Detlev von Liliencron

Unter flatternden Fahnen

Seit den ersten Morgenstunden waren wir auf den Geschützdonner losmarschiert. Und noch immer – unsre Uhren und besser noch die furchtbare Hitze zeigten uns den Mittag an – noch immer zog das Armeekorps in ganz grader Linie wie ein riesenlanger Wurm weiter und weiter. Der Kommandeur wußte die Richtung. Nicht ebenmäßig, wie auf geebneten Bahnen, gingen wir vorwärts. Die vordersten der Kolonne hatten mit den sich ihnen entgegenlegenden Ähren viel zu schaffen. Von der Nacht noch durchnäßt, zogen sich diese um die Beine, verwickelten sie wie mit Draht, und waren so ein äußerst ermüdendes Hindernis. Wir nächstfolgenden trotteten auf den niedergetretnen ganz gut; ab und zu aber saugte sich auch um unsere Füße noch ein rachsüchtiger Halm. Unerträglich wurde die Sonnenglut. Kaffee, Schnaps, Wasser, Speck, Wurst und was sonst der treue Brotbeutel bergen mochte, war dahin, dahin. Der Durst peinigte uns über alle Maßen. Schon hatten wir, was wir noch[67] an Tabak und Zigarren vorgefunden (und es wurden die letzten Winkel der Taschen durchsucht), zum Kauen auf die Zunge und in die Backen geschoben, um dadurch einigermaßen wenigstens den Speichelfluß zu erhalten. Da stießen wir auf den ersten zu durchwatenden Bach. Wir folgenden sahen allerdings nur einen breiartigen Tümpel, aber mit stürzenden Helmen beugten wir uns hinab – Wasser, Wasser. Immer im Marschieren bleibend, füllten wir unsre Flaschen, so gut und schnell es ging.

Oft wurde, durch irgend einen Umstand, vorn ein kurzer Halt befohlen. Dann stockte Alles. Die nächsten stießen ihre Nasen an den Tornistern der Vordermänner. Dann wieder: Ohne Tritt! Marsch! und die letzten mußten Dauerlauf machen. Wie das anstrengend war! Aber Kopf in die Höh! In die Schlacht, in die Schlacht!

Adjutanten, Gendarmerieoffiziere, Ordonnanzen, Generalstäbler kamen uns entgegen, um Munitionskolonnen, Ärzte, fliegende Lazarette heranzuholen. Immer schrieen wir ihnen zu, wie es vorn stünde. Die Mehrzahl von ihnen nahm sich keine Zeit zum Antworten. Sie rasten wie eine gradeaus fliegende Hummel vorüber. Nur einer von ihnen, ein Trainoffizier, wandte sich zu uns und rief:[68] »Gut! Gut!« Aber bei der Wendung des Kopfes und im scharfen Anhalten seines Pferdes verlor er den Helm, suchte ihn zu erhaschen – aber da lag er schon im Dreck. Eine riesige Glatze wurde sichtbar. Unter schallendem Gelächter und allerlei nicht zu zarten Witzen ritt der Offizier erzürnt seinen Weg weiter.

Schon lange, mich ein wenig seitwärts losmachend aus meinem Bataillon, hatte ich – wir zogen hügelaufwärts – bemerkt, wie von der Kuppe des Berges das Corps nach und nach wie in einem Kessel verschwand.

Auf der Höhe angelangt, hieß es: Halt! Gewehr ab! – und mit offnem Munde, mit weit geöffneten Augen, erblickte ich an diesem Tage zum ersten Mal das Chaos der Schlacht. Es war ein unbeschreiblich großartiger Anblick. Wie das wogte und hin- und herschob. Der Pulverdampf lagerte nicht schwer, so daß wir deutlich die einzelnen Batterien unterscheiden konnten, hüben und drüben. Rauch und Flammen, oft wie dicke schwarze und gelbe Türme, zornten zum Himmel auf.

Einer meiner Kameraden, an mich herantretend, deutete auf unsre drei roten Husarenregimenter und meinte, – das Wort ist bekannt geworden –[69] sie schwämmen wie drei rote Erdbeeren zwischen den dunklen Massen.

