Der Blitz und die Schwalbe

[92] Mürrisch zeigt ein grau Gewitter

Seine finstre Stirn im Süden.

An der Himmelsmaske lauert

Lüstern längst zum Sprung der Blitz.


Wie die Schlacht, die meilenferne,

Dumpf ununterbrochen donnert,

Sich dann drohend langsam nähert,

Rollt das schwere Wetter an.


Eine kleine liebe Schwalbe,

Die sich schon ins Nest geflüchtet,

Steckt noch einmal sehr fürwitzig

Aus dem Schlupf das Köpfchen vor.


»Und ich wag es: In die Lüfte

Schwing ich mich, was kann das geben,

Schneller flieg ich als der Sturmwind,

Schneller als der schnellste Blitz!«


Kleine Schwalbe, laß dich warnen,

Hagel stößt dir das Gefieder;

Bleibe unter deinem Giebel,

Übermut tut selten gut.
[93]

Doch mit lautem Zwitschern schießt sie

In die Höhe, immer höher,

Kreist und steigt und schwenkt und hebt sich,

Tummelt sich nach Herzenslust.


Und sie schlägt den flinken Flügel

Spottend an die schwarze Wolke.

»Wollen um die Wette fliegen,

Komm heraus, du Blendeblitz!«


Kleine Schwalbe, laß dich warnen,

Laß zum letztenmal dich warnen;

Siehst du nicht das blaue Feuer,

Hämisch äugt es hinterm Spalt.


»Komm heraus, du Häuserzünder,

Nur hervor, du Wolkenfärber,

Immerzu, du rasche Kerze!

Gilt die Wette, schlag ich dich.


Lassen wir uns niederfallen,

Eins, zwei, drei, wie Steine sinken;

Und mit Jubel hat gewonnen,

Wer zuerst die Erde küßt.


Nun, ich merke, Regenpförtner,

Menschenschrecker, Eichenspeller,[94]

Höllensproß und Sonnenvetter,

Ei, du wagst es nicht mit mir!«


Plötzlich, ach, die Strahlengarbe

Schlug auf ihrem Weg nach unten

– Platz da, Bahn frei, Dampf und Donner –

Meine kleine Schwalbe tot.


Quelle:
Detlev von Liliencron: Gute Nacht. Berlin 1909, S. 92-95.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gute Nacht
Gute Nacht

Buchempfehlung

Mickiewicz, Adam

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz erzählt die Geschichte des Dorfes Soplicowo im 1811 zwischen Russland, Preußen und Österreich geteilten Polen. Im Streit um ein Schloß verfeinden sich zwei Adelsgeschlechter und Pan Tadeusz verliebt sich in Zosia. Das Nationalepos von Pan Tadeusz ist Pflichtlektüre in Polens Schulen und gilt nach der Bibel noch heute als meistgelesenes Buch.

266 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon