Die Zigeunerin

[94] Sechzehn Jahr alt ist die kleine

Sittah, die Zigeunerin.

Wild wie sie tanzt keine, keine

Schwingt wie sie das Tamburin.


Kauernd an der alten Mauer

Vor des Mohrenkönigs Tor

Fand ich sie im Fieberschauer,

Und ich hob sie sanft empor.


Fliehe, sprach sie, geh vorüber,

Tödlich ist mein Fieberhauch!

Kind, erwidert' ich, am Fieber,

Ach, am schlimmsten leid' ich auch:


Liebe heißt es, dies verzehrend

Heiße Fieber; doch gesund[94]

Küsse, mir nicht länger wehrend,

Küsse mich dein roter Mund. –


Sechzehn Jahr alt ist die kleine

Sittah, die Zigeunerin,

Wild wie sie tanzt keine, keine

Schwingt wie sie das Tamburin.


Ihres Busens zarte Welle

Glänzt, von Seide halb verhüllt,

Wie des Mondes reine Helle,

Die mit Sehnsucht uns erfüllt.


Wie der Tau in Nachtviolen

Blitzt ihr Auge wunderbar,

Wie ein Goldschmuck unter Kohlen

Aus dem schwarzen Lockenhaar.


Solchen Glutblick hat nur Eine,

Eine nur ist's, die so lacht,

So satanisch lacht beim Weine

Und so himmlisch in der Nacht.

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 94-95.
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