Plötzlich klang überall das sich überhastende Kommando: die Fahnen entrollen! und in der nächsten Sekunde flatterten die heiligen Adler über uns im erquicklichsten Winde, der seit kurzem unsre Gesichter kühlte. Und zugleich ertönte – die Musik sollte hier zurückbleiben – der Hohenfriedeberger Marsch. Auch dem nüchternsten Rechenmeister stößt er seine Feuergarben ins tiefste Herz! Unter seinen Klängen, mit schwenkenden Helmen und kreisenden Säbeln, Hoch! Hoch! der König! stiegen wir jauchzend hinab in den Höllenschlund.

Zunächst rückte mein Bataillon noch, des hemmenden Platzes wegen, in rechts abmarschierter Sektionskolonne vor, um sich gleich darauf in Kompagnie-Kolonnen zu verwandeln.

Die ersten Toten! Die ersten Verwundeten! Einer von den Verwundeten lag auf dem Rücken und streckte flehend die Arme nach uns aus. Ich sprang rasch vor und hielt ihm meine mit Lehmwasser gefüllte Flasche an die Lippen. Er riß sie wütend mit den Händen an sich und trank so hastig, daß ihm die Flüssigkeit über Hals und Rock lief. Da ihn der Schuß in den Unterleib[70] getroffen hatte, kam das Wasser schnell wieder zurück.

Bei einem einzeln stehenden Hause ziehen wir vorbei, in dessen Vorgarten ein schneeweißer Greis, die Lehnen umkrampfend, in einem Großvaterstuhl sitzt. Sein Kopf ist vorgebeugt. Er stiert uns mit wuterfüllten Augen an. Ihm zur rechten Seite steht ein junges Mädchen. Ihr schönes, blasses, von schwarzen Haaren umrahmtes Gesicht haßt uns finster in die Augen! Keiner von uns wagt, ihr ein Wort zuzurufen.

Unser Bataillonsadjutant jagt auf mich zu. Ich setze meinem Gaul die Zinken ein und presche ihm entgegen. »Die dritte Kompagnie« (diese führte ich) »soll jenen Höhenzug besetzen ... Dort wo das Kreuz zwischen den beiden Linden steht!« Schön ... Dritte Kompagnie halbrechts! Marsch!

Ich war allein. Allein in der großen Schlacht. Wer weiß es, ob ich an diesem Tage noch weitre Befehle erhalten werde? Ob ich stelbständig handeln muß? Ein stolzes Gefühl überrieselt mich.

Neben mir, rechts und links, gehen mein Oberleutnant Behrens und mein Leutnant Kühne. Beide sind ausgezeichnete Offiziere, Behrens außerdem einer meiner engeren Freunde. Wenn er sich[71] nur seine schnodderigen Redensarten abgewöhnen möchte. Tollkühn, waghalsig, stößig wie ein verwilderter Hirsch, ist er der Gegensatz zu dem kleinen zierlichen Kühne. So etwas von Ruhe, Überlegung im kritischsten Augenblick wie bei diesem ist mir im Leben noch nicht vorgekommen. Kühne hatte auch, wenn wir andern schon lange nichts mehr zu essen und zu trinken hatten, immer noch irgend eine Eß- und Trinkgelegenheit. Wo immer er sie beherbergte und hervorholte, ist mir ein Rätsel geblieben.

Wir waren auf der Höhe angekommen und hatten uns, Zug neben Zug, eingenistet. Ich konnte mir wohl denken, daß wir hier eine Aufnahmestellung bilden sollten, wenn etwa ... selbst der weitere Gedanke blieb mir im Halse stecken.

