erfüllung dieses Wunsches zu verweigern, und Davide war so stolz auf ihres Knaben Schönheit, daß sie sich ein Fest daraus machte, ihn auch von Andern bewundert zu sehen. Schon am nächsten Tage also führte Seba ihn der Kranken zu. Der Kleine war keines der Kinder, die durch eine fremde Umgebung befangen werden. Wo er nur einen der Seinen bei sich hatte und man ihn gewähren ließ, war er zu Hause oder setzte er sich mit seinen schnellen und bestimmten Fragen doch sehr bald zurecht.

Eleonore, die des Deutschen nur wenig mächtig war, verstand den Knaben kaum, der noch unzusammenhängend sprach, aber sein bloßes Dasein war ihr eine Freude. Sie vergaß sich völlig, wenn sie zusehen konnte, wie er sich tummelte, sie strengte sich an, zu errathen, was er wolle, sie ließ aus ihren Koffern hervorholen, was ihn freuen, ihn einen Augenblick beschäftigen konnte, und wenn es geschah, daß der Knabe sich mit einem Worte, mit einem Verlangen an sie wendete, wenn es ihr gelang, ihn neben sich festzuhalten, so glänzte ein Ausdruck des Vergnügens in ihren Augen, der Seba rührte, weil er bei Eleonoren fast jedes Mal der Vorbote eines Seufzers und jener Schwermuth wurde, die sie bis dahin nicht verlassen hatte.

Kein Tag verging seitdem, ohne daß man ihr den Knaben[259] brachte; bald konnte auch Davide mit ihm bei Eleonoren verweilen, und man konnte daran denken, die Genesende an einem warmen Mittage in den Tremann'schen Garten fahren zu lassen, damit sie in Ruhe und Stille sich der Luft erfreue. Die verschiedenen Familienmitglieder leisteten ihr dabei abwechselnd Gesellschaft. Man holte ihr, weil sie es wünschte, das Töchterchen herbei, welches Davide ihrem Manne im Laufe des Winters geboren hatte, und obschon Eleonore noch sehr matt war, verlangte sie, daß man ihr den Säugling geben, daß man das schlafende Kind auf ihren Knieen ruhen lassen solle. Sie sagte nicht, was in ihrem Herzen vorging, aber es war für die sie beobachtende Familie kein Räthsel. Man ließ sie still gewähren, sie war Allen bereits werth geworden.

Davide, deren Mutterherz sich zu Eleonoren um der Liebe willen hingezogen fühlte, welche diese ihren Kindern entgegenbrachte, that schon nach wenig Tagen ihrem Gatten und ihrer Pflegemutter den Vorschlag, daß man die Gräfin ganz in ihr Haus übersiedeln möge, wo sie besser als in dem Gasthofe aufgehoben sein würde; indeß wider ihr Erwarten wies Paul vorläufig diesen Vorschlag noch zurück, und zu noch größerem Erstaunen der jungen Frau stimmte Seba ihm in seiner Meinung bei, daß es noch nicht an der Zeit sei, Eleonore von dem traurigen Gefühle ihrer Vereinsamung zu befreien. Sie waren beide der Ansicht, man müsse der Gräfin Zeit zur Einkehr in sich selber lassen. Daß sie es bereue, zum Katholizismus übergetreten zu sein, daß ihr Freiheitssinn vor dem Eide zurückschrecke, mit dem sie sich vor dem Abbé gebunden hatte, und das mit der beglückenden Empfindung des Genesens ihr Widerwille gegen den Eintritt in ein Kloster nur gewachsen sei, davon hatten verschiedene, ganz beiläufige, ganz unwillkürlich gethane Aeußerungen der jungen Gräfin Seba überzeugt. Es gab sich fast bei jedem Anlaß kund, wie schwer Eleonore es fühle, den alten Anhalt[260] ihres Daseins verloren und keinen neuen, ihr genügenden dafür gefunden zu haben.

Als Seba ihr angeboten, Miß Warwell herbeizurufen, hatte die Genesende dies abgelehnt. Ich habe mich freiwillig von ihr geschieden, sagte sie, und ihre in jedem Betrachte unduldsame Strenge kann und wird mir nicht verzeihen, was ich gethan habe. Sie ist abhängig von ihren vorgefaßten Meinungen, abhängig von Ueberzeugungen, die sie auf Treu und Glauben angenommen hat, abhängig auch vor allen Dingen von der Ansicht und dem Urtheile ihrer Umgebung. Ich habe mich losgesagt von ihr, mich abgeschworen von ihrer Kirche, ihre Gesellschaft hat mich ausgestoßen: ich bin für sie nicht mehr vorhanden! Und mit einer Bitterkeit, welche sich oftmals in Eleonorens Worten zeigte, setzte sie hinzu: Ich wollte ja frei sein! Nun bin ich frei, frei wie der Vogel in der Luft! Wen kümmert es, wohin er zieht und wo er endet?

Bisweilen fragte sie, ob Briefe für sie angekommen wären. Aber sie schien zufrieden, wenn man es ihr verneinte. Merkte sie dann, daß dies ihren neuen Freunden auffiel, so äußerte sie, gleichsam sich entschuldigend, sie habe Ruhe nöthig, sie müsse sich erst wieder daran gewöhnen, daß sie weiter leben solle. Und als Paul, dessen männliche Bestimmtheit von dem ersten Augenblicke an einen guten Eindruck auf sie machte, sie nach einer solchen Aeußerung einmal fragend ansah, sprach sie: Ich habe zu sterben geglaubt und war damit zufrieden; denn was soll ich noch im Leben und in einer Welt, der nicht mehr anzugehören ich geschworen habe? Und doch liebe ich noch diese Welt, doch freut mich noch die Luft und das Licht, doch entzückt mich das Lächeln Ihrer Kinder, und ich könnte weinen über die Güte, die Sie Alle mir beweisen; vor Schmerz und vor Freude weinen, wenn ich es hier sehe, wie glücklich man auf Erden sein kann![261]

Als ihre Kräfte gewachsen waren, verlangte sie nach Renatus. Sie wollte ihm danken für all das Gute, welches ihr durch seine Vermittlung während der langen Leidenszeit zu Theil geworden war; aber das Wiedersehen that weder der jungen Gräfin, noch ihrem Freunde wohl. Sie konnten sich nicht in einander finden.

Ist das die strahlende Eleonore? Ist dieses Mädchen mit den sanften, hülfesuchenden Augen das königliche Wesen, dem meine Huldigung sich kaum zu nahen wagte? fragte Renatus sich in seinem Innern, und es war ihm, als habe er die Gräfin in einer ihr feindlichen Verzauberung vor sich, da ihr die stolze Umgebung fehlte, in der er sie bisher zu sehen gewohnt gewesen war.

Er hatte Mitleid mit ihr, aber er schämte sich fast der anbetenden Empfindung, mit der er einst zu ihr emporgeblickt, und sie hinwiederum hatte ihre gegenwärtige Lage nie schwerer als in des Freiherrn Gegenwart gefühlt. Sein Bedauern that ihr wehe.

Sie hätte den Freiherrn bitten mögen, sie zu meiden, hätte sie nicht gefürchtet, den Schein der Undankbarkeit oder den der Feigheit auf sich zu laden. Sie ließ es also geschehen, daß Renatus, um sich und Eleonore vor den Mißdeutungen der gegen sie erregten übelwollenden Neugier zu bewahren, auch seine Frau und seine Stiefmutter zu ihr brachte. Aber auch an dem Beisammensein mit diesen beiden Frauen fand Eleonore kein Gefallen. Sie konnte die Stunde nicht vergessen, in welcher sie sich dem Freiherrn zur Gattin angetragen hatte. Sie nannte es in ihrem Herzen eine durchaus berechtigte That, daß er sie zurückgewiesen hatte; dennoch vermochte sie die Mißempfindung gegen die Frau, um derentwillen sie, wie sie glauben mußte, verschmäht worden war, in sich nicht zu besiegen. Die Zuvorkommenheit, mit welcher Cäcilie ihr begegnete, kam ihr erkünstelt[262] vor und war es auch zum Theil, und die Erzählungen aus der Gesellschaft, durch welche sie und Vittoria die junge Gräfin zu unterhalten strebten, hatten keinen Reiz für diese letztere. Eleonore dachte nicht daran, an diesem Hofe zu erscheinen. Die Namen der Personen, auf deren Gunst oder Ungunst die Gattin und die Stiefmutter des Majors von Arten Gewicht zu legen hatten, waren für Eleonore Haughton ohne jegliche Bedeutung, und schon nach wenigen Besuchen bei der Kranken brauchte Renatus es seiner jungen Gattin nicht mehr zu versichern, daß er Eleonore zwar bewundert, aber nicht geliebt habe, daß er sie niemals hätte lieben können und daß sie überhaupt in ihrer Herzenskälte ihm nicht für die Liebe, nicht für die Ehe geschaffen zu sein scheine. Wurde doch Eleonore selber oftmals an sich irre, wenn sie es ihren Pflegern auszusprechen wünschte, was sie für sie fühlte, und wenn sich ihr das Wort, das sie von früher Jugend an mit seltener Gewalt bemeistert hatte, jetzt versagte, wo es sie drängte, sich ihnen zu erschließen und sich ihnen hinzugeben.

