Die Birke

[54] An meinen Schreibtisch lehn' ich. Meine Hand

Durchgleitet leicht ein rotes Nackenband,

Erinnrung einer Zeit, die längst verfloß,

Da heiß ein Mädchen mir den Hals umschloß.

Die junge Gräfin, heimgekehrt, mir graut,

Soll heut ich wiedersehn, des andern Braut.


Die Haide, wo so reiches Leben sprießt,

Die unabsehbar auseinanderfließt,

Trennt mich von ihr; die muß ich erst durchgehn,

Eh' kann ich nicht des Schlosses Türme sehn.


Schon bin ich auf dem Weg. Nur eine Birke,

Als einziger Baum im ganzen Grenzbezirke,

Steht auf der Haide, trostlos und verloren,

Als hätte diesen Platz für sich erkoren

Ein Träumender, als fänd' er hier den Frieden

In tiefem Denken, allem abgeschieden.


Der Herbstwind nahm ihr alle Blätter fort,

Nur eines blieb, es weht, verwelkt, verdorrt

Am höchsten Zweige, wie vom hohen Mast,

Von Sonnengold durchtränkt, in Überhast.

So wimpelt wohl vom Schiff das Fähnchen her,

Kehrt's heimatshafenfroh aus weitem Meer.[55]

Ich bin zur Stelle und geziemendlich

Verbeug' ich vor der schönen Gräfin mich.

Ein wenig länger halt' ich ihre Hand

Beim Kusse, wie ein altes Liebespfand.

Ihr Auge bittet mich, ihr Auge fleht,

Und überwunden, ist das Glück verweht.

Wir lachen, scherzen, sprechen dies und das,

Das Menschenleben ist ein Faschingsspaß.


Und wieder bin ich auf dem Weg nach Haus,

Ein milder, sanfter Regen weint sich aus,

Wie Frühlingsregen. Langsam schreit' ich hin,

Mir ist der Gang so schwer, so trüb' der Sinn.

Es überholte mich ein Krähenschwarm –

Um ihre Schulter legt' ich meinen Arm,

So war es mir; wir zogen ohne Wort

Gesenkten Hauptes in die Ferne fort.

Ein Kind ging mit uns wie von ungefähr,

Ein kleiner Knabe, und ich weiß es, wer.

Er gab die Händchen uns, sein Antlitz trägt

Der holden Mutter Züge eingeprägt.

Du Knabe, nie geboren – und allein

Nur wandert mit mir meine Seelenpein.


Bald bin ich bei der Birke angelangt,

Dem Blättchen oben hat nach mir gebangt.

Es hängt so still in nebelfeuchter Ruh,

Es kann nicht lustig flattern immerzu.

Der Abend dämmert, weither scheint ein Licht,

Das einsam aus der Haidekathe bricht.


Quelle:
Detlev von Liliencron: Der Haidegänger und andere Gedichte, Leipzig 1890, S. 54-56.
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