Sechstes Capitel

[265] Bald nach der Ankunft Eleonoren's, nur wenige Tage, nachdem er Seba's Beistand für sie erbeten, hatte Renatus seine Frau und seine Stiefmutter in das Tremann'sche Haus geführt. Weil er damit in sich eine Selbstüberwindung vollzogen und in seiner Frau Familie deßhalb Widerstand gefunden hatte, war er des Glaubens gewesen, auf Tremann und die Seinigen jedenfalls einen sehr bedeutenden Eindruck durch seinen förmlichen Besuch hervorbringen und in der Art des Empfanges die Anerkennung für diese seine Leistung finden zu müssen. In dieser Erwartung hatte er sich jedoch getäuscht.

In dem reichen und angesehenen Kaufmannshause waren Besuche von Fremden an und für sich kein Ereigniß, auf das man irgend ein Gewicht legte. Paul's frühe Bekanntschaft mit dem Fürsten Staatskanzler, seine Reisen, seine Handelsverbindungen hatten ihm zeitig einen weiten Umgangskreis eröffnet, und weil beständig Leute, den verschiedensten Nationen angehörig, geschäftlich auf ihn angewiesen wurden, so fanden die Einheimischen an den Fremden und diese an jenen immer eine Gesellschaft, die ihnen Wesentliches zu bieten und in der man sich einer von dem umsichtigen und weltgewandten Hausherrn trefflich geleiteten Unterhaltung zu versehen hatte, welcher dann durch die Bildung und Liebenswürdigkeit der beiden Frauen noch ein erhöhter Reiz verliehen ward. Das Tremann'sche Haus galt daher mit Recht für das gastlichste der Stadt. Kaufleute,[265] Gelehrte, Beamte und Künstler trafen in demselben mannigfach zusammen, und wenn man mit dem Hofe selbst auch in keiner Verbindung stand, so gab es unter den Edelleuten, welche zu demselben gehörten, doch immer einzelne, die sich es zur Ehre rechneten, sich frei nach ihrem Gutdünken auch außerhalb der enggezogenen Schranken der Etiquette zu bewegen und sich einer Gesellschaft anzuschließen, in welcher allein die durch Bildung veredelte Sitte die Gesetze vorschrieb, die Aufnahme bedingte.

In einem Hause, in welchem man die Leute um ihrer alten Familiennamen willen eben so wenig suchte, wenn sie sonst keine Eigenschaften hatten, als man sie um ihres Adels willen mied, wenn sie in sich mehr besaßen, als nur eben ihre alten Titel, konnte man es nicht als eine besondere Ehre ansehen oder sich dadurch geschmeichelt fühlen, wenn der Major von Arten sich in demselben wieder meldete. Es war nur natürlich, daß er, der eine Kränkung gegen Seba gutzumachen und der sich noch dazu plötzlich Hülfe suchend bei ihr eingefunden hatte, seinen Dank für die Bereitwilligkeit auszusprechen kam, mit der man ihm die geforderte Hülfe gewährte, und wenn Seba und Davide die beiden Baroninnen trotzdem noch freundlicher als vielleicht manche andere Fremde bei sich aufnahmen, so geschah es in der ganz bewußten Absicht, es die Frauen nicht empfinden und nicht entgelten zu lassen, daß man sich früher, und bis jetzt mit vollem Rechte über Renatus zu beschweren gehabt habe.

Während dieser sich nun bemühte, seine lange Versäumniß vergessen zu machen und es kundzugeben, daß in seinem Innern eine gewisse Wandlung vorgegangen sei, begegnete Paul ihm mit jener ruhigen Zuvorkommenheit, welche dem Gebildeten, der viel mit Fremden zu verkehren hat, zur anderen Natur wird. Er war nicht gewohnt, die Gäste seines Hauses um irgend[266] etwas zu befragen, was ihm mitzutheilen sie sich nicht veranlaßt fühlten; er und die Seinigen kannten ohnehin die Arten'schen Familienverhältnisse genau genug, und da Renatus sich Paul ohne dessen Zuthun angenähert hatte, fand dieser, nachdem man darüber einig geworden war, daß Seba das Arten'sche Haus nicht besuchen würde, um die Möglichkeit eines Zusammentreffens mit dem Grafen Gerhard zu vermeiden, keinen Grund mehr in sich, den Freiherrn zurückzuweisen, besonders da eben Seba eine Vorliebe für denselben bewahrt hatte, welche sie geneigt machte, das Geschehene zu verzeihen und zu vergessen.

Man hatte also Renatus und die Seinigen zu einem der ersten Gesellschaftsabende eingeladen; Cäcilie und Davide, die ziemlich gleichen Alters waren, sagten einander zu, und Eleonoren's Krankheit hatte dann die Verbindung langsam fortgeführt. Renatus war gelegentlich zu Seba gekommen, sich nach dem Ergehen der jungen Gräfin zu erkundigen; man hatte es auch nöthig gehabt, von ihm über Eleonoren's Verhältnisse unterrichtet zu werden, und ohne daß es zu einem engeren Verkehre zwischen den beiden Familien gekommen wäre, waren sie auf diese Weise doch in einem Zusammenhange geblieben, der es den Einen wie den Anderen möglich machte, beständig von den Vorgängen innerhalb der beiden Häuser bis zu einem gewissen Grade unterrichtet zu sein.

Man wußte es in dem Tremann'schen Hause, daß Renatus mit seiner Schwiegermutter und mit Hildegard nicht auf gutem Fuße stehe; Davide erfuhr es von Cäcilien, welche Umstände die Mißverhältnisse zwischen ihr und den Ihrigen veranlaßt hatten, und wie selbst ihres Gatten Oheim wider sie Partei genommen habe. Cäcilie klagte, daß er ihnen dadurch mannigfach im Wege stehe, daß er sie großer Vortheile beraube; aber man sah den Freiherrn und seine junge Gattin immer heiter, und selbst mit der Baronin Vittoria schienen sie gut zurecht zu[267] kommen, obschon das Leben mit dieser, seit sie in die Stadt gezogen, nichts weniger als leicht war.

Vittoria hatte, wie sie behauptete, keine großen Bedürfnisse, sie machte, wie sie beständig sagte, nur sehr einfache Ansprüche; aber ihrer kleinen Bedürfnisse und ihrer einfachen Ansprüche waren viele, und sie hatte es nicht gelernt, sich die Befriedigung eines augenblicklichen Verlangens zu versagen, oder je zu überlegen, ob diese Befriedigung zu dem Kostenaufwande, den sie veranlaßte, in irgend einem Verhältnisse stehe.

Es war zum Beispiel allerdings nur natürlich, daß eine Frau von Vittoria's musikalischer Begabung und Bildung die Oper und die Concerte zu besuchen wünschte. Es ging ihr damit, wie sie es mit Entzücken nannte, ein neues geistiges Leben auf, und die schöne, sechsunddreißigjährige Frau war auch noch jung genug, es genießen zu wollen und auf eine neue Jugend, auf eine höhere künstlerische Ausbildung für sich denken und hoffen zu dürfen. Sie hatte sich bis dahin nur in alter Kirchenmusik und hier und da im Vortrage von Volksliedern ihrer Heimath versucht. Jetzt, seit ihrer Uebersiedelung in die Stadt, lernte sie die dramatische Musik, die großartigen musikalischen Dichtungen der Deutschen und der Franzosen kennen, und da eine jede Künstlernatur nothwendig das Verlangen hegen muß, sich ihrer Kraft bewußt zu werden, und zu gestalten und darzustellen, was sie in sich trägt, so bemächtigte Vittoria sich schnell, und mit aller Gewalt ihres Talentes, des neuen musikalischen Gebietes, das sich vor ihr aufthat. Vor allem waren es die Mozart'schen und die Gluck'schen Opern, von denen sie sich ergriffen fühlte; aber sie glaubte zu bemerken, daß ihr für den Vortrag derselben eine gewisse Fertigkeit fehle, die sie nur durch Uebung erlangen könne; und weil in jenen Tagen einer der Hauptträger dieser Opern, der erste Tenor der königlichen Bühne, zugleich ein gründlicher Musiker und ein gebildeter Lebemann[268] war, hatte sie bald gewünscht, seine Bekanntschaft zu machen, um sich von ihm Raths zu erholen.

Das erstere hatte sich fast ohne ihr Zuthun gemacht. Der beliebte Sänger war in der Gesellschaft gern gesehen; man traf ihn in den verschiedensten Kreisen, und da unter den Dilettanten der vornehmen Gesellschaft eine zweite Sängerin wie die Baronin Vittoria nicht zu finden war, fügte sich eine Annäherung der beiden ganz von selbst. Der Sänger – die Baronin nannte ihn, weil sein deutscher Familienname ihrem Ohre nicht gefiel, nach der Weise ihrer Heimath nur mit seinem Taufnamen: Signor Emilio – machte sich ein Vergnügen daraus, eine der Partieen, die er mit Vittoria in einer befreundeten Familie singen sollte, eigens mit ihr zu studiren. Sie empfand das als eine große Förderung, sie sprach ihm dies mit Wärme aus, und er ließ sich denn auch sehr bald überreden, der schönen, reich begabten Frau ausnahmsweise Unterricht zu ertheilen.

Niemand hatte daran ein Arg, Vittoria selbst war davon entzückt. Freilich vermochte Emilio, eben weil er bei dem Theater angestellt und durch seine Proben und Dienstgeschäfte sehr in Anspruch genommen war, die festgesetzten Stunden nicht immer regelmäßig einzuhalten; aber bei einer Frau, die so vollkommen frei über ihre Zeit gebot, wie die Baronin, hatte das wenig zu bedeuten. Sie war ohnehin dem Zwange, der Regelmäßigkeit und jedem Müssen abhold; sie mochte auch nicht immer singen, wenn Emilio zur Stunde kam, und dem beiderseitigen Hange zur Ungebundenheit Folge gebend, war zwischen ihnen von einem eigentlichen Unterrichte bald nicht mehr die Rede.

Emilio kam, wenn er eben konnte; man sang, man musicirte, wenn man eben mochte. Vittoria versäumte keine Oper und kein Concert, in welchem Emilio beschäftigt war; sie wurde durch ihn mit anderen Musikfreunden und Musikern bekannt gemacht, und in die vielfachen Uebungen hineingezogen, in denen[269] die Musikliebhaber der Hauptstadt sich damals schon ergingen. So bildete sich für Vittoria neben der Gesellschaft, in welcher sie durch ihre Verhältnisse und durch Renatus heimisch geworden war, noch ein weiterer Umgangskreis, in dem sie, wie sie behauptete, zum ersten Male ihre wahre Heimath gefunden hatte, und in dem sie um ihres Talentes und auch um ihrer Schönheit willen eine große Bewunderung erregte, einer enthusiastischen Aufnahme theilhaftig wurde.

Die Baronin Vittoria von Arten war bald in aller Leute Mund. Die Künstlerinnen, und die Hauptstadt war damals reich an großen Sängerinnen, waren von ihr und ihrer Anmuth schnell bestochen. Sie rühmten die gänzliche Anspruchslosigkeit, mit welcher sie sich ihnen hingab, sie waren bereit, der schönen, vornehmen Italienerin jeden Dienst zu leisten, und es kostete Vittoria also nur ein Wort, die ersten musikalischen Kräfte der Stadt in ihres Sohnes Hause zu versammeln. Der Freiherr fand das Anfangs eben so genußreich, als seinen Absichten entsprechend. Um sich ein Ansehen zu geben und um Vittoria eine Freude zu machen, setzte man regelmäßige Empfangsabende fest, an denen man musicirte, und deren Gäste zu sein die Prinzen selber nicht verschmähten. Aber man mußte den Künstlern, auf deren Mitwirkung man sich angewiesen sah, doch auch eine Entschädigung für ihre Mühe, eine Erwiederung für ihre Gefälligkeit bieten, und da Renatus nicht große Gesellschaften zu geben wünschte, in denen er seine Standesgenossen und die Künstler in auffälliger Art vereinen oder in einer hier nicht angebrachten Weise von einander hätte trennen müssen, ließ er es, wenn auch mit einem Widerstreben von seiner und seiner Gattin Seite, allmählich doch geschehen, daß Vittoria in ihren Zimmern Abends nach eigenem Ermessen ihre musikalischen Bekannten bei sich sah.

Anfangs war das nur bisweilen vorgekommen und die[270] Zahl ihrer Gäste war nicht groß gewesen. Man war jedoch damals überhaupt noch geselliger, als jetzt; es verging daher bald kaum ein Abend, an welchem Vittoria ihre Freunde nicht empfing. Eine Weile sah Cäcilie das mit an; da sie aber, Dank ihrer Erziehung, eine achtsame Haushälterin geworden war, fand sie sich bald veranlaßt, ihrem Manne die Mittheilung zu machen, daß Vittoria's Weise, ein offenes Haus zu haben, Ausgaben verursache, welche sie mit den ihr von Renatus für den gesammten Haushalt festgesetzten Summen nicht zu decken vermöge.

Renatus, dem es Ernst damit war, seine Vermögensverhältnisse zu ordnen, erklärte also seiner Stiefmutter, daß er sie bitten müsse, eine Aenderung in ihrer Lebensweise einzuführen, und er gab ihr auch die Mittel und Wege an, wie eine solche ohne alles Aufsehen leicht einzuleiten sein würde, wenn sie sich entschließen wolle, ihre Abende gelegentlich außer dem Hause zuzubringen. Aber Vittoria, die von ihrem Gatten stets wie ein Kind behandelt worden, war auch ein Kind geblieben. Sie weinte, wo sie je auf einen Widerstand gegen ihren Willen stieß, sie hielt es Renatus, als er auch wieder einmal mit großer Schonung nur einige Rücksicht für sich forderte, in leidenschaftlicher Heftigkeit und jede Rücksicht vergessend als eine unedle Handlung vor, daß er ihr, die auf seine Großmuth angewiesen sei, das Gnadenbrod, welches er ihr reiche, zum Vorwurf mache; sie erinnerte ihn an die Liebe, die er einst für sie gehegt, sie gab ihm ihre freudlose Jugend zu bedenken, sie klagte seinen Vater und ihr Schicksal an, und aufgelöst in Thränen warf sie sich dann Renatus doch wieder in die Arme, der, in allen seinen Empfindungen beleidigt, sie endlich nur zu beruhigen suchen mußte, wollte er die Aufmerksamkeit seiner Leute nicht auf diese Scene ziehen.

Vittoria ließ sich danach zwei Tage lang nicht sehen; ihre[271] Dienerin meldete, daß sie krank sei. Erst am dritten Tage erhob sie sich; aber auf der Herrin Befehl wies Gaetana die Personen ab, welche gekommen waren, die Baronin zu besuchen. Nur Emilio wurde vorgelassen, und bald war er's allein, mit dem Vittoria fast allabendlich nach dem Theater den Thee in ihren Zimmern einnahm. Auch dagegen mußte der Freiherr Einspruch thun. So schwer es ihm fiel, mußte er es seiner Stiefmutter zu bedenken geben, daß eine solche Vertraulichkeit mit einem Manne, der in der Gesellschaft durch seine glücklichen Abenteuer von sich sprechen mache, nicht statthaft sei, und er hatte dabei natürlich neuen Thränen, neuen Scenen zu begegnen, die ihm mit jedem neuen Anlasse peinlicher und lästiger werden mußten.

