Sechzehntes Capitel.

Das Wiedersehen.

[817] Am zweiten Abend nach meiner Zusammenkunft mit dem Oberstlieutenant brachte Anton mir die Nachricht, daß derselbe mich in kürzester Frist erwarte.

Die entscheidende Stunde war also da; ich sollte Johanna sehen und sprechen, um zugleich auf ewig Abschied von ihr zu nehmen.

Obgleich ich für meine Person aus das Wiedersehen vorbereitet war, obgleich eine schmerzliche Freude mich erfüllte, noch ein Mal Johanna's süße Stimme hören, noch ein Mal ihr für ihre unerschütterliche Liebe und Treue danken zu dürfen, schwebte ich doch in einer angstvollen Spannung, wie derjenige sie wohl empfinden mag, der auf seinem letzten Gange der nächsten Zukunft gedenkt?

»Wie wild das enden? Wird sie mich wiedererkennen?« fragte ich mich mit innerem Beben, und als Antwort darauf fühlte ich nur ein stärkeres, ängstlicheres Klopfen meines Heizens. Erst als ich mich wieder bei meinem Vormunde in der Stube befand und die ernste, feierliche Entschlossenheit in seinen Zügen gewahrte, gewann ich neue Fassung und die überlegende Ruhe, welche zu dem gewagten Schritt unumgänglich nothwendig war.

Keines Wortes mächtig reichte ich dem Oberstlieutenant die Hand.

»Es hat sich eher gemacht, wie ich glaubte,« sagte er, wie ein Vater mich umarmend; »Dein Versteck muß gut sein, denn selbst der argwöhnische Andres glaubt Dich fern, oder er würde die ihm von den Pfaffen gebotene Wachsamkeit nicht eingestellt haben. Ja, es hat sich schnell genug gemacht. Meine Lisette ist eben zur Abendmesse gefahren, das Hausgesinde habe ich ihr nachgeschickt, und außer mir befindet sich nur noch Johanna's Wärterin im Hause.[817] Niemand ahnt unser Vorhaben, die beiden Priester sind in gewohnter Weise hier gewesen und sogar von mir im Vorbeigehen begrüßt worden, und wenn ich nicht irre, gedenken sie nach der Messe noch einmal hier vorzusprechen. Sie sind nicht blind dafür, daß meiner armen guten Johanna Auflösung in jeder Stunde erfolgen kann. Nun, nun, fasse Dich mein Junge, sei ein Mann,« fügte er mit bebender Stimme hinzu, als er gewahrte, daß ich erbleichte, »Du mußt Dich in's Unvermeidliche fügen, und dann bedenke, die Pfaffen haben, so Gott will, mein Haus zum letzten Mal betreten.«

Sobald er dann Anton angewiesen, wieder seinen alten Platz am Ofen einzunehmen, mir aber behilflich gewesen war, mein Aussehen durch einige von mir auf der Oberförsterei zurückgelassene Kleidungsstücke meiner früheren Erscheinung möglichst ähnlich zu machen, begab er sich in Johanna's Gemach, um die Wärterin zu entfernen. Nach einigen Minuten kehrte er zurück, und mich am Arm ergreifend, zog er mich schweigend mit sich fort.

Nachdem wir die beiden anstoßenden Gemäßer durchschritten hatten, gelangten wir auf einen schmalen, nach der Küche führenden Gang, den eine kleine Lampe matt erhellte.

»Hier ist sie,« sagte der Oberstlieutenant, auf eine geschlossene Thür weisend, »warte, bis ich Dich rufe, und fasse allen Muth zusammen, der Dir zu Gebote steht, Du wirst ihn gebrauchen.«

Gleich darauf trat er ein, die Thür nur anlehnend, so daß ich jedes in dem Gemach gewechselte Wort deutlich verstehen konnte. –

»Bringst Du mir den versprochenen Trost?« fragte Johanna ihren näher tretenden Onkel mit matter Stimme.

»Er wartet vor der Thür auf Dich,« entgegnete der Oberstlieutenant, »ich wollte Dich nur fragen, meine liebe Tochter, ob Du sonst noch Wünsche hat, damit ich Euch nachher nicht zu stören brauche.«

»Onkel, theuerster Onkel, wenn Du doch den göttlichen Lehren Dein Ohr nicht verschließen wolltest,« versetzte Johanna unbeschreiblich traurig, »hast Du nur einmal mit mir vereinigt gebetet, so wird Dein Herz sich erweichen. Du wirst Deine Irrthümer einsehen –«

»Schon gut, schon gut mein Kind, ich will mit Dir beten,« unterbrach sie der Oberstlieutenant, »mit Dir und mit dem, der vor der Thür auf die Erlaubniß zum Eintreten harrt, will ich gern beten.«

»O, Gott, wie gut Du bist,« rief Johanna inbrünstig aus, »Du hast es mir vergönnt, meinen theuren Onkel bekehren zu dürfen; o, lasse doch auch Deine Güte und, Gnade über meinen armen verlassenen Gustav walten!«

»Auch Dein Gustav soll mit Dir beten,« versetzte der Oberstlieutenant tief ergriffen. »Gustav Wandel? mein armer verlassener Gustav?« fragte Johanna, und ihr Athem schien zu stocken.

Der Oberstlieutenant antwortete nicht mehr, er war bereits aus der Thür getreten, und im nächsten Augenblick kniete ich vor Johanna, von meinen Gefühlen überwältigt mein Gesicht auf ihren Knieen verbergend. –[818]

Todtenstille umgab uns; ich wagte nicht, aufzuschauen, weil ich das Schrecklichste befürchtete. Da fiel etwas neben mir auf die Erde, es war das Crucifix, und gleichzeitig fühlte ich, daß zwei zarte Hände schmeichelnd, wie sie so oft gethan, sich auf mein Haupt legten.

»Armer, armer Gustav, sogar Deine schönen Locken haben sie Dir geraubt,« hauchte sie über mich hin, indem sie sich mühsam zu mir niederneigte und einen Kuß auf meine Stirne drückte.

O, es war ein Augenblick, so unendlich süß, und auch doch wieder so namenlos bitter, daß ich glaubte, vor Schmerz und Wehmuth vergehen zu müssen.

Zögernd schaute ich endlich empor; Johanna blickte mir in die Augen, worauf sie ihre Hände zurückzog und mit denselben, wie um eine Vision zu verscheuchen, nach beiden Seiten über ihre fast durchsichtigen, blaugeaderten Schläfen strich.

»Gustav, bist Du es wirklich?« rief sie dann laut aus, »bist Du es wirklich, Du mein einziger, mein eigener Gustav?«

»Johanna, ich bin gekommen, um mit Dir zu leben und zu sterben!« sagte ich leise, noch immer knieend und meine Arme um ihre hinfällige Gestalt schlingend.

Da entstürzten Thränen ihren milden blauen Augen, ihre Arme legten sich um meine Schultern, und ihr Haupt sanft auf das meinige stützend, schluchzte sie heftig.

»Gustav, Du beiß und ewig Geliebter,« flüsterte sie mit tiefinnigem Ausdruck, »ach, wie habe ich gelitten; nun aber ist Alles gut; ich bin krank gewesen, ich bin es noch, aber tröste Dich mein guter Gustav, ich werde genesen und Du wirst nicht wieder von mir gehen, oder ich begleite Dich bis an der Welt Ende. O, Welch schreckliche Dinge haben sie mir erzählt, oder habe ich es geträumt? Ja, geträumt, – so gräßlich, – daß es alle Beschreibung übersteigt. Ich sah Männer mit schwarzen Augen und entsetzlichen Blicken, Du weißt ja, den Herrn Bernhard am Gesundbrunnen; und sie hatten eine eiserne Kette um meine Brust gelegt, und wenn sie sprachen, dann zog sich die Kette, mir namenlose Schmerzen bereitend, immer enger zusammen. Auch von Dir habe ich geträumt, von Dir, meinem Gustav; ich wußte, wo Du warst, wußte, daß Du Deine arme Johanna noch immer treu und aufrichtig liebtest, aber ich fürchtete mich, von Dir zu sprechen, mir war, als ob bei der Erwähnung Deines Namens, die sengenden Augen mich ins Herz getroffen hätten. Doch ich bin kindisch, ich vergesse, daß Alles nur ein Traum, ein krankhafter Zustand gewesen,« fügte sie unter Thränen lächelnd hinzu.

»Johanna, meine arme Johanna, schone Dich,« stotterte ich in meiner Besorgniß, ohne eigentlich zu wissen, was ich sagte, denn der Tod hatte den holden bleichen Zügen und den eingefallenen zarten Wangen sein Zeichen so deutlich aufgedrückt, daß mich bei ihrem Anblick eine schwer zu bemeisternde wilde Verzweiflung ergriff.

»Ich mich schonen, Geliebter?« fragte sie lächelnd, »jetzt brauche ich mich nicht mehr zu schonen. Bis vor wenigen Minuten noch wurde mir das Athmen schwer, aber jetzt, höre doch, wie laut und kräftig ich[819] spreche, meine Brust ist frei, mit Wollust trinke ich die Luft ein, der Bann, der meine Brust so schmerzhaft einzwängte, ist gebrochen und ich werde mich bald, sehr bald wieder erholen. – Lieber, lieber Gustav, Du bist wein bester Arzt gewesen, ich fühle es, denn seit Deinem Eintritt befinde ich mich so Wohl, ach so wohl. O, mein Gott, niemals hatte ich geglaubt, daß mir des Lebens Freuden noch einmal lächeln würden!« rief sie entzückt aus, und dann mich zu sich emporziehend und krampfhaft umarmend, weinte sie lange an meiner Brust.

Auch ich weinte so bitterlich, wie ich es seit meiner Kindheit nicht gethan, doch während mir ein tiefer Seelenschmerz die Brust zusammenschnürte waren es Freudenthränen, die unaufhaltsam über Johanna's zarte Wangen rannen.

Nach einer Weile richtete sie sich wieder empor, und sich zurücklehnend, betrachtete sie mich lange sinnend.

»Bist Du es denn wirklich, mein einziger, mein eigener Gustav?« fragte sie, wie zu sich selbst sprechend, »ja, das sind Deine lieben treuen Augen, Deine hohe kluge Stirn; aber nicht so traurig darfst Du blicken, denn die Spuren, welche die schwere Kerkerhaft Dir aufgerrückt hat, werden unter meiner Pflege bald, sehr bald schwinden, und vor Allem der schmerzliche Zug um Deinen Mund. O, laß mich nur etwas gekräftigt sein, denn vorläufig bedarf ich ja selbst noch einiger Pflege,« fügte sie mit einem holden Lächeln hinzu, mit einem Lächeln, so süß, so innig und glücklich, wie damals, als sie nur erst des Lebens schönste Seite kennen gelernt hatte, mit einem Lächeln, so rührend und hoffnungsvoll, daß es mir in die Seele schnitt und mir vor unbeschreiblichem Weh auf's Neue unbewußt Thränen in die Augen drangen.

»Arme, schwer geprüfte Johanna!« sagte ich halblaut, ihre schmalen Hände mit heißen Küssen bedeckend.

In demselben Augenblick bemerkte sie den Oberstlieutenant, der leise in die Stube getreten war und mit schlaft niederhängenden Armen und gefalteten Händen, ein wahres Bild des Grames zu uns herüberschaute.

»Da ist der gute Onkel,« sagte sie freudig erregt, dem alten Herrn die Hand entgegenreichend. »Lieber theurer Onkel, Du und die Tante, Ihr seid so besorgt um mich gewesen,« fuhr sie in der ihr eigenthümlichen herzgewinnenden Weise fort, »so besorgt, daß ich es Euch nie genug danken kann.«

»Schone Dich, mein Herzchen, schone Dich und strenge Dich nicht zu sehr an, sprich nicht so viel,« entgegnete mein Vormund, mir heimlich einen bezeichnenden Blick zusendend.

»Latz mich doch sprechen; seit meine Brust freier ist und ich es, ohne Schmerz zu empfinden, thun kann, fühle ich die Neigung, immerwährend zu erzählen – nur müde bin ich noch; eine halbe Stunde möchte ich so recht ruhig und ungestört schlafen – an Deiner Brust ruhen, Gustav, setze Dich zu mir – und Onkel, gieb Du mir Deine Hand,« sagte sie plötzlich leise, fast flüsternd, und zugleich wich die letzte Spur von Röthe aus ihren Wangen.

Schnell holte ich einen Stuhl herbei, und als ich mich neben sie niederließ, lehnte sie mit einem glückseligen Lächeln ihr theures Haupt an meine Brust.[820]

Ich schloß sie in meine Arme, der Oberstlieutenant, der vor ihr auf einem Schemel saß, hielt ihre Hand, und angstvoll hafteten unserer Beider Blicke an den lieben treuen Augen, die sich geschlossen hatten.

Nach einigen Minuten hoben sich ihre Lider mit den langen seidenen Wimpern noch einmal zur Hälfte empor, »nur eine halbe Stunde,« flüsterte sie, ihr schönes Lockenhaupt fester an meine Brust lehnend, »weckt mich nicht, ich bin so müde und Gustav – an Deinem Herzen ruht es sich so schön – so schön – so süß, daß ich ewig so schlafen möchte.«

Ihre Augen schlossen sich wieder; eine heiße Thräne rollte mir über die Wange und fiel ihr gerade auf die Stirn.

Johanna lächelte, wie im Schlaf; ihr Athem wurde leisen und leiser, bis ich ihn zuletzt nicht mehr hörte; das süße Lächeln thronte aber noch immer auf dem engel-schönen, bleichen Antlitz.

Minuten verrannen; die Lampe brannte trüber, ihr matter Schein spiegelte sich in einem Thautropfen, der an der äußersten Spitze von meines Vormundes Schnurrbart zitterte; ich sah es, als ich, nach Fassung ringend, ihn fragend und Trost von ihm erhoffend anschaute.

Ein kaum bemerkbares Neben erschütterte die zarte Gestalt in meinen Armen; ihr Haupt sank noch schwerer und tiefer auf meine Brust hinab, ihre Arme erschlafften und die zarten Finger, die in meiner und meines Vormundes Händen ruhten, verloren die letzte Probe von Spannkraft.

»Um Gottes willen, sie stirbt,« flüsterte ich, von grenzenloser Verzweiflung ergriffen, dem Oberstlieutenant zu.

»Mein Sohn,« antwortete dieser hohl und dabei doch mit eigenthümlicher Entschiedenheit, »ich kenne solche Zeichen, ermanne Dich und gedenke Deiner armen Johanna hinfort als eines dieser Welt entrückten Engels.« –

Ich wollte, ich konnte die schreckliche Kunde nicht glauben. Trotzdem ich auf das Schlimmste vorbereitet war, hielt ich es doch nicht für möglich, daß die guten, aufrichtigen Augen sich nicht mehr öffnen sollten, ihr treues Herz zu schlagen aufgehört habe. Schmückte doch noch immer das selig? Lächeln ihr marmor-bleiches Antlitz, das Lächeln, welches ihr meine Thräne entlockt und der Tod dann festgebannt hatte. Sogar als ich, der Aufforderung des Oberstlieutenants taumelnd Folge leistend, mit ihm die theure Torte nach ihrem seit Wochen nicht mehr berührten Lager hintrug, bezweifelte ich noch immer, daß sie wirtlich ihrem letzten Schlummer in die Arme gesunken sei.

Wie ich sie dann aber vor mir sah, so still, so bleich und dabei doch so himmlisch-schön, wie der lächelnde Zug sich gar nicht mehr verändern wollte und ihre lieben Hände regungslos so liegen blieben, wie wir sie hinlegten, da erst brach mein verhaltener Jammer über den unersetzlichen Verlust, den ich erlitten hatte, sich Bahn.

»Johanna!« rief ich, von namenloser Verzweiflung ergriffen, aus; »Johanna!« rief ich noch lauter, und mit unwiderstehlicher Gewalt zog es mich auf die Kniee nieder und mein Kopf sank auf die erkaltende Hand der geliebten Todten.[821]

Doch Johanna hörte nicht mehr, sie fühlte nicht die Thränen, die sie benetzten. –

Düsterer brannte die Lampe, der Oberstlieutenant durchmaß das Gemach mit so festen Schritten, daß sie unheimlich widerhallten, ich aber betete inbrünstig zu Gott, daß er mich, Angesichts meines vernichteten irdischen Glückes, ebenfalls zu sich nehmen möge. – Längere Zeit verstrich; schwach kämpfte die Lampe um ihr Leben und laut dröhnten die festen Schritte auf dem Fußboden.

Plötzlich verstummte das Geräusch dicht hinter mir und des Oberstlieutenants Hand legte sich auf meine Schulter. Der alte Krieger mit seiner eisernen Natur war, nachdem der längst befürchtete und im Voraus beklagte Fall eingetreten, nieder vollständig Herr seiner selbst geworden, ohne indessen mit einem andern Gefühl, als dem der innigsten Theilnahme auf die Ausbrüche meines wilden Schmerzes niederzublicken.

»Mein Sohn, ich habe Dir Zeit gelassen, sie zu beweinen, jetzt aber ist es Zeit, auch an Dich selber zu denken,« sagte er mit seiner gewöhnlichen, rauhen, nur etwas heiserer klingenden Stimme.

Ich gab keine Antwort, ich war mir nicht einmal bewußt, daß er nur zu mir gesprochen haben könne.

Gleich darauf erschallte wieder das gemessene Geräusch, mit welchem der alte Herr hinter mir auf und ab wandelte.

