Die Nixe

[55] Der Tag ist aus, und letzt' Geläut

Verkündet uns: Genug für heut.

Fort legt der Schuster seinen Pfriemen,

Und der den Hobel, der den Riemen.

Der Bauer trennt sich von der Sense,

Der Knecht hängt an den Pflock die Trense.

Der Schreiber selbst, der arme Mann,

Er sieht die Welt sich draußen an.


Bekanntlich ist bei uns der Mai

Von Eis und Schnee nie gänzlich frei,

Doch ist es heut ein Sommerabend,

Der alte Reim darauf ist labend.

Viel Liebespärchen sind bereit,

Um, kommt die liebe Dunkelheit,

Zu scherzen viel und viel zu flüstern,

Natürlich unter düstern Rüstern.
[55]

Ein Jeder sucht von Dissonanzen,

Die selbst den hellsten Tag verschnein,

Bei Tagesschluß sich zu befrein.

In Spanien durch Fandangotanzen,

Wir sitzen hinter Flaschenschanzen.

Auch ist's behaglich, wenn Lakaien

Recht warme Schüsseln vor uns setzen,

Und wir den Braten dann zerfetzen,

In Honolulu mit den Nägeln,

Wir nach bekannten Anstandsregeln.

Ich lobe mir die Tafelfreuden,

Wenn nicht zuviel wir d'ran vergeuden,

Als angenehmste Zeit am Tage,

Vergessen Schema F und Plage.


Doch mehr Genüsse giebt es noch

Nach Lebenslast und Tagesjoch.

Zum Beispiel der Natur sich freuen,

Und sich im Wandern zu zerstreuen.

So fand ich heut, ich weiß nicht wie,

Vielleicht auf meiner Baronie,

Auf einer Wiese weit und breit

Die stille Blume Einsamkeit.

Zwei braune Kühe rupften dort,

Ein Flüßchen schwatzte fort und fort,

Und aus den Buchen an der Heide,

Zwar Walter von der Vogelweide

Sagt Linden, sang die Nachtigall

Tandaradei!


Und stiller ward es rings umher.

Ich streckte mich ins junge Gras,

Und dachte dieses, dachte das.

Die Kühe lagen, wiederkäuend,

Sich schon auf neue Kräuter freuend.[56]

Wie kam ich plötzlich auf Homer?

Es fiel mir aus der Ilias

Achilleus ein. Ich mag ihn nicht,

Und leiste gern auf ihn Verzicht.

Sprach jemals einer solche Worte

Zu seinem Feinde, wenn die Pforte

Des Todes sich ihm öffnen will.

Es höhnt der Fleischerknecht Achill,

Als Hektor sterbend vor ihm lag:

»Nun hast du deinen letzten Tag.

Die Hunde sollen dich zerbeißen,

Und wilde Geier dich zerreißen.«

Und keine Kunst! Pallas Athene

Stand Seit' ihm in der Schlachtenscene,

Und reicht', verhüllt, ihm wieder her

Das schon verschleuderte Gewehr.

Und Hektor starb.


Beim Himmel weit!

Bin ich von dieser Welt geschieden?

Dort auf dem Flusse den Peliden

Seh', drohend mir, zur Schlacht bereit,

Ich stehn in hoher Herrlichkeit.

Bin ich denn bei den Spiritisten,

Die überall sich einzunisten

Gesonnen sind. Ich denke: nein –

Ein neues Bild: Held Don Quixote.

Hadrianus, Ebers, Nero, Heine,

Bald wechseln Lebende, bald Tote,

Bald große Männer, bald auch kleine.

Lord Byron kam und schwand alsdann.

(Ich liebe seinen »Don Juan«.)

Und weiter zogen Helden, Dichter,

Gesetzesgeber, große Richter.

Bis endlich noch Fritz Käpernick

Und Caesar »mit dem Greifenblick.«[57]

Dann zum Beschluß der große Dante,

Der leider noch sehr unbekannte.

(Soll ich mich ganz dem Dichter geben,

Will ich kein Kommentar daneben.)

Es führten ihn in ihrer Mitt'

Herr Meierleben und Herr Schmitt. –

Und eine Leere trat nun ein,

Vom Flusse schwand der Phosphorschein.

Es rauschte Welle nur auf Welle

Gemütlich durch die Mondeshelle.

Da sieh! Beim heiligen Krucifixe!

Es taucht hervor die Wassernixe.


War das ein wundervolles Weib,

War das ein wundervoller Leib.

Als sie dem Schilf entstieg und Rohr,

Da brach erschreckt ein Kranich vor,

Und spannte schwer die breiten Flügel,

Und hob sich über Holz und Hügel.

Doch als ich näher ging und sah,

Und endlich ganz der Nixe nah,

Wen mußt' ich sehen! Gott der Gnade!

Wen fand ich hier am Schilfgestade –

Die einst ich liebte warm und wahr.

Doch damals hing das blonde Haar

So lang noch nicht, wie nun es war.

Es fließt ihr über Hals und Nacken,

Bis leicht es lose Wellen packen.

Die Kleidung schloß sich mehr decent

Als hier im feuchten Element,

Wenn ihre Arme auch und Hände

Sich kreuzen vor der Brust als Wände.

»O sprich, o sprich ein einzig Wort,

Wie kamst du her an diesen Ort?«

Doch blieb sie stumm und sah mich an,[58]

Daß mir die Thräne niederrann.