Neben mir, etwa zweihundert Schritte entfernt, hatte die vierte Kompagnie Position genommen. Ihr sehr langer, schmaler Hauptmann, der den ihm bis auf die Hacken reichenden Regenrock angezogen hatte, stand, auf seinen Degen gestützt, wie eine Statue, auf einer kleinen Erderhebung, allein, weit vor seiner Truppe. Wie sonderbar, daß mir bei seinem Anblick Dante vorschwebte. Seine Silhouette zeichnete sich klar gegen den nun mit Wolken überzognen Himmel ab.[72]

Meine Leutnants und ich, platt auf dem Leibe liegend, dicht nebeneinander, vor meiner Kompagnie, sahen eifrig durch unsre Krimstecher in das wogende Gemenge vor uns. Kein Vorteil, auf beiden Seiten, schien bisher erreicht. Leutnant Behrens meinte: »Es ist ein Skandal, daß wir die Kerls noch nicht auf die Hühneraugen treten können.« »Noch ist der Abend nicht gekommen,« erwiderte ich. Leutnant Kühne, der sich auf kurze Zeit in die Kompagnie entfernt hatte, kam zu mir zurück und überreichte uns auf einem zierlichen Teebrettchen zwei Gläser Madeira und zwei Kaviar-Semmelchen. »Ich kann den Wein wirklich empfehlen, von Schneekloth aus Kiel,« sagte mit großer Ruhe mein Leutnant. »Aber, um des Himmels willen, wie kommen Sie jetzt zu diesen schönen Sachen, lieber Kühne, und noch dazu das allerliebste Tablettchen und die Gläser.«

»Ich kann den Wein wirklich empfehlen,« erwiderte mit unerschütterlicher Ruhe mein Leutnant.

Kaum hatten wir den letzten Schluck durch die Kehle gegossen, als ein durchdringender, klirrender Knall uns alle nach rechts sehen ließ. Eine dicke Staubwolke wirbelte kerzengrade in die Höhe, wo eben noch der lange Hauptmann gestanden hatte. Er lag zersetzt am Boden. Behrens rief,[73] sich auf die Schenkel klopfend, aus der »Schönen Helena«: »Jetzt gehts los! Jetzt gehts los!«

Nicht gerade allzu taktvoll in diesem Augenblick.

Ich sah mich um, ob nicht Befehle für mich unterwegs seien. Kein Adjutant kam heran. Mein auseinander gezognes Bataillon schien in Bewegung nach vorwärts stoßen zu wollen. Ich kommandierte daher: »Auf! Das Gewehr über! Ohne Tritt! Marsch!« Und nun rückten wir wirklich ins Gefecht ein. Schon nach wenigen Minuten kam uns ein Gefangenentransport entgegen. Unter diesen sahen wir die ersten Turcos. Mein schleswig-holsteinischer Bursche rief aus dem Zuge: »Kiek, dat sünd vun de swatten Kakaleikers, de de Katten up de Schullern drägn.«

Die Toten und Verwundeten mehrten sich in steigender Weise. Herrenlose Pferde jagten umher. Zwei junge Pudel spielten miteinander, als wären sie in ihres Herrn Garten. Ein Marketenderwagen kam uns langsam entgegen gefahren. Der Besitzer schielte scheu und gierig nach den Gefallenen und Verwundeten. Nun waren wir »mitten drin.« Meine drei Züge, in Plänklerlinien aufgelöst, gingen nebeneinander her. Mehr und mehr Geschrei, Fluchen, einschlagende Chassepots, Kommandos, springende Granaten vor uns, mitten[74] unter uns, hinter uns. Schon führe ich Mannschaften von andern Kompagnien, die, abgekommen, sich mir anschließen. Selbst Leute fremder Regimenter mischen sich mit den meinigen.

Der Höchstkommandierende reitet in ruhigem Galopp hinter meinen Zügen vorbei. Will er zum linken Flügel? Ist etwas nicht in Ordnung? Seine Augen schienen finster, herbe, streng. Die zahlreiche Begleiwng galoppiert, jeder für sich, weit ein jeder von dem andern: Sie ist die Zielscheibe der feindlichen Batterien. Adjutanten sprengen zuweilen an den General heran, der ihnen, immer im selben ruhigen Galopp bleibend, Befehle gibt, mit der Hand hierhin, dorthin weisend. Sie stoßen wie ein Boot vom Hauptschiff ab, um dann bald zu verschwinden in der gewaltig aufgeregten See.

Ich kann kaum etwas mehr sehen. Behrens und Kühne sind noch vor ihren Zügen. Die Gesichter meiner herrlichen Kompagnie erkenne ich: Schweiß, Schwärze, Blut, Staub, aus diesem Farbenmischmasch heraus glühende Siegeswunschaugen. Ich bin jetzt gänzlich auf mich allein angewiesen. Die Sonne sendet schon schräge Strahlen. Noch immer höre ich keine Vorwärtssignale, keine Trommel. Und doch ist Alles, Alles, die ganze Armee in unaufhaltsamem Vorrücken. Soll ich[75] blasen lassen? Soll ich trommeln lassen? Ich habe dazu keinen Befehl. Ich wende mich zu meinem Hornisten: »Weber, Avancieren blasen!« Und das knöcherne, reizlose Signal ertönt. Ertönt und ertönt immer wieder in derselben grandiosen Nüchternheit. Aber es zieht die todmüdesten Beine selbst vorwärts. Und die Trommler schlagen an, und immer weiter sich fortsetzend höre ich die Vorstoßsignale.

Ein hurtiger Wind, der sich plötzlich wieder aufgemacht hat, schenkt uns gute Übersicht. Ich sehe zu meinem Erstaunen, daß ich ganz vorne bin. Meilenweit mit mir, rechts und links, ist Alles eine einzige Schützenlinie. Vor mir ragt auf einem Geländebuckel ein kleines Dorf. Ein rasendes Feuer wird von dort auf mich gerichtet. O, du böser Wind! Als ich mich nach rückwärts umschaue, sehe ich, in ziemlicher Entfernung, die großen Massen der Reserven heranrücken. Aus diesen blitzten in der Abendsonne plötzlich zwei reitende Batterien heraus. Sie rasen zu mir her, was das Riemzeug hält. Bei mir angekommen, protzen sie hinter meiner Schützenlinie ab und beginnen, über unsre Köpfe weg, das vorliegende Dorf, mein Ziel, mit Schnellfeuer zu übergießen. Zur selben Zeit auch löste sich ein Dragonerregiment ab und trabte in derselben Richtung wie[76] die Batterien auf mich zu. Bald war der Oberst dieser Truppe, nur von einem Trompeter begleitet, bei mir vorüber. Deutsch trabend, klapklapklapklap, in immer gleichmäßiger Gangart, sich vornüber beugend, konnte ich nur auf Sekunden sein Gesicht erkennen. Es war ein alter Herr, der den Mund weit offen hielt (der Unterkiefer war in fortwährender wackelnder Bewegung). Aber unter starken, ergrauten Brauen funkelten ein Paar energische Augen. Nun kam auch sein Regiment heran, in immer gleichmäßigem Trabe. Wegen des weichen Bodens hörten wir nicht die Hufe. Auch schien alles Geräusch, das sonst einem in Fluß geratnen Reiterregiment anhaftet, erstorben zu sein: kein Janken der Sättel, kein Klirren und Rasseln; ja selbst die Kommandos und Signale schwiegen. Der alte Oberst mit dem Fledermausgesicht regierte einzig und allein sein Regiment mit dem linken Handschuh. Und nun diese ewigen Schwenkungen und Bewegungen dieser Truppe um uns, vor uns, hinter uns. Wie oft fauchte der alte Oberst bei mir vorbei, immer im gleichen Trabe bleibend. Er suchte augenscheinlich eine Stelle, um seine Dragoner zum Angriff zu führen. Mir fiel aus Faust ein: Es war eine Ratt im Kellerloch ... als hätt sie Lieb im Leibe. So suchte er nach[77] allen Ecken und Kanten zum Einbruch zu gelangen. Alle diese lautlosen Bewegungen des Regiments hatten etwas unsäglich Unheimliches. Einmal trat Behrens zu mir und sagte, während wieder der Regimentskommandeur vorbei hastete: »Was will denn der eijentlich? Das ist ja wie der fliegende Holländer.« Über den »Fliegenden Holländer« lachten wir beide laut auf.

