Fünfzehntes Capitel.

Die Berathung.

[806] Der Tag, an welchem ich mich nur eines schmalen Streifens gedämpften Sonnenlichtes erfreuen durfte, schien mir, trotz der rührenden Sorgfalt, mit welcher Anton sich unablässig um wich beschäftigte, endlos zu sein.

Langsam, langsam entrannen die Stunden, langsamer noch, als hinter den eisernen Gittern meines Gefängnisses. Ich hatte ja so viel auf dem Herzen, was ich meinem gütigen Vormunde mitzutheilen wünschte, daß es mich wie eine schwere Last bedrückte und ich sehnsuchtsvoll darauf harrte, ihn durch ein offenes Geständniß gleichsam zum Mitträger der mir auferlegten Bürde zu machen, um dafür von ihm in seiner herzlichen, rauhen Weise getröstet zu werden.

Aus seinem Benehmen gegen Anton und seinem Schreiben an mich ging ja hervor, daß er mir nicht mehr zürne, es nicht mehr für ein Verbrechen an feinem König halte, mit einem armen, durch das Land gehetzten politischen Flüchtling zu verkehren.

Ich hoffte auf Trost von ihm; doch wo wäre Trost für meinen gebrochenen Seelenzustand zu finden gewesen?

Die Stunden verrannen so langsam, so langsam bezeichnete der schmale, zwischen den Epheuranken im Ausgang der Höhle spielende Streifen Sonnenschein das Enteilen der Zeit; und als draußen das Licht endlich erlosch und die in der Höhle herrschende Dämmerung sich in schwarze Finsterniß verwandelt hatte, da erschienen mir die Minuten so lang, so endlos, wie kurz vorher noch die Stunden.

Doch ich durfte mein Versteck nicht vor der verabredeten Zeit verlassen; denn eines theils mußte ich vor Andres auf meiner Hut sein, anderntheils hatte der Oberstlieutenant zu dringend und bestimmt vor jeder Uebereilung gewarnt. –

Endlich war der Zeitpunkt da; mit Hülfe von Stahl und Stein überzeugte ich mich, daß meine Uhr halb zwölf zeigte, und behutsam krochen wir, Anton immer voran, in's Freie hinaus.

Ohne Unfall oder irgend Jemand zu begegnen erreichten wir die Oberförsterei. Auf dem Hofe war[806] Alles still; das alterthümliche, einstöckige Haus lag wie in tiefem Schlummer da; auf der Vorderseite brannte nur noch in des Oberstlieutenants Stube Acht, aber auch dieses brannte nur trübe und düster, als wenn es ebenfalls, von seiner einförmigen Arbeit ermüdet, hätte einnicken mögen. Nach der Gartenseite des Hauses ging ich nicht herum, ich fürchtete mich vor einem Anblick, wie mir derselbe am vorhergehen den Abend zu Theil geworden.

Als wir in den Hof eintraten, sprangen mir die Hunde, die kurz vorher unsere Annäherung durch scharf abgebrochenes Gebelle gemeldet, freundlich winselnd entgegen und begleiteten uns bis zur Hausthür. Das Geräusch, welches sie erzeugten, mußte der Oberstlieutenant vernommen haben, denn gerade, als Anton an die Fensterscheiben klopfen wollte, öffnete sich die Thür und vor mir stand mein Vormund.

Er befand sich im Dunkeln, ich vermochte also seine Gestalt nicht zu unterscheiden, aber an der Art, in welcher seine Hand sich auf meine Schulter legte und mich mit festem Griff zu sich hereinzog, hätte ich ihn, und wäre ich von Tausenden von Menschen umgeben gewesen, sogleich erkannt.

»Anton soll mit hereinkommen,« sagte er leise, »er kann so lange am Ofen sitzen; selbst von meinen Leuten darf Niemand eine Ahnung davon erhalten, daß Du hier gewesen bist, und überdies versteht der arme Teufel nicht den zehnten Theil von dem, was wir zusammen sprechen.«

»Und wenn er es verstände, so würde die treue Seele lieber hundertmal das Leben verlieren, als nur ein einziges Wort wiederholen, welches Ihnen oder mir zum Nachtheil gereichen könnte,« entgegnete ich, nachdem ich Anton herbeigerufen, und schweigend begaben wir uns in das Gemach.

Nachdem wir eingetreten waren und der Oberstlieutenant sich noch einmal von der Sicherheit der nächsten Umgebung überzeugt hatte, ergriff er schmerzlich bewegt meine Hand. Sein einziges Auge bohrte sich förmlich in meine Seele ein, der weihe Schnurrbart zuckte, als ob er plötzlich eigenes Leben erhalten hätte, und längere Zeit dauerte es, bis der alte, würdige Krieger Worte fand.

