Versöhnung

[90] Hast du niemals noch begleitet

Einen Menschen, müd' und bleich,

Über den schon ausgebreitet

Sein Gespinnst das Schattenreich?


Hast du nie den Puls empfunden,

Der dem Tod entgegenschlägt,

Bangend nie gezählt die Stunden,

Die ein Leben noch erträgt?


Jedes Wort, wie wird es teuer,

Das so sanft und unbewußt

Und im letzten Seelenfeuer

Ausspricht die gequälte Brust!


Offen und zugleich geschlossen

Liegt solch Leben vor uns da,

Mild von feuchtem Glanz umflossen,

Denn durch Tränen sieht man ja.


Alles ist versöhnt, verziehen,

Alles gut und beigelegt,

Wie die letzten Schatten fliehen,

Wenn aufs Tal die Nacht sich legt.

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 90.
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