Pfingsten

[49] Schöne Zeit von Himmelfahrt

Bis zum nahen Pfingsten,

Wo der Geist sich offenbart

Groß auch im Geringsten.


Glockenklang erschallt vom Dom,

Und zur Lust des Maien

Wallt hinaus der Menschenstrom,

Alles will sich freuen!


Freue sich, wer Gutes tat,

Wer dafür gestritten,

Wer gestreut der Zukunft Saat,

Und auch wer gelitten!


Ja, ich weiß, es wird geschehn,

Was wir jetzt noch hoffen,

Daß zum Glück die Tore stehn

Allen einst noch offen.


Daß man nicht mehr sieht verirrt

Scharen Lebensmüder;[49]

Keine Herde und kein Hirt,

Freie nur, nur Brüder!


Wenn kein Druck den Geist mehr dämpft,

Wenn ein zweites Eden,

Aber schöner, weil erkämpft,

Folgt auf unsre Fehden.


Eines Himmels Erdenfahrt

Und ein andres Pfingsten,

Wo der Geist sich offenbart,

Groß auch im Geringsten.

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 49-50.
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