»Junge, entschuldige Dich nicht,« begann er ernst, und feine rechte Hand drückte die meinige krampfhaft, »entschuldige Dich nicht, ich habe Dir unrecht gethan; ich hätte wissen müssen, daß Du Dich lieber in tausend Millionen Granatstücke würdest zerreißen lassen, eh Du zu Johanna eine Silbe über ihre Eltern verloren hättest.«

»So wahr mir Gott helfe,« antwortete ich, indem ich, überwältigt von so viel Herzensgüte, seine Hand küßte, was er, ganz gegen seine Gewohnheit, ruhig geschehen ließ; »ich bin – nein, Johanna und Ich find die Opfer einer furchtbaren Täuschung, eines tief angelegten verbrecherischen Plans geworden –«

»Ich habe es geahnt,« unterbrach mich der Oberstlieutenant, mich zum Sopha hinführend, »komm, setze Dich, ruhe Deine geschundenen Glieder, stärke Dich durch ein Glas Wem, und dann laß uns plaudern und erzählen. Hm, ich wollte Dich nicht wiedersehen, aber es ist besser so, diese Nacht und die Erinnerung an dieselbe wird uns Beiden ein Trost sein. Ja, ja mein Sohn, so recht aufrichtig wollen[807] wir mit einander sprechen – es ist das letzte Mal, denn hoffentlich bist Du morgen um diese Zeit bereits weit fort von hier – ja Du mußt fort, so lange es noch Zeit ist, und dann – wenn es überhaupt einen Himmel giebt, treffen wir auch wohl noch einmal wieder zusammen.«

»So Gott will, noch in diesem Leben,« versetzte ich aus überwallendem Herzen, »denn Sie erfreuen sich noch immer einer jugendlichen Rüstigkeit, und Amerika liegt nicht außerhalb der Welt.«

»Scheinbar, ja scheinbar, mein lieber Junge, bin ich rüstig genug, aber glaube mir, alles Bivouakiren in meinem Leben zusammengenommen, und oft genug war der zum Bett bestimmte Erdboden verdammt naß und kalt, hat nicht halb so zerbröckelnd auf meine alten Knochen eingewirkt, wie meiner armen Nichte hoffnungsloser Zustand.«

»Ist ihr Zustand denn wirklich hoffnungslos?« fragte ich tonlos, den Oberstlieutenant starr anblickend. »Hoffnungslos, mein Sohn, leider nur zu hoffnungslos; der Arzt sagt es, und ich sehe es; oder glaubst Du etwa, ich würde das Pfaffengesindel auch nur einen Augenblick in meinem Hause dulden, wenn es nicht geschähe, um dem armen, überspannten Kinde die letzten paar Lebenstage nicht zu verbittern? Junge, es ist hart, so jung, so schön, so gut und so heiß geliebt, und zur großen Armee abmarschiren zu müssen. Du erinnerst Dich wohl noch, als ich einst zu Dir von den Sünden der Eltern sprach, die an den Kindern heimgesucht würden; damals dachte ich nur an eine erbliche Krankheit; jetzt aber sehe ich, daß jener Spruch wörtlich genommen werden muß.«

»Hätten nicht jene Menschen mit ihrem verderblichen Einfluß fern von Johanna gehalten werden können?«

»Halte sie fern!« rief der Oberstlieutenant grimmig aus, und die emporweisende Klappe sank durch einen leichten Stoß, das leere Auge bedeckend, nieder; »halte sie fern, wenn ein so liebes, braves Mädchen, erfüllt von schändlicher Weise hervorgerufenen fixen Ideen, Tag und Nacht jammert und nach dem geistlichen Tröste des ersten besten Kaplans verlangt! Halte sie fern, wenn das arme Kind Deine Kniee umklammert, wenn Deine Frau ihre Bitten und Thränen mit denen ihres Schützlings vereinigt und Dich auf Schritt und Tritt mit ihren närrischen, aber gut gemeinten Ansichten verfolgt. Halte sie endlich fern, wenn sich Dir ein Hoffnungsschimmer zeigt, daß durch das Gewähren ihrer Wünsche sie Dir erhalten bleiben könnte, und wenn Du es vermagst, dann will ich gern einräumen, daß Du wehr davon verstehst, als ich. Ich habe gedacht, wie Du an meiner Stellt gedacht haben würdest, und freute ich mich auch nicht, daß sie urplötzlich die Religion ihrer verstorbenen Mutter annehmen wollte, und noch obenein ganz gegen deren ausdrücklichen Wunsch und Villen, so wäre es mir im Grunde ganz gleich gewesen, ob ich eine Christin, Katholikin, Türkin oder Heidin zur Nichte gehabt hätte, wenn sie mir und Dir erhalten geblieben wäre. Was kümmert mich die Form der Gottesverehrung, so lange man mich für meine Person ungeschoren läßt!