Der Kanarienvogel

[84] Im einzelstehenden Arbeiterhaus

Müssen die Mieter schleunig hinaus:

Es zeigen sich plötzlich Risse und Spalten,

Mörtel und Kalk wollen nicht mehr halten,

Ein leises Knistern geht unheimlich los,

Die Einsturzgefahr wird riesengroß.

Die Bewohner können nichts mehr retten,

Alles bleibt drinnen, Möbel und Betten;

Kaum raffen sie noch ihr bißchen Geld,

Eh das Gebäude zersplittert, zerschellt.


Was fällt denn der alten Näherin ein?

Sie läuft noch einmal ins Haus hinein,

Um ihren Kanarienvogel zu holen.

Zurück! Schon poltern Gebälk und Bohlen,

Es lösen sich Fugen, Klammern und Schluß,

Daß der Bau krachend zerstäuben muß.

Stehn geblieben ist nur eine Wand,

Von unten bis oben; die widerstand.

Im vierten Stock hängt an der Mauer

Ein Kanarienvogel in seinem Bauer

Und jubelt und schmettert und trillert und singt,

Daß es frohlockend zum Himmel klingt.[85]

Staub und Schuttwolke sind verflogen,

Die Frau ist aus den Trümmern gezogen,

Die treue Frau. Doch wie ein gefeiter

Singt oben und jubelt und tiriliert weiter

Der kleine Kanarienvogel.


Quelle:
Detlev von Liliencron: Gute Nacht. Berlin 1909, S. 84-86.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gute Nacht
Gute Nacht