Indessen war ich, immer sprungweise vorgehend, an den Hügel hin gekommen. Jetzt galt es, das von den Granaten in Brand geschossene und erschütterte Dorf mit stürmender Hand zu nehmen. Bei meiner Kompagnie war die Fahne des Bataillons geblieben. Ihr Träger, ein schwarzbärtiger großer Sergeant, ließ sie hoch im Winde flattern. Da traf der erste Schuß die Fahnenstange, daß sie mitten durchbrach. Zugleich auch hatte ihr Träger die Erde küssen müssen. Sofort sprang Leutnant Kühne vor und riß das heilige Zeichen wieder empor. Ich hörte deutlich ihr Flattern durch all den Lärm. Eine Kugel löste mir die linke Hosennaht auf, ohne mich zu verwunden.

Sturm! Stöße! Trommel und Hörner! Mann gegen Mann! Noch immer flattert in Kühnes Händen unsere Fahne. Da wird er umringt.[78] Aber wir reißen ihn wieder heraus. Hoch, hoch flattert die Fahne. Das Blut macht die Erde glitscherig! Und Blut, Blut, Mordgeheul, Rauch, Flammen, herunterstürzende Dächer, Einzelkampf, in Türen, Fenstern und Zimmern.

– – – – – – – – – –– – – – – – – – – – – – – – – – – –

Das Dorf ist unser. Noch keucht uns die Brust. Wir lehnen todermattet an Garteneinfriedigungen oder wo es sich immer trifft. Die Reserven sind herangekommen.

Leutnant Kühne steht vor mir mit dem zierlichen Tablettchen: »Herrn Hauptmann vielleicht ein Brötchen mit Toulouser Entenleberpastete gefällig? Vielleicht ein Gläschen Kirvan? Beides von Borchardt ... Kann versichern ...« Ich wäre beinahe mit der Wiege, auf der ich eingeknickt lag, zusammengebrochen vor Verwunderung, Kühne in diesem Augenblick mit solchem Frühstück vor mir zu sehen ...

Und dann wieder mit den Reserven vorwärts ...


(Die Insel)


Das letzte Teilchen der Sonnenscheibe, zwischen schwefelgelben Abendwölkchen, war eben verschwunden. Der ganze Abend leuchtete dunkelrot im[79] Abglanz der brennenden Dörfer. Auch schien er das Blut der Erschlagnen zu spiegeln.

Der Feind war auf allen Enden zur Flucht getrieben.

Ich hatte mich nach dem Aufbruch aus dem eroberten Dorfe bald wieder mit meiner Kompagnie allein gefunden. Schien es doch an diesem Tage, als wenn jeder für sich, einer für alle, alle für einen gekämpft hatte.

Als die Dunkelheit eintreten wollte, gelang es mir noch kaum, einen inselartigen Erlenbruch, der rings von einer Sandwüste umgeben war, zu erreichen. Hier lag schon Alles durcheinander. Und mancher traf hier noch im Laufe des Abends und der Nacht ein. Die Ahnung, daß hier Wasser in Hülle und Fülle zu haben sei, hatte die Annäherung instinktmäßig bewirkt.

