22.

[140] Wie hier Vernunft, die gottgemeit'

Gerade kommt zu dieser Zeit,

Den Liebenden zurücke führt,

Wo tolle Liebe ihn berührt.


So stand 'ne gute Weil' ich da,

Bis daß mich so verlegen sah

Die Fraue von der hohen Schar,

Die grad' herabgestiegen war.

Vernunft war dieser Frauen Nam'.

Und wie sie so hernieder kam,

Kam sie zu mir in gradem Gleis'.

Sie war nicht jung, sie war nicht greis;

Und nicht zu groß und nicht zu klein

Und nicht zu dick und nicht zu fein,

Die Augen, die im Kopf' sie hatt',

Die war'n an zweier Sterne statt.

Und auf dem Haupt' trug sie 'nen Kranz,

Und glich 'ner hohen Fraue ganz.[141]

An Blick und Anseh'n thät sich dar,

Daß sie vom Himmelgarten war,

Denn die Natur vermöchte nicht

Zu machen je ein solch' Gesicht,

Und wiss't, daß wenn die Schrift nicht lügt,

Hat 's Gott recht eigentlich gefügt

Nach seinem Bild' gar sonderlich

Und gab ihr Heil so mächtiglich,

Daß Macht und Mittel bei ihr leit,

Zu wahr'n vor Thorheit alle Leut',

Vorausgesetzt, man glaubet ihr.

Indem ich steh' verlegen hier,

Zu mir Vernunft also beginnt:


Spricht Vernunft zum Liebenden.


Mein guter Freund, Thorheit wie'n Kind'

Hat dich geführt in Sorg' und Leid.

Schlecht sah'st die schöne Wonn'mondzeit,

Denn ausgelassen ward dein Sinn.

Zum Unglück kamst zum Hain du hin,

Denn Muße trägt den Schlüssel hier,

Womit sie öffnete die Thür'.

Thor ist, wer sich der Muß' gesellt –

Denn die Gesellschaft Leid enthält.

Trug that sie und Verrath an Dir,

Denn Amor fing dich nimmer hier,

Wenn Muße dich nicht zu führ'n gewußt[142]

Zum Hain', wo Freudmuth weilt in Lust. –

Hast Du zur Thorheit dich gekehrt,

So mache, daß du wirst bekehrt,

Und glaube nimmermehr dem Rath',

Der also dich verführet hat.

Schön hat geirrt, wer's bessert dann.

Und hat geirrt ein junger Mann,

Sich Niemand zu verwundern hat.

So sag' ich dir und geb' den Rath:

Die Liebe sollt du gänzlich la'n,

Davon wir so vernarrt dich sah'n,

Und so versessen und betrübt;

Denn anders weiß ich nicht, ob's gibt

Ein Mittel oder Heil für dich;

Denn auch Gefahr strebt grausamlich,

Befehdet jetzo dich zu sehn.

Du magst ihn nimmermehr bestehn.

Und gegen meine Tochter Scham,

Doch selbst Gefahr noch nie aufkam,

Die auch die Rosen wahrt und schützt

Und nicht allein zum Maulaff' nützt.

Vor der mußt du dich fürchten sehr,

Denn Mitleid kennt sie nimmermehr.

Und Argmund außer diesen Zwein

Leid't nicht, daß Jemand kommt hinein,

So daß, wenn's fast zu Stande kam,

Es wieder rasch ein Ende nahm.[143]

Mit schlimmen Leuten hast's zu thun;

Sieh zu, was da das beste nun,

Ob zu verfolgen, oder nicht

Was dir ein wehvoll Sein verspricht;

Und Liebe ist des Wahnes Nam',

Die nimmer ohne Thorheit kam.

Thorheit – so stärk' mir Gott den Blick,

Wer liebt, kann nimmer haben Glück,

Hat nimmer von der Welt Gewinn

Und seine Hoffnung geht dahin,

Und fängt er auch was Andres an,

Doch Nichts er je ausrichten kann.

Mehr Qual hat er auf diese Weise

Als Mönche und Einsiedlergreise.

Sein Leid geht über Maß und Ziel

Und seine Lust bedeut't nicht viel.

Die Freude hält nicht lang' ihm Stand,

Und Zufall ist's, wenn er sie fand.

Ich seh', daß Mancher sich bemüht,

Dem doch zuletzt es nicht gerieth.

Auf meinen Rath gabst nicht Gehör,

Als du zum Liebegott kamst her.

Dein Herz mit allzuleichtem Sinn'

Ließ dich in solche Thorheit zieh'n.

'Ne Thorheit ist gar leicht begonnen,

Jedoch die Umkehr schwer gewonnen.

Nun setz' die Minne du bei Seite,[144]

Die dich ließ leben, doch ohn' Freude,

Denn alle Thorheit wächst und treibt,

Auch wenn sie nur ganz ruhig bleibt.

Fass' stark den Zügel mit dem Zahn,

Und führ' dein Herz die rechte Bahn.

Es sei verwehrt und abgelenkt,

Was immer auch dein Herze denkt.

Wer stets dem Herzen leiht sein Ohr,

Wird unvermeidlich doch ein Thor.


Quelle:
Guillaume de Lorris: Das Gedicht von der Rose. Berlin 1839, S. 140-145.
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