11. Kürzeste Nacht

[120] Noch sprüht des längsten Tages warme Quelle

Lebendig fort, es wagen sich verstohlen

Die Träume nur und nur mit scheuen Sohlen

Die Stern' auf dieser Nacht saphirne Schwelle.


Kaum sank der Abend in die Dämmerwelle,

Da sucht ihn schon der Morgen einzuholen;

Kaum öffnen ihren Kelch die Nachtviolen,

Da hebt die Sonnenblume sich zur Helle.


In Furcht, daß sich schon hell die Berge schmücken,

Singt schöner jetzt aus taugenetzter Kehle

Die Nachtigall ihr klagendes Entzücken;


In Furcht, daß bald das süße Dunkel fehle,

Eilt Liebe, heißer Brust an Brust zu drücken,

Und tauscht im Kusse lechzend Seel' um Seele.

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 120-121.
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