162. Der Werwolf.

[106] Den gefräßigen Werwolf kennt und fürchtet der hessische Bauer noch immer. Es ist ein Mensch, dessen Gestalt sich durch Anlegung[106] eines Gürtels in die eines Wolfs verwandelt hat. Der Werwolf fällt Alles an, was ihm in den Weg kommt und ist besonders den Heerden gefährlich. Doch giebt es ein Mittel die Zauberkraft des Gürtels zu vernichten; man muß ein Messer, einen blanken Stahl, über den Werwolf hinwerfen, so steht er augenblicklich ganz nackt und in seiner rechten menschlichen Gestalt da.

Eine Frau in der Nähe von Wolfhagen, die wohlhabend und von gutem Herkommen war, verließ fast jede Nacht ihr Haus und strich als Werwolf in den Feldern umher. Einmal, da der Werwolf gesättigt in ein Erlengebüsch schlich, trat ein Schäfer muthig hervor, um ihn zu bändigen, denn er war ihm schon lange gefolgt. Er warf ihm sein Taschenmesser über Kopf und Nacken und alsbald stand die Frau nackend vor ihm und bat ihn flehendlich, Barmherzigkeit mit ihr zu haben und die Geschichte nicht zu erzählen. Der Schäfer war höchlich verwundert, die ihm wohl bekannte Frau vor sich zu sehen und versprach, die Sache geheim zu halten. Gleichwohl war sie nach wenig Tagen schon in Aller Munde.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CVI106-CVII107.
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