Es kam Renatus hart an, aber er konnte sich jetzt der Ueberzeugung nicht mehr verschließen, daß sein Vater nicht wohl daran gethan habe, den Fehltritt Vittoria's zu verbergen und ihm die Sorge für eine Frau, deren leidenschaftliche Verirrung er gekannt hatte, ihm die Sorge für einen jungen Menschen aufzubürden, der nicht sein Bruder war und der, wie seine ganze Entwickelung es verrieth, mit der Begabung seiner Mutter auch ihre völlig rücksichtslose Phantastik ererbt hatte.

Das Selbstvertrauen und die Zuversicht, mit denen der Freiherr im Beginne seiner Ehe auf seinen neu errichteten Hausstand und in das Leben und in seine Zukunft geblickt hatte, hielten vor den oftmals wiederkehrenden Verdrießlichkeiten mit Vittoria nicht Stand. Er wünschte lebhaft, daß er sie nicht von Richten fortgenommen, daß er sie nicht zu seiner Hausgenossin gemacht hätte. Nun es aber einmal geschehen war, hielt er es doch nicht für gerathen, eine Aenderung herbeizuführen. Da er bereits, wie man es wußte, mit den nächsten Anverwandten seiner Frau und mit seinem Oheim, dem Grafen Gerhard, in keinem guten Einvernehmen lebte, konnte er sich[272] mit der Wittwe seines Vaters nicht wohl verfeinden, ohne die Meinung der Gesellschaft wider sich zu haben, welche durch die blendenden Eigenschaften Vittoria's sehr für dieselbe eingenommen war. Sie hatte sich zum Theil auf seine und auf Cäciliens Kosten den Ruf der höchsten Liebenswürdigkeit gewonnen, ihre Weise, sich gehen zu lassen, hatte etwas so Natürliches, daß man sie überhaupt für einfach und natürlich hielt, und Renatus, der eine gerechte Scheu trug, die unbesonnene und leidenschaftliche Frau aufsichtslos sich selber zu überlassen, ward auch noch durch andere Rücksichten abgehalten, sich von ihr zu trennen. Er mußte sich sagen, daß eine besondere Haushaltung für die Baronin ihm noch lästiger werden und ihm noch mehr kosten würde, als ihr Aufenthalt in seiner Familie. Er konnte es sich auch nicht verbergen, daß Vittoria, wenn er sie nicht mehr bei sich behielt, genöthigt ward, diese Trennung vor ihren Freunden als eine von ihr gewünschte darzustellen; und ob sie das nicht in einer Weise thun würde, welche für ihn und für Cäcilie nachtheilig werden konnte, dessen hielt Renatus sich bei ihrer Unvorsichtigkeit auch nicht versichert.

Seine Güte, seine Großmuth und seine rücksichtsvolle Schonung für Vittoria, seine Ehrfurcht vor seines Vaters Willen hatten ihm die Hände gebunden. Er konnte seine eigenen freundlichen und liebevollen Urtheile über sie nicht zurücknehmen, ohne von denen, vor welchen er sie ausgesprochen hatte, für einen Thoren gehalten zu werden; er konnte auch kaum Glauben für Anschuldigungen zu finden hoffen, welche seinem früheren Lobe entschieden entgegengestanden hätten, und er mußte jetzt zusehen, wie er mit den Folgen seiner unzeitigen Großmuth fertig werden konnte, auf die Vittoria in ihrem Leichtsinne sich zu verlassen gewohnt worden war. Er trug auch in diesem Falle die Folgen eines fremden Verschuldens; es war wieder die Rückwirkung an und für sich guter, aber nicht an rechter Stelle angewendeter[273] Empfindungen und Thaten, unter welcher er zu leiden hatte und die ihn mißtrauisch nicht nur gegen die Menschen, sondern auch gegen sich selber zu machen begann.

Seine grübelnde Sinnesart, sein alter Glaube, daß er einmal nicht zum Glücke geboren sei, fingen wieder an, sich in ihm zu regen. Das rasche bewegte Leben während des Krieges hatte diesen Grundton seines Wesens übertäubt, der ihm, wie er glaubte, durch die Schwermuth angeboren sein mochte, mit welcher seine Mutter ihn unter ihrem Herzen getragen hatte. Nun, da er trotz seiner guten Vorsätze und seiner redlichen Bestrebungen, sich ein ruhiges und würdiges Leben zu errichten, immer auf neue Behinderungen stieß, tauchte jener melancholische Zug auf das Neue so stark in ihm empor, daß er die Nothwendigkeit fühlte, sich dagegen aufzulehnen, wenn er durch sein Schwarzsehen nicht Cäciliens ihn beglückende Heiterkeit zerstören wollte. Sie machte ihm ohnehin aus Liebe stets den Vorwurf, daß er in seinen Besorgnissen weiter gehe, als es nöthig sei. Sie übernahm es gutwillig, Vittoria in ihren Ansprüchen allmählich einzuschränken, sie bat ihren Gemahl, keine weiteren Erklärungen mit der Stiefmutter herbeizuführen, keine bindenden Versprechungen von ihr zu begehren. Sie erbot sich, Vittoria des Abends zum Ausgehen oder zu einer gemeinsamen Geselligkeit zu überreden, sie verhieß, in ihrer Wirthschaft solche Ersparungen zu machen, daß man die Möglichkeit behielte, der Stiefmutter eine gewisse eigene Geselligkeit zu gestatten, und da Vittoria, von der jungen Baronin gutem Willen gerührt und beruhigt, sich dieser immer wieder mit der alten Neigung anschloß, übernahm Cäcilie ihr Mittleramt in der That mit Zuversicht und Freude.

Sie, die zuerst auf Vittoria's Unbesonnenheiten warnend hingewiesen hatte, gab es dem Freiherrn doch zu bedenken, daß Vittoria's Unstätigkeit erst seit ihrer Trennung von Valerio hervorgetreten[274] sei. Sie verlangte also, daß man Valerio so oft als möglich nach Hause kommen lasse. Sie setzte es durch, daß er, in dem sich auch eine auffallend schöne Stimme herauszubilden begann, die Mutter, wenn es sich irgend thun ließ, in die Theater begleitete; und Mutter und Sohn verlangten es nicht besser. Die Baronin verzichtete, wenn sie Valerio bei sich hatte, am Abende auf geselligen Besuch in ihren Zimmern, sie sang mit dem Sohne, dessen musikalisches Gedächtniß ein ganz ungewöhnliches war, und selbst Renatus und Cäcilie hatten ihr Vergnügen daran, wenn Valerio mit seiner feurigen Lebendigkeit ganze Scenen aus den Opern, in welche die Mutter ihn an den Sonntagen zu führen pflegte, vor ihnen nachzuspielen und zu singen unternahm.

Seine Vorliebe für das Zeichnen schien dadurch plötzlich in den Hintergrund zu treten. Er hantierte allerdings noch immer mit dem Bleistifte und der Feder, aber es waren nur noch Opern-Scenen, die er entwarf, wenn er nicht Karrikaturen auf seine Mitschüler und Vorgesetzten zeichnete, deren komische Wirkung bei unverkennbarer Aehnlichkeit in der ganzen Anstalt von sich sprechen machte.

