129. Die weiße Jungfrau vom Weidelberge.

[81] Zwischen Wolfhagen und Naumburg lag dicht an der waldeckschen Grenze auf einem mit Buchen bestandenen Basaltkegel die Burg Weidelberg, deren schöne Trümmer zur Sommerzeit noch häufig von nah und fern besucht werden. Auch zieht das Landvolk der Umgegend zu Himmelfahrt hinauf, um droben Lieder zu singen und heilsame Kräuter zu suchen.

Einst hütete ein Schäfer am Schloßberge, da erschien ihm eine weißgekleidete, wunderholde Jungfrau, die ihn durch stetes Winken zum Mitgehen bewog. Als er ihr endlich folgte, zeigte sie auf eine weiße Blume, die er brechen mußte, und führte ihn in die Burg durch eine Pforte in ein Gewölbe. Hier lagen Haufen von Gold und Silber, und reich, überreich war der glückliche Schäfer, denn die Jungfrau gab ihm zu verstehen, daß alle diese Reichthümer sein wären. Beladen mit Schätzen wollte er zurückkehren, als sie ihn warnte, das Beste nicht zu vergessen. Doch[81] was konnte sich der Freudetrunkene noch Besseres denken, als das, was er schon hatte. So ließ er die Blume zurück und – verschwunden war Gold und Silber, Jungfrau und Pforte, und der Reiche sah sich betrübt wieder so arm als früher.

Landau hess. Ritterb. I., 349.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. LXXXI81-LXXXII82.
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