Geistersehen

[69] Zu lautes Klagen um die Toten

Verstöre, sagt man, ihre Ruh.

Sie schweben dann wie Friedensboten

Dem Lager der Verlassnen zu;


Und unsrer Tränen überdrüssig

Erscheinen sie zwar bleich und kalt,

Doch strahlend und wie Nebel flüssig,

In ätherhafter Lichtgestalt.


Ach, wär' es so, und lebt' ein Leben,

Das aus Verwesung sich entreißt,

Nein, keine Fiber sollte beben,

Trät' in der Nacht zu mir dein Geist!
[69]

Wenn mich die milden Augen grüßten,

In denen sich ein Jenseits malt,

Mir wär' es, wie ein Tau den Wüsten,

Wie Licht, das einem Kerker strahlt!

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 69-70.
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