|
[412] Diogenes, Antisthenes, Krates und ein Bettler.
DIOGENES. Antisthenes und Krates, wie wär es, da wir doch nichts zu tun haben, wenn wir zusammen einen Spaziergang nach dem Eingang machten, um zu sehen, was es für neue Ankömmlinge gibt und wie sich ein jeder von ihnen aufführt?
ANTISTHENES. Recht gerne, Diogenes; es wird ein angenehmes Schauspiel für uns sein, wie die einen in Tränen zerfließen, andere fußfällig bitten, daß man sie gehen lassen möchte, wieder andere gar nicht fort wollen, sondern unvernünftigerweise mit Merkur, der sie vorwärtsstößt, ringen oder sich auf den Rücken legen und in Güte gar nicht von der Stelle zu bringen sind.
KRATES. Und ich will euch unterwegs erzählen, was bei meiner eigenen Herabkunft passierte.[412]
DIOGENES. Laß hören, Krates; ich sehe dir's an, daß du uns sehr lächerliche Dinge zu erzählen hast.
KRATES. Unter einer Menge anderer, die mit mir herabsteigen, zeichneten sich Ismenodorus, einer von unsern reichsten Thebanern, und Arsazes, Satrap von Medien, und Orötes, der Armenier, besonders aus. Ismenodorus, der auf einer Reise nach Eleusine, denke ich, in einem Hohlweg am Cithäron von Räubern ermordet worden war, ächzte ganz erbärmlich und hielt seine Wunde mit beiden Händen zu; dann rief er die kleinen Kinder, die er zurückließ, mit Namen und klagte sich selbst der Tollkühnheit an, daß er auf einer Reise über den Cithäron, wo er durch die im letzten Kriege verwüstete Gegenden von Eleutherä mußte, nur zwei Bediente mitgenommen, da er doch fünf goldene Schalen und vier große goldene Becher bei sich gehabt hätte. Der Satrap Arsazes, ein schon bejahrter Mann mit einer vornehmen und ziemlich ehrwürdigen Miene, zeigte seinen Unmut nach seiner Landesart. Er ärgerte sich sehr darüber, daß er zu Fuß gehen sollte, und verlangte, man sollte ihm sein Pferd bringen; denn dies war zugleich mit ihm gefallen, indem sie beide mit einem Stoß von einem thrazischen Peltasten in einem Treffen mit den Kappadoziern am Araxes durchstochen worden waren. Arsazes nämlich hatte sich, wie er selbst erzählte, in einer zu großen Entfernung mitten unter die Feinde hineingestürzt, der Thrazier aber, der gegen ihn standhielt, hatte mit seinem halbrunden Schilde den Stoß seiner Lanze auspariert und in ebendem Augenblick ihn und sein Pferd mit seinem langen mazedonischen Spieße durchstochen.
ANTISTHENES. Wie konnte das auf einen Stoß geschehen, Krates?
KRATES. Sehr leicht. Der Satrap kam mit eingelegter zwanzig Ellen langer Lanze angerennt: der Thrazier hingegen, sobald er den Stoß mit seinem Schilde auspariert hatte, so daß die Lanze neben ihm vorbeifuhr, stemmte sich auf das eine Knie, hielt dem in vollem Sprung gegen ihn anrennenden Reuter seinen Spieß vor und traf das Pferd unter der Brust; und da dieses durch die Wut und Heftigkeit, womit[413] es daherstürzte, sich selbst durchbohrte, so konnte es nicht fehlen, daß auch Arsazes zu gleicher Zeit durchs Gemächte gestochen und also beide auf einen Stoß ins Gras gestreckt wurden. Du siehst, daß es ganz natürlich zuging, und mehr des Pferdes als des Thraziers Werk war. Indessen ärgerte sich der Satrap, daß er mit den übrigen auf gleichen Fuß gesetzt sein sollte und wollte schlechterdings zu Pferd ins Reich der Toten reisen. – Was den Orötes betrifft, der hätte in der Tat wohl ein Pferd nötig gehabt, wiewohl er kein so vornehmer Herr war wie jener: denn er war so schwach auf seinen Füßen, daß er kaum auf dem Boden stehen, geschweige gehen konnte. Dies ist der Fall bei allen Mediern; sobald sie vom Pferde herab sind, wackeln sie mit Mühe auf den Fußspitzen daher, als ob sie auf Dornen gingen. Wie er also auf der Nase lag und alle Mittel, ihn wieder auf die Beine zu bringen, vergeblich waren, lud ihn der allerliebste Merkur endlich auf seine Schultern und trug ihn bis in Charons Nachen. Ich mußte lachen, sooft ich ihn ansah.