Von Valerio's Verhalten in dem Kadettenhause war überhaupt nicht viel zu rühmen. Seine Zeugnisse erkannten zwar seine Begabung an, rügten jedoch seinen Mangel an Ausdauer und wahrer Arbeitslust, und kaum eine Woche verging, in welcher es für ihn nicht irgend ein Vergehen gegen die Disciplin der Anstalt zu büßen gegeben hätte. Wenn er auf solche Weise an einem Sonntage den Besuch bei der Mutter verscherzte, wußte er das nächste Mal durch verdoppelte Liebenswürdigkeit seine Bestrafung vergessen zu ma chen, und selbst Renatus, der sich vorgenommen hatte, ihn streng zu behandeln, fühlte sich oftmals wider seinen Willen von ihm hingerissen. Man mußte sich sagen, daß ein Knabe, der in so schrankenloser Willkür aufgewachsen[275] sei, es schwerer als Andere finden müsse, sich dem strengen Zwange zu fügen; sogar unter seinen Lehrern fanden sich Einer und der Andere, die für ihn sprachen, die der Ansicht waren, daß man mehr als mit Andern Geduld mit ihm haben und ihm Zeit vergönnen müsse, sich allmählich unterordnen und beherrschen zu lernen, wenn man seine ungewöhnliche Lebendigkeit nicht zu einem Nachtheil für ihn selber verkehren und ihn dahin bringen wolle, seinen fröhlichen Freimuth hinter der Maske einer erheuchelten Sinnesänderung zu verbergen, die vorzunehmen und aufrecht zu erhalten, eben ihm, bei seiner Lust am Darstellen, verlockend werden könnte.

Wie dem aber auch sein mochte, Valerio war in dem Kadettenhause eben so schnell der Liebling seiner Mitschüler geworden, als seine Mutter die Gesellschaft für sich gewonnen hatte. Seine auffallende fremdartige Schönheit, die Leichtigkeit, mit welcher er neben dem Deutschen das Französische und das Italienische sprach, die Bereitwilligkeit, mit der er Jedem zeichnete, was man von ihm verlangte, und seine erfinderische Phantasie, die ihn immer neue Spiele und neuen Zeitvertreib ersinnen ließ, führten ihm die Herzen seiner Altersgenossen zu, während seine ungewöhnliche Frühreife die älteren Kadetten belustigte. In der Einsamkeit seines heimathlichen Schlosses hatte er, Dank der Achtlosigkeit seiner Mutter, mehr von dem Leben erfahren, als es Knaben seines Alters sonst geschieht, und der freie Gebrauch, den er bis zu der Rückkunft seines Bruders von des verstorbenen Freiherrn reicher Büchersammlung machen dürfen, hatte die romantische und abenteuerliche Geistesrichtung Valerio's noch erhöht.

Es war eine Hauptbelustigung der älteren Zöglinge des Hauses, Valerio erzählen zu machen, sei es, daß er von seinem Leben auf dem Lande oder von seinen gegenwärtigen Besuchen in seines Bruders Hause und bei seiner Mutter plauderte. Sein lebhaftes Mienenspiel, seine Beobachtungs- und Nachahmungsgabe,[276] die Keckheit seiner Bemerkungen gewährten den jungen Leuten einen heitern Zeitvertreib. Sie hielten vor ihm auch nicht, wie vor den andern Knaben zurück. Mit Cherubin, dem schönen Pagen, wie sie ihn hießen, brauchte man sich auch nicht in Acht zu nehmen. Er wußte, was er sagen und wovon er schweigen sollte; er hatte das in Richten zwischen den beiden feindlichen Haushaltungen früh erlernt, und er hörte es gern, wenn man ihn den Pagen hieß.

Er hatte schon in der Heimath seinen Figaro gelesen, er hatte das Pagenlied stets vor allem Andern geliebt; und nun vollends, seit er mit der Mutter Mozart's Figaro auf der Bühne gesehen und gehört hatte, seit die Mutter und Emilio es rühmten, wie genau er das Mozart'sche Pagenlied behalten habe, ließ er sich den Namen im Kadettenhause doppelt gern gefallen. Vittoria selber nannte ihn bald nicht anders, und ihren Cherubino Sonntags, wenn sie Leute bei sich hatte, das »Voi che sapete« zum Flügel singen, ihren Cherubino von der Gesellschaft bewundern zu lassen, das war, wenn Renatus es nicht hinderte, ein Genuß, den sie sich und ihrem Sohne selten nur versagte.[277]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 7, Berlin 1871, S. 265-278.
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