Nach Verlauf einer weiteren Viertelstunde richtete er abermals die Aufforderung an mich, an meine Sicherheit zu denken.

Doch was galt mir jetzt noch meine Sicherheit? Was kümmerte es mich, daß die Hascher vielleicht auf meiner Spur waren? Ich hatte mit Allem abgeschlössen, denn meine Johanna war ja todt.

Der Oberstlieutenant, das Vergebliche seiner Bemühungen einsehend, setzte seinen Gang wieder fort. Er öffnete das Fenster und lauschte in die Nacht hinaus; er begab sich an die Hausthür und lehrte zurück; ich dagegen kniete noch immer vor meiner armen geopferten Johanna.

Abermals hatte ei sich an die Hausthür begeben, als er nach längerem Lauschen plötzlich mit hastigen Bewegungen in das Sterbegemach stürbe.

»Wenn auch nicht Deinetwegen, so muß Du Dich wenigstens um meinetwillen ermannen!« rief er mit gepreßter Stimme aus, indem er mich mit kräftigem Griff emporzog. »Ich höre den Wagen, der mir meine Lisette bringt, fort also, keine Minute ist zu verlieren, oder Dein alter Vormund hat auch noch den Kummer, sich Deiner nur als eines in Fesseln schmachtenden Verbrechers erinnern zu dürfen!«

Mechanisch und schwankend folgte ich ihm bis in die Mitte des Gemaches nach; dann aber riß ich mich wieder los, und noch einmal vor Johanna hintretend, legte ich, von unsäglicher Qual gefoltert, meine Hand auf ihre weiße Stirn.

»Schlafe wohl, mein guter Engel, meine Johanna,« seufzte ich aus gebrochenem Herzen, »schlafe wohl und verzeihe mir den Kummer, den Du um meinetwillen erduldet.«

Einen innigen Kuß drückte ich auf ihre bleichen, erkaltenden Lippen, ein letzter Blick traf das stille,[822] selbst im Tode noch freundliche Antlitz, und dann trat ich an die Seite meines Vormundes.

»Ich bin bereit,« sagte ich ruhig, indem wir uns schnell auf den Hof begaben, wo Anton meiner harrte, »ich habe jetzt nur noch Ihre letzten Anordnungen und Rathschläge entgegen zu nehmen.«

»Mein Segen begleite Dich auf allen Deinen Wegen,« sagte der Oberstlieutenant, mich umarmend, »mein Rath und meine Wünsche sind, daß Du so schnell als möglich diese Gegend verlässest. Schreibe mir, sobald Du in Sicherheit bist, und vergiß nicht, mir die Adresse anzugeben, unter welcher ich Dir umgehend antworten kann. Fort, Junge, fort, sie kommen, Gott segne Dich und erhalte Dich auf den Pfaden der Ehre. Johanna ist in Deinen Armen gestorben, die größte Gnade, welche Dir unter den obwaltenden, traurigen Verhältnissen zu Theil werden konnte, vergiß das nie und nun fort!«

Ich küßte meinem alten, väterlichen Freunde inbrünstig die Hand, und fast in demselben Augenblick, in welchem der Wagen nach dem Hofe hinaufbog, verschwand ich auf der entgegengesetzten Seite der Landstraße mit Anton im Walde. Der treue Bursche hatte sich auf den Rath des Oberstlieutenants mit meinen zurückgelassenen Kleidungsstücken beladen, um dadurch jeglicher Möglichkeit einer Entdeckung vorzubeugen. –

Wie wir an jenem Abend in unser Versteck zurückgelangten, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, daß ich auf meinem dürftigen Lager zu dem Bewußtsein einer grenzenlosen Vereinsamung und Verlassenheit erwachte.

Mein Vormund hatte mir so dringend angerathen, zu fliehen, ich hatte es auch ernstlich versprochen, allein die Ausführung dieses Versprechens schien mir noch in weiter Ferne zu liegen. Wie mit unzerreißbaren Banden hielt es mich an die Oberförsterei gefesselt, an das Haus, in welchem mir einst des Lebens schönstes Glück erblühte, um nach kurzer Frist zu Grade getragen zu werden. –

Die Nacht wich dem Tage, die niedrig stehende Sonne beschrieb ihren weiten Bogen von Osten nach Westen, und noch immer dachte ich nicht an meinen Aufbruch.

Wohl bat mich Anton mit thränenfeuchten Augen, dem Rathe meines Vormundes zu folgen; wohl sprach er von der Verrätherei und der List seines Bruders, wohl wies er darauf hin, daß er sich endlich einmal nach seinem Jakob umsehen müsse, doch gelang es mir leicht, die Bedenken des armen Schelms zu beschwichtigen. Ich rühmte die Sicherheit und Verborgenheit seines Schlosses, und zu der Freude, welche er hierüber empfand, gesellte sich noch der Umstand, daß er mich über Alles liebte und jetzt, nachdem sein Schutzengel auf der Oberförsterei die freundlichen Augen auf ewig geschlossen, nur noch mit Angst und Schrecken an die bevorstehende, unumgänglich nothwendige Trennung dachte.

Daß seine lange Abwesenheit bei den Seinigen Mißtrauen erwecken müsse, begriff ich sehr Wohl, ebenso, daß mit jedem Tage die Sehnsucht nach seinem Raben wuchs, und so rieth ich ihm denn, sich noch an demselben Abend nach der Hütte seiner Mutter zu begeben, dort einige Erkundigungen einzuziehen[823] und dann bei der ersten günstigen Gelegenheit zu mir zurückzukehren.

Er that, wie ich ihm rieth, doch bereits in der Mitte des folgenden Tages traf er wieder bei mir ein. Die Gelegenheit, das elterliche Obdach ohne Aufsehen zu verlassen, hatte sich nur zu schnell geboten. Trotzdem er seinem Bruder eine Anzahl, vorgeblich auf der Landstraße erbettelter, kleiner Münzen einhändigte, war er von diesem ungewöhnlich hart mißhandelt worden. Die Mißhandlungen hätte er wohl ertragen, als derselbe aber drohte, seinem Jakob den Hals umzudrehen, hatte er den Raben an sich genommen und den günstigen Augenblick erspähend, war er davongelaufen.

Der Vogel, der seine Zunge nicht zu zügeln verstand, war allerdings ein gefährlicher Gast für mich; um Alles in der Welt aber hätte ich es nicht vermocht, des braven, treuherzigen Burschen einzige Freude aus meiner Nähe zu bannen, um so mehr, da wählend meines Aufenthaltes in der Höhle kein fremder Mensch die abgelegene Schlucht betreten hatte, und Anton, die mir drohende Gefahr nicht unterschätzend, bereitwilligst seinen vorwitzigen Jakob mittelst einer an seinem Fuße befestigten Schnur im Hintergrunde der Höhle gefangen hielt.

Entdeckungen, die vielleicht in Beziehung zu meiner Lage zu bringen gewesen wären, hatte er nicht gemacht. Nur einmal war er von seinem Bruder gefragt worden, ob er mich gesehen habe, und als er dies verneinte, hatte jener die Bemerkung hingeworfen, daß der Oberstlieutenant schwerlich ohne fremde Hülfe das todte Fräulein von dem Stuhl auf das Bett getragen haben könne.

Anton fand in dieser Aeußerung nichts Verdächtiges, ich dagegen errieth sogleich, daß jener Umstand jedenfalls zwischen Bernhard und dem wilden Andres zur Sprache gekommen. Und noch mehr, es schien mir daraus hervorzugehen, daß die beiden Geistlichen kaum noch die zuvorkommende Aufnahme im Hause meines Vormundes gefunden, wie Bernhard vielleicht gewohnt gewesen, und daher in dem Verdacht bestärkt wurden, daß ich in der Nähe weilen müsse.

Auch die Stunde, in welcher die Beerdigung in dem nächsten Kirchdorf stattfinden sollte, hatte Anton sich gemerkt, und von ganzem Herzen billigte ich seinen Entschluß, derselben beiwohnen und mir demnächst einen Bericht, so gut es eben in seinen Kräften stand, über die Feierlichkeit abstatten zu wollen.

Wie gern, wie unendlich gern hätte ich meiner armen Johanna das letzte Geleite gegeben, wie gern zusammen mit meinem erkalteten Herzen auch noch einige Spätblumen zu ihr in's Grab gelegt; doch ich war ein Geächteter, der den Anblick anderer Menschen fliehen mußte. Aber Anton gab ich ein Sträußchen Blumen und grüne Farrenkräuter mit, das Einzige, was in dem Bereich meines Verstecks zwischen dem Gestein aufzufinden war, und ertheilte ihm den Auftrag, das Sträußchen auf den Sarg zu legen und die liebe, theure Todte von mir zu grüßen, aber leise, ganz leise, so daß seine Worte nicht von den Umstehenden vernommen weiden könnten.

Anton versprach, meinen Auftrag auszuführen, und seine trüben Augen schauten mich dabei so treuherzig, so theilnahmvoll und aufrichtig an, daß ich[824] unwillkürlich einen Vergleich anstellte zwischen dem armen, von aller Well verlassenen und verachteten Krüppel und Denjenigen, die mit kalter Berechnung das irdische Glück einer Familie zerstörten, um ihren selbstsüchtigen, verächtlichen Zwecken zu genügen, und sich dabei stolz die Träger und Verbreiter des göttlichen Wortes und der göttlichen Lehre nannten.

Als Anton dann gegangen war, ich mir und meinen traurigen Betrachtungen allein überlassen blieb und der eigentlichen Urheber meines Unglücks gedachte und des unschuldigen Opfers, welches ihren finstern, fluchwürdigen Plänen gefallen war, o, wie sich da mein Herz zusammenschnürte. Ich war kein Mensch mehr, der milderen Gefühlen zugänglich; nein, eine wilde Wuth, ein unersättlicher Durst nach Rache erfüllte mich, und indem sich meine Zähne knirschend aufeinander rieben, sann ich darüber nach, wie es zu ermöglichen sei, Bernhard sammt seinem verrätherischen Genossen, und sollte mein Leben der Preis dafür sein, auf die qualvollste Art zu vernichten. Und hätte ich zehn Leben zu verlieren gehabt, damals erschienen sie mir ein geringer Preis für die blutige Vergeltung, welche ich an Johanna's und meinen Verderbern auszuüben hoffte.

Ich lag hart am Ausgange meines Verstecks; meine Blicke reichten zwischen den Brombeerranken hindurch eine kurze Strecke in die Schlucht hinein. Der Himmel spannte sich grau und eintönig über die stille Landschaft aus; die in der Luft enthaltene Feuchtigkeit hatte Bäume, Zweige und Felswände dunkler gefärbt und die dürren Blätter durchnäßt und erschlafft, wie um ihnen, zur Feier des Tages, das Rauschen und Flüstern zu verbieten, doch der Anblick der gleichsam in Halbschlummer versenkten Natur vermochte den wilden Sturm nicht zu beschwichtigen, der in meiner Brust tobte. Thränen der Wuth drangen mir in die Augen und mit krampfhaftem Griff schälten meine Finger das graue Moos von den vor mir liegenden Felstrümmern.

»O, meine Rache wird Euch erreichen,« stöhnte ich in mich hinein, und verzweiflungsvoll griff ich in die dornenreichen Brombeerranken, daß das Blut an mehreren Stellen aus der aufgerissenen Haut meiner Hände hervorquoll, »ja, sie wird, sie muß Euch erreichen,« wiederholte ich in Gedanken, das Blut mit wilder Gier betrachtend und an meine Lippen führend.

Ein ferner gedämpfter Ton drang zu mir in mein Versteck.

Ich lauschte; derselbe Ton wiederholte sich wieder und wieder. Unwillkürlich faltete ich die Hände, und meine heiße Stirn auf einen kalten Stein pressend, horchte ich aufmerksam weiter.

Die Stunde war gekommen; sie trugen meine Johanna zu Grabe und feierlich lauteten dazu die Glocken in der abwärts gelegenen Kirche.

Was mich eben roch mit unauslöschlichem Haß und Rachedurst erfüllte, das war plötzlich vergessen; mir war, als habe Johanna durch die frommen Klänge zu mir gesprochen, mir ihren letzten Scheibegruß gesendet, mich gebeten, ihr Andenken heilig zu halten und nicht durch Verfolgen von Racheplanen zu verunglimpfen, sondern das Richten und Strafen allein der Vorsehung zu überlassen.

»Johanna!« krächzte der Rabe hinter mir, mehr[825] sprach er nicht, er war erfüllt von Mißmuth über seine Gefangenschaft.

»Johann– Jo–han–na,« wiederholte er noch einmal kaum verständlich.

In der Ferne aber läuteten die Glocken fort und fort, so feierlich und friedlich, als ob sie empfunden hätten, daß ihre Klänge einem entschlafenen Engel das letzte Geleite gaben. Fester drückte ich meine fieberheiße Stirne auf den kalten Stein, heftiger rangen sich meine Hände ineinander und brennende Thränen entströmten meinen Augen.

Die Glocken läuteten fort und fort, so feierlich und friedlich, sie läuteten meine Johanna zu Grabe, und mit ihr auch meine Jugend. In tiefster Trauer, unter unsäglichen Schmerzen und Thränen überschritt ich die in meinem Leben so scharfgezeichnete Grenze zwischen dem leicht erregbaren und an frohen Hoffnungen so reichem Jünglinge und dem ernsten, überlegenden Manne.

Die Glocken läuteten feierlich und friedlich, gerade wie damals, als ich, noch ein Kind, mit dankbarem Herzen ihren Tönen lauschte, mit dankbarem Herzen, weil ich glaubte, die freundlichen Glocken wären von dem lieben Gott beauftragt, die schönen Sonntage und Festtage, und vor allen Dingen das liebe, liebe Christfest zu machen.

Sie läuteten wie an den milden Sommerabenden, wenn sie die Gemeinde zur frommen Abendandacht mahnten, während ich glücklich und selig Wald und Flur durchstreifte und mich in die Stelle eines Helden aus »Tausend und eine Nacht« hineindachte. Sie läuteten wie damals, als ich Hand in Hand mit Johanna auf der Rasenbank saß und wir in unserm heitern Gespräch über die Zukunft plötzlich durch die Glocken unterbrochen und zu ernsten Betrachtungen über unsere Zukunft veranlaßt wurden. Freundlich lächelnde Bilder schwebten damals meinem Geiste vor, und jetzt? Ich war ein geächteter Flüchtling, und meine Johanna – die Glocken verstummten – meine Johanna wurde in's Grab gesenkt. –

Ich schloß die Augen, und vor mir sah ich den bekränzten Sarg, der mein ganzes Glück, meine einzige Lebensfreude umschloß. Ich sah den blumengeschmückten Sarg und die Thränen, die Alt und Jung dem lieben, freundlichen und wohlthätigen Kinde nachweinten; ich hörte die frommen Worte, die von dem ehrwürdigen Dorfpfarrer über das noch offene Grab gesprochen wurden, das Schluchzen, als Kränze und Blumen in die letzte irdische Wohnung des holden Engels hineinfielen. Ich vernahm das herzerschütternde Rasseln der ersten Handvoll Erde – und dann ertönten die Glocken wieder, feierlich und friedlich, wie um das Schaufeln der Todtengräber zu übertauben.

Meine Thränen waren versiegt, versiegt auf lange, lange Zeit, versiegt, vielleicht auf ewig. –

»Jakob, Spitzbube, Spitzbube,« grollte der Rabe hinter mir.

Ich achtete nicht darauf. »Jakob, Anton koch Kaffee, Spitzbube,« rief der Rabe lauter und zorniger.

Ich erinnerte mich seiner Wachsamkeit und scharfen Gehörs, und um etwas weiter um mich zu schauen, hob ich den Kopf empor. Doch ebenso schnell ließ[826] ich ihn wieder sinken; ich hatte dem wilden Andres, der unten in der Schlucht stand und argwöhnisch umherspähte, gerade in das Antlitz gesehen. Den Ruf des im Hintergründe der Höhle verborgenen Raben konnte er schwerlich vernommen haben, möglicher erschien mir dagegen, daß er trotz der mich verbergenden Ranken, meine Bewegung entdeckt habe. Jedenfalls war sein geräuschloses und behutsames Herbeischleichen der sicherste Beweis seiner feindlichen Absichten; würde mir doch im entgegengesetzten Fall seine Annäherung, obwohl die nassen Blätter den Schritt eines Menschen sehr dämpften, kaum entgangen sein. Daß er sich aber am hellen Tage nur zum heimlichen Schlingenstellen in den Wald begeben habe, ließ sich kaum annahmen.

Wie einst in der Dorfschänke, so gab er auch hier kein Zeichen von sich, aus welchem ich auf seine Absichten zu schließen vermocht hätte. Langsam und vorsichtig, wie er gekommen war, bewegte er sich in der eingeschlagenen Richtung weiter, hier das übereinandergethürmte Gerölle aufmerksam prüfend, dort einen Strauch auf die Seite biegend, wie um sich über die Lieblingspfade der Hasen und Kaninchen Gewißheit zu verschaffen.

Sein Benehmen, so natürlich es auch erschien, beruhigte mich indessen nicht; ich fetzte das Schlimmste voraus, und als er endlich aus meinem Gesichtskreis entschwunden war, begann ich sogleich meine geringen Habseligkeiten zusammenzupacken, um noch im Laufe der Nacht meine Flucht fortzusetzen.

Quelle:
Balduin Möllhausen: Die Mandanenwaise. In: Deutsche Roman-Zeitung, 2. Jg., Band 2, Berlin 1865, S. 817-827.
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