Was können wir für sie thun? fragte Seba oftmals, wenn sie und die Ihren das innere Ringen und Kämpfen in Eleonorens Seele wahrnahmen. Soll man so viel Schönheit, so viel Gaben in Einsamkeit verloren gehen lassen? Oder wie soll man es beginnen, sie mit dem Verstande einsehen zu lassen, was sie ahnend fühlt: daß sie verloren ist, wenn sie ihrer eigensten Natur entgegenhandelt?

Paul hörte diese Klagen, in denen Davide mit Seba stets zusammentraf, mit jenem zuversichtlichen Gleichmuthe an, der ihn fast nie verließ. Auch er hatte Theilnahme für Eleonore gewonnen, und es waren nicht nur ihre Schönheit, ihre Jugend und ihr Mißgeschick, welche sie in ihm erregten. Sie ist eine Kraft, sagte er einmal, aber eine Kraft, die sich noch nicht zu würdigen weiß, weil sie sich überschätzt. Dem Tode ist sie jetzt entrissen; ob sie dem Leben zu gewinnen ist, das steht dahin.[263] Ihre Gesundheit ist im Wachsen, sie bedarf Eurer nicht mehr wie sonst, überlaßt sie jetzt sich selbst.

Und soll es sie ermuthigen, wenn wir, denen sie ihre Neigung zugewendet hat, uns ihr entziehen? Soll sie, die ohnehin der übeln Erfahrungen so viele schon gemacht, auch an uns irre werden, an deren uneigennützige Freundschaft zu glauben ihr offenbar so wohl thut? wendete Davide ein, deren sanfte Seele doppelt für die Gräfin sorgte, weil sie neben Eleonorens Vereinsamung ihr eigenes Familienglück noch lebhafter empfand.

Paul zog die geliebte Frau in seine Arme. Kennst Du die Macht der Entbehrung und der Trennung nicht, obschon wir lange Jahre von einander fern gewesen sind? fragte er sie, oder soll ich, dem ihr es immer vorwarft, daß er von den mannigfachen Wahrheiten, die in der Bibel enthalten sind, zu wenig weiß, Euch an ihre Lehren mahnen? Soll ich Euch erst daran erinnern, daß nur dem Bittenden gegeben, nur dem Anklopfenden aufgethan werden soll? Sie muß hungern und dursten nach der wahren Liebe, ehe sie derselben mit Segen theilhaft werden kann. – Das Leben hat diesem Mädchen Alles, ohne sein Zuthun, gewährt. Es hat des Wünschens kaum bedurft, es hat das Verlangen, das Entbehren, das Ringen und das Kämpfen um die Befriedigung eines Bedürfnisses nie gekannt, und kein Mensch gedeiht, wenn er den eigentlichen Bedingungen des Daseins in solcher Art entzogen wird. Auch jetzt wieder ist Eleonoren unsere Theilnahme geworden ohne all ihr Zuthun, ohne ihr Verdienst!

O, rief Davide, fühlt sie das denn nicht?

Was will das sagen? entgegnete Paul. Sie genießt das Gute, das sich ihr bietet, aber es dünkt sie natürlich, daß man's ihr gewährt, daß wir es ihr leisten. Sie ist an mich empfohlen, sie ist jung und schön und reich, und der Freiherr von Arten war bei uns noch außerdem ihr Bürge. Laßt es sie empfinden, daß es freie Dienste sind, die sie empfängt.[264]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 7, Berlin 1871, S. 249-265.
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