»Gewehr ab. Setzt die Gewehre zusammen,« und jeder fiel da auf die Erde, wo er stand. Ich selbst legte meinen Kopf auf das eine Ende einer gefällten und schon abgeschälten Birke. Ich konnte nicht sofort einschlafen. Die Aufregung war zu groß gewesen. Allmählich begann es sich überall zu rühren. Kleine Koch- und Wärmfeuer beleuchteten hier und da im Busch die Stämmchen der Erlen und die sie umstehenden und umsetzenden[80] Mannschaften. Am andern Ende meiner Birke merkte ich am Rütteln meines Kopfes, daß die Leute an dieser Stelle ihre Kaffeebohnen mit Steinen zerkleinerten. Klar, im letzten verblassenden Abendlicht, schien die abnehmende Sichel des Mondes durch das Wäldchen. Obgleich ich die Augen geschlossen hatte, konnte ich, wohl wegen der großen Erregung, nicht einschlafen. Im Halbtraum hörte ich, wie sich Pferdegetrappel mir näherte und bei mir anhielt. Durch meine halbgeöffneten Lider erblickte ich auf einem großen, langgestreckten, starkknochigen Gaul einen alten General. Sein weißer, zerzauster Schnurrbart bedeckte die Lippen ganz. In seiner Begleitung war ein Generalstabsoffizier. Zu diesem sagte er: »Weiter, lieber Ernesti, kommen wir heute doch nicht. Die Nacht ist hereingebrochen. Wir werden wohl oder übel hier kampieren müssen.« Darauf stiegen die Herren ab. Der General nahm das rechte Vorderbein seines Pferdes in die Höhe und untersuchte den Huf. Dann rief er: »Wanzleben!« Eine Stimme antwortete: »Exzellenz?« und zugleich erschien ein Husar. »Sorgen Sie zuerst dafür, Wanzleben, daß die Pferde Wasser bekommen.« Der starkknochige Gaul des Generals, die Mähne hebend, die Lefzen wie gähnend auseinanderreißend,[81] schnubberte, als wenn er die Worte seines Herrn verstanden hätte. Nun wurden die Satteltaschen abgeschnallt, die Mäntel ausgebreitet. Darauf legten die beiden ihre Köpfe neben mich auf die Birke. Ich war dermaßen ermattet, daß ich nicht aufgesprungen war. Das Klopfen der Steine am andern Ende ging seinen Weg. Auch der General und Ernesti schienen nichts zu spüren. Als diese eben eingeschlafen waren, wieherte hell, auf mich zukommend, wieder ein Pferd und hielt gleichfalls in unmittelbarer Nähe bei mir an. Es war ein außerordentlich starker Ulanenoffizier, der etwas Eunuchenhaftes hatte. Der Mond beschien ihn hell. Sein rundes Gesicht war bartlos, und seine dicken, um den Sattel gepreßten Beine glichen zwei vollgestopften Kornsäcken. »Jesses Jesses,« rief er, »schläft denn hier schon die ganze Gesellschaft.« Und ein so unendlich gemütliches, helles Lachen ertönte von ihm, daß ich meinen ersten Groll, den ich bei seinem Erscheinen gefühlt hatte, verscheuchte. Vollends jetzt wach geworden, stand ich auf und begrüßte ihn. Nachdem wir uns bekannt gemacht hatten, stieg er ab und legte sich, nachdem ich ihm von der Anwesenheit des Generals gesagt hatte, ruhig neben uns.

Meine Kerls kamen, einer nach dem andern,[82] zu mir, um mir in ihren Kochgeschirrdeckeln Kaffee anzubieten. Ich konnte noch nicht einschlafen. Um mich herum beroch ein kleiner langhaariger, schwarzer Pinscher, der einem Teufelchen glich, jeden von uns. Er lahmte auf dem linken Hinterbeinchen, und ich bemerkte an dieser Stelle getrockneten Staub mit Blut vermischt. Dann war er verschwunden. Nun fiel ich in einen unruhigen Schlaf und träumte das wirrste Zeug. Als ich erwachte, es mochte Mitternacht sein, hörte ich außerordentlich stark in meiner Nähe schnarchen. Zugleich sah ich Behrens, der sich irgendwo gebettet haben mochte, um uns herum schleichen; er beugte sich zu jedem, hinab, um den Täter zu entdecken. Beim General hatte er gefunden, was er suchte, und diesen, im Schatten der Bäume nicht erkennend, rüttelnd, sagte er: »Aber das geht wirklich nicht mehr an, Herr Kamerad.« Der alte Herr erhob sich etwas schlaftrunken und sagte traumverwirrt: »Ich habe doch befohlen, daß die dritte Division bei Petit St. Arnold ... Ah so« (etwas erregt), »was ist, was ist.« Er erhob sich bei diesen Worten ganz in die Höhe, so daß die breiten roten Streifen seiner Hose durch einen Mondenstrahl hell beleuchtet wurden. Oberleutnant Behrens sah nun sofort, wen er vor sich hatte; doch[83] ohne die Geistesgegenwart zu verlieren, sagte er: »Ah verzeihen, Exzellenz, ich glaubte schießen ... schießen ...«

»Ach was,« antwortete ein wenig grob die Exzellenz, »schießen, schießen ... hier wird jetzt geschlafen ... legen Sie sich nur wieder aufs Ohr, mein junger Herr Kamerad, und seien Sie nicht so erregt. Und wenn Sie sich nun wieder niederstrecken, so bitte ich Sie, Ihr Schnarchen von vorhin einzudämmen. Das kann ich auf den Tod nicht ertragen.« Behrens schlich sich etwas beschämt wieder von dannen.

