27.

[156] Wie Mitleid mit Gefälligkeit

Hin kommt in trefflichem Geleit',

Spricht für den Liebsten bei Gefahr,

Der so in Liebenöthen war.


Indem mich dieses Leid nun rührt,

Wiss't, daß da Gott zur Stelle führt

Mitleid und auch Gefälligkeit.

Es ward mir nimmer größ're Freud'.


Sie kamen Beide zu Gefahr,

Bereit die Ein' und And're war,

Zu helfen mir so gut es geht,

Zu sehen, wo recht Noth es thät'. –

Das Wort nach ihrer Gütigkeit

Nahm da zuerst Gefälligkeit,

Und sprach:[157]


Gefälligkeit.


Gefahr, Gott helfe mir,

Ihr thut nicht Recht dem Liebsten hier,

Den Ihr jetzt haltet gar so schlecht.

Wisst, daß Ihr Euch erniedrigt recht,

Denn nimmer hab' ich noch gehört,

Daß gegen Euch er Unbill kehrt.

Wenn Amor ihn zur Liebe drängt,

Ihr darum ihn zu quälen denkt?

Ihm schadet's mehr, als Ihr gewinnt –

Dieweil er nichts als Jammer find't.

Doch Amor kann nicht Willens sein,

Daß Jenen es soll gar gereu'n;

Denn wer so brennet ganz und gar,

Der weiß nicht, wie er sich bewahr'.

Doch guter Mann, was frommt's Euch mehr,

Zu machen Leid ihm und Beschwer?

Ward darum Obmacht Euch gewährt,

Weil er Euch also liebt und ehrt,

Und weil er Euch sich dienstbar stellt?

Wenn Amor ihn in Fesseln hält,

Und Euch ihn zu Gehorsam paßt,

Ist's darum, daß Ihr ihn so haßt?

Ihr solltet halten ihn so gut,

Als irgend kühnen Thunichtgut.

Denn adlig ist's, wenn mild man hält,

Den, über den man ist gestellt.[158]

Hartherzig ist, wer nicht gewährt,

Wenn Hilfe von ihm wird begehrt.


Mitleid.


Mitleid versetzt: So ist's auch wahr:

Bosheit bezwingt die Niedern gar;

Wenn Bosheit allzulange währt

Wird sie in Schlechtigkeit verkehrt.

Gefahr, darum bitt' ich Euch sehr,

Daß Ihr ihn nun nicht haltet mehr

Den Armen, der hier elend liegt,

Und den doch Amor immer trügt.

Mir ward es kund, daß Ihr ihn quält

Mehr, als wozu Ihr seid bestellt,

Und daß er thut zu arge Sühn',

Seitdem daß ihn ließ von sich ziehn

Der Gutempfang aus seiner Huld,

Denn seitdem trägt er keine Schuld.

Er war im Anfang sehr erregt,

Doch ist er doppelt nun bewegt,

Fast todt ist er in übler Lag',

Seitdem Verrath ihm Jener pflag.

Was quälet Ihr ihn nun so stark?

Schon Amor trieb's mit ihm gar arg,

Es geht ihm jetzt bereits so schlecht,

Daß er nicht Mehr braucht, wenn's Euch recht.

So quälet ihn denn nicht noch mehr,[159]

Fürwahr, es nützet Euch nicht sehr.

Und duldet, daß ihm Gutempfang

Nun Etwas thue recht zu Dank'.

Dem Sünder werd' Barmherzigkeit,

Wenn darein einstimmt Gütigkeit,

Nun bitt' ich Euch und mahn' Euch sehr,

Verweigert ihr nicht ihr Begehr.

Der muß sehr hart und häßlich sein,

Der Nichts nachgeben will uns Zwei'n.


Der Liebende.


Gefahr' da nicht mehr kräftig was,

Und hielt sofort ein besser Maß.


Gefahr.


Frau'n, sagte er, ich kann's nicht wagen,

Euch diese Sache zu versagen;

Das hieße Schlimmes gar verübt.

Ich will, daß ihm Gesellschaft giebt

Der Gutempfang; wenn's Euch genehm,

Ich nimmer ihn in Anspruch nehm'.


Der Dichter.


Und Gutempfang, der nahte dann,

Und Gütigkeit, die red't ihn an,

Und sagte artig dieses Wort:[160]


Gütigkeit.


Ihr seid vom Liebenden nun fort

Schon lange Zeit, Herr Gutempfang,

Daß ihn zu sehn Euch nicht gelang.

Es that ihm trüb und schlimm ergeh'u

Die Zeit, daß Ihr ihn nicht geseh'n.

Doch sollt Ihr nunmehr bei ihm sein,

Wollt meiner Huld Ihr Euch erfreu'n,

Und sollt ihm seinen Willen thun.

Und wisst, daß wir besänftigt nun,

Ich und Mitleid, den Herrn Gefahr',

Durch den von dir er ferne war.


Gutempfang.


Ich thue, was Ihr heischt ohn' Bang',

Denn es ist Recht, sprach Gutempfang,

Dieweil es auch Gefahr zuläßt.


Der Liebende.


So einte Güte ihn mir fest.

Und Gutempfang nach dem Geheiße

Bot mir den Gruß in lieber Weise.

Denn wenn er zürnte auch vorher,

Doch dacht' er nun daran nicht mehr,

So macht' ein solch Gesicht er mir,[161]

Wie ich's noch nie gesehen schier.

Und an der Hand gar sänftiglich

Führt' er nun in den Garten mich,

Daraus Gefahr mich trieb vorhin.

Und überall nun durft' ich hin.


Quelle:
Guillaume de Lorris: Das Gedicht von der Rose. Berlin 1839, S. 156-162.
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