Und wurde blasser, immer blasser,

Und sank allmählig in die Wasser. –

Ich wandte mich und ging feldein,

Doch eh ich hundert Schritte kaum

Gegangen war in schwerem Traum,

Kehrt' ich mich um im Mondenschein.

Da stand sie wieder, doch bewegt,

In ihren Mienen aufgeregt.

Ein Schrei drang gellend her von ihr,

Wie Ruf und Schrei von einem Tier.


In Böhmen einst, in Junitagen,

In heißer Schlacht, in heißer Schlacht,

Hört' ich ein Pferd im Tode klagen,

Das klang durch all' die heiße Schlacht.

Wir kämpften um ein Dorf mit Wut

In dickem Staub und Sonnenglut.

Mann gegen Mann, in Haus und Garten,

Um Knick und Mauer, Dach und Scharten.

Da, mitten drin im Pulverdampf,

Kommandoruf und Roßgestampf,

Durch Trommelwirbel, Hörnerschall,

Durch Mordgeheul und Donnerknall,

Hört' ich aus einem Stall, der brannte,

Ein Schreien, das mich übermannte.

»Hierher, rief ich mit heiserer Stimme,

Hierher zu mir im letzten Lauf,

Hierher! und schlagt die Thüren auf!«

Sie kamen schnell in Sturm und Grimme,

Und als wir in die Scheune drangen,

Sah bald an einer Kett' ich hangen

Ein halbverkohltes Pferd, das schrie,

Und ich vergess' es im Leben nie. –

Habt einen Menschen ihr gehört,[59]

Hat euer Blut sich nicht empört,

Wenn ihm, vor allzugroßem Schmerz

Nicht brechen Auge kann und Herz?

In Frankreich war es. Blutbespritzt,

Schweißübergossen, überhitzt,

Just um des Schlachtentages Mitte.

Von meinen Pferden schon das dritte,

Das ich bestiegen im Gefechte.

Den hungrigen Degen hielt die Rechte,

Und meine herrliche Kompagnie,

Zu sattem Siege führ' ich sie.

Da, als wir über Leichen stolpern,

Durch Stein und Buschwerk weiter holpern,

Und nur die freie Bahn ersehnen,

Den Feind zu packen mit den Zähnen,

Erschrak ein Schrei mich in der Nähe,

Der klang so gräßlich, klang so jähe,

Daß ich entsetzt vom Pferde sprang,

Und keuchend an die Stelle drang,

Woher er kam.


Du großer Gott!

Da lag mein Freund, zerrissen, bloß,

Im Sonnenfeuer, das ihn sott,

Noch mit Besinnung, rettungslos.

Das Eingeweide hing heraus,

Er starrt mich an im Sterbegraus,

Und ich verstand den stummen Blick:

»Thu' deine letzte Freundespflicht.«

Und lange war mein Zögern nicht,

Schon spannt' ich den Revolverhahn,

Da lehnt er sich im letzten Wahn

An meine Brust. Und Gott sei Dank!

Von seinem Schiff ins Todesmeer

Des Mastes Wimpel untersank.

Noch stammelt er: »Siegt unser Heer? –[60]

Schnellfeuer – dort – der König – Sein

Im Tod ...« ... und ruhig schlief er ein.

Ich küßte seinen bleichen Mund,

Und stürzte wieder in die Schlacht,

In den quirlenden, qualmenden Höllenschlund,

Bis uns der Tag den Sieg gebracht. –


Doch grauenvoller war der Schrei,

Den eben schrie die Wasserfei:

»O wehe, weh, die Stund' ist da.«

Und gleich nachdem der Ruf geschah,

Hört' ich es hinterm Hügel nah,

Und trab, trab kommt es näher schon,

Und näher, näher schwillt der Ton,

Da, auf des Hügels breiter Kuppe,

Links blieb die kleine Tannengruppe,

Ein Mensch, am Himmel ausgeschnitten,

Ein Pulsschlag war es, dann herab,

So läuft er auf sein nasses Grab.

Halt! Halt! und bald steh' ich in Mitten

Von Wasserweib und Menschenkind,

Und fing den Stürmer auf geschwind.

Der wehrte sich und wollte fort,

Er müsse zu der Nixe dort.

Ich hielt ihn wie mit Eisenklammern,

Es half ihm Klagen nicht und Jammern.

Da, gräßlich, schreit es noch einmal,

Im Echo ruft das ganze Thal,

Und wunderbar, wie vordem schon,

Tönt trab, trab, trab der alte Ton,

Erst hinterm Hügel, dann hoch oben,

Die Augen stier, die Händ' erhoben.

So stürzt der Läufer niederwärts,

Dem schönen Nixenweib ans Herz.

Ich sah, eh' ich den Sinn verlor,[61]

Die Nixe drängt ans Ufer vor

Und spannte weit den schönen Arm –

Da schoß auf mich ein Sternenschwarm.


Am andern Tag in früher Stund'

Erwacht' ich auf dem Wiesengrund.

Die beiden Kühe rupften wieder –

Doch dort, sie suchen was im Fluß,

Und tauchen ihre Stangen nieder –

War das des Traumes herber Schluß?

Und sieh! Wen tragen dort die Hände,

Sie trugen einen, der versank

Und dies Nacht im Fluß ertrank.

Das war des schweren Traumes Ende.

Quelle:
Detlev von Liliencron: Adjudantenritte und andere Gedichte, Leipzig 1883, S. 55-62.
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