Was war das? Klang nicht ein leises Wimmern und Stöhnen zu mir her? Ich stand auf und suchte die Stelle im Gehölz, von woher die Klagetöne mein Ohr trafen. Ich hatte sie bald gefunden. Ein Jäger vom 41. Bataillon lag dort schwer verwundet. Ich bog mich zu ihm nieder und gab ihm aus meiner Feldflasche zu trinken. Mit leiser Stimme, so daß ich mein Ohr an seinen Mund neigte, lispelte er: »Meine alte Mutter – wird sich freuen – beim Abschied – sagte sie – liebe Dein Vaterland bis in den Tod.« Und leiser werdend: »Marie – soll – meine Uhr –«. Er lehnte sich in meinen linken Arm zurück. Seine Hände umfaßten meine Rechte. Sein letzter Hauch:[84] »Mutter, Mutter – daß Du bei mir bist.« Noch lag er wohl zehn Minuten in meinem Arme. Ich rührte mich nicht. Und dann war er hinüber ...

Als ich weiter wollte, fand ich dicht neben ihm einen Offizier von demselben Bataillon. Er lag platt auf dem Gesicht, die Arme ausbreitend. Die linke Hand hatte sich in Moos eingekrampft, die rechte umklammerte eisern den Säbelgriff. Neben seinem Kopfe saß der kleine schwarze Pinscher und leckte ihm das linke Ohr. Er hatte seinen Herrn gefunden. Als ich mich näherte, fiel mir das Hündchen beißend in die Stiefelabsätze. Aber ich mußte wissen, ob nicht noch Hilfe retten konnte, und drehte deshalb, ohne mich an das Köterchen und seine Angriffe zu kehren, den Körper um. Ein unendlich junges Gesicht, schon erkaltet, zeigte sich mir. Zwischen den gebrochenen Augen sah ich einen kleinen Streifen der dunkelbraunen Pupille.

Der Morgen war angebrochen, und eine Schwarzdrossel flötete unbekümmert ihre treuherzige Melodie.

Auf meinen Platz zurückgekehrt fand ich hier Alles schon in reger Bewegung. Alle gönnten sich bei der reichlichen Wasserfülle das Labsal einer Waschung. Der dicke Ulanenoffizier hatte sich bis auf die Hüften entblößt und ließ sich aus[85] Kochgeschirren begießen. Von der feisten, fetten Brust tropfte es ab wie bei einer Ente. Dabei lachte er unaufhörlich in äußerst gemütlicher Weise.

Leutnant Kühne erschien bei mir. In der Hand führte er das Teebrettchen: »Herrn Hauptmann vielleicht ein Gläschen Cantenac gefällig? Ein Brötchen mit Hamburger Rinderzunge gefällig? von Borchardt, kann wirklich empfehlen.« Ich winkte mit den Augen, daß er zum General gehen möge. »Euer Exzellenz vielleicht ein Gläschen Cantenac gefällig? Ein Brötchen mit Hamburger Rinderzunge vielleicht? Alles von Borchardt. Kann wirklich empfehlen ...« »Sind Sie denn besessen, Pardon, Herr Leutnant? ja Borchardt Borchardt ... nun denn, wir sind alle Menschen. Ich nehme es dankend an.« Und dabei den Kopf ein wenig nach hinten beugend, setzte er das Gläschen an den Mund, so daß wir die Muskeln und Adern des langen hagern Halses sehen konnten.

Bald war Alles auf der Suche nach seinem Truppenteil. Schon nach einer Stunde hatte ich mein Regiment gefunden. Die Fahne, die ich an einem Erlenaste befestigt hatte für den zerschossenen Schaft, hochschwingend, trafen wir uns. Dann zogen wir weiter, hitzig dem Feinde nach.[86]

Quelle:
Detlev von Liliencron: Kriegsnovellen, Berlin 15[o.J.], S. 67-87.
Erstdruck: Leipzig [o.V.] 1888.
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