O laßt uns noch den Glauben an die Herzen

[100] Noch tagt es nicht, noch strahlt das Licht

Des schönsten Traumes durch die Dämmerungen,

Noch hat vom blühenden Granatbaum nicht

Die Nachtigall ihr letztes Lied gesungen,

Noch ist die Liebe Himmelshöh'n entstammt,

Und heilig ist im Wohllaut süßer Schmerzen

Von reiner Glut des Dichters Brust entflammt –

O laßt uns noch den Glauben an die Herzen!
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Noch hat das Mißtraun, die Verleumdung nicht

Uns tödlich bis ins tiefste Mark getroffen;

Wir glauben noch das Recht der Menschenpflicht,

Wir schau'n in jeden Blick noch frei und offen,

Noch lebt kein Feind, der tückisch uns umschleicht,

Um hinterrücks uns schändlich anzuschwärzen,

Und unser Freund ist, wer die Hand uns reicht –

O laßt uns noch den Glauben an die Herzen!


Daß nicht erlösche die Begeisterung,

Daß treu die heiligen Gefühle bleiben,

Kein trüber Tag soll diese Dämmerung

Mit ihren Sternen uns vom Himmel treiben.

Den Glauben an der Menschheit Würde, noch

Gelingt's dem Zweifel nicht, ihn auszumerzen,

Die Wahrheit siegt, es siegt das Gute doch –

O laßt uns noch den Glauben an die Herzen!

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 100-101.
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