ANTISTHENES. Wie ich diese Reise machte, mengte ich mich nicht unter die übrigen; ich ließ sie heulen, soviel sie wollten, lief ihnen allen zuvor, war der erste im Nachen und suchte mir den besten Platz aus. Während der Überfahrt weinten die andern und bekamen die Seekrankheit: mir hingegen machte das alles großen Spaß.
DIOGENES. Auch ich hatte auf meiner Herreise eine hübsche Gesellschaft; der Wechsler Blepsias aus dem Piräus, Lampis aus Akarnanien, Oberster über die fremden Miettruppen seiner Republik, und Damis, der reiche alte Geizhals von Korinth, waren meine Reisegefährten. Der letztere war von seinem eigenen Sohne vergiftet worden; Lampis hatte sich aus Liebe zu der schönen Myrtion die Kehle abgeschnitten, und vom Blepsias hieß es, der arme Teufel sei Hungers gestorben; und würklich sah er ganz grüngelb aus und war nichts als Haut und Knochen. Wiewohl mir alle diese Umstände schon vorhin bekannt waren, erkundigte ich mich doch, aus Ursache, bei einem jeden von ihnen nach der Art seines Todes. Damis klagte seinen gottlosen Sohn an. »Es[414] ist dir Recht geschehen«, sagte ich; »ein Mann von neunzig Jahren, der mehr als eine Million im Vermögen hat und seinem achtzehnjährigen Sohn täglich acht Kreuzer zu verzehren gibt, während er selbst in Üppigkeit und Überfluß schwimmt, was kann ein solcher Mann von seinem Sohne Besseres erwarten. Und du, Herr Akarnanier (denn auch der seufzte und stöhnte und fluchte seiner Geliebten alle Übel auf den Hals),warum klagst du die Liebe an und nicht vielmehr dich selbst? Warum ließ der tapfre Mann, der vor den Feinden nie gezittert hatte und in einem Treffen immer der vorderste war und sich den größten Gefahren aussetzte, warum ließ er sich von den falschen Tränen und erdichteten Liebesseufzern der ersten kleinen Metze, die ihm in den Wurf kam, überwältigen?« Was den Blepsias betrifft, der machte sich seiner Torheit wegen selbst so große Vorwürfe, daß ich ihm nichts zu sagen hatte. »Was für ein Narr und Dummkopf ich war«, rief er aus, »mir einzubilden, ich würde ewig leben, und mein Vermögen für Erben, die mich nichts angingen, zu hüten und aufzusparen!« Ihr könnt euch vorstellen, daß mir diese Narren mit ihrem Gewimmer die Zeit und den Weg auf eine sehr angenehme Art verkürzten. – Aber wir sind nun ganz nahe an der Mündung. Bleiben wir hier stehen, um die Ankommenden schon von weitem her beobachten zu können. Es sind ihrer eine große Menge, von allen Gattungen, und alle weinen, die neugebornen und unmündigen Kinder ausgenommen; sogar die ältesten Greise jammern, daß sie so frühzeitig weggerafft worden! Unbegreiflich! Sollte man nicht glauben, diese rasende Liebe zum Leben wäre ihnen in einem Zaubertränkchen beigebracht worden? – Ich will doch den steinalten Greis dort ein wenig ausfragen. – Warum weinst du so, mein Bester? Man dächte, du wärest doch alt genug zu uns gekommen. Du bist vermutlich ein König gewesen?
DER BETTLER. O nein!
DIOGENES. Aber ein Satrap?
BETTLER. Auch das nicht.
DIOGENES. Du warst also sehr reich, und nun schmerzt es dich,[415] daß du all den Überfluß und das Wohlleben im Tode zurücklassen mußtest?
BETTLER. Nichts dergleichen! Ich bin nahezu neunzig Jahre alt worden; ich erhielt mein Leben kümmerlich mit meiner Angelrute, war immer bettelarm und litt Mangel an allem, war kinderlos und zu allem dem noch lahm und beinahe blind.
DIOGENES. Und in einer solchen Lage konntest du noch länger zu leben wünschen?
BETTLER. Jawohl! Das Sonnenlicht zu sehen ist was gar zu Angenehmes, und hingegen nichts Ärgers und Abscheulichers, als tot sein!
DIOGENES. Du faselst, alter Mann; unser Fährmann Charon ist kaum älter als du, und du haderst mit dem Schicksal wie ein Bursche von sechzehn Jahren! Was kann man nun den jungen Leuten übelnehmen, wenn Greise von neunzig noch so verliebt ins Leben sind? Sie, die den Tod, als das einzige Mittel gegen alle Beschwerden des Alters, begierig aufsuchen sollten! – Aber wir wollen wieder umkehren; man könnte uns sonst im Verdacht haben, daß wir durchgehen wollten, wenn man uns so um die Mündung des Orkus herumschwärmen sähe.
Buchempfehlung
Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
106 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro