Geibel's Tod

[107] Ich weiß es jetzt. In jener Nacht,

Die unsres Freundes letzte war,

Bin ich aus schwerem Traum erwacht,

Aus einem Traum gar wunderbar.


Mein Lagernachbar rief mich an:

»Was jammerst du im Schlaf so laut?«

Ich sprach: »Mahn' Morgens mich daran;

Ich hab' ein Traumgesicht geschaut.«


In einem Kerker fand ich mich,

Und Jemand schied von mir. Ein Wort

Mir sagend, etwa wie »versprich,

An mich zu denken!« ging er fort. –


Das war in einem Dorf am Strand

Des Gardasees, die Nacht war hell,

Das Mondlicht in dem schönen Land

Warf lichten Schimmer ins Gewell.
[107]

Der Tag brach an, manch froh Gespann

Flog schon des Wegs, ich trat hinaus;

Palmsonntag war's, und Jedermann

Nahm einen Ölzweig mit von Haus.


Mit mir jedoch ging jener Traum.

Ich sann ihm nach unausgesetzt;

Ja, daß der Geist besiegt den Raum,

Daß du erschienst, ich weiß es jetzt.


Du gingst von uns, wie nah dem Ziel,

Wer uns geführt, von dannen geht.

Die Harfe war dein Saitenspiel,

Voll Anmut und doch sturmdurchweht.


Dein reichstes war dem Vaterland,

Dem Schönen jedes Lied geweiht.

Leb wohl, du treue Freundeshand,

Und Dank dir über Grab und Zeit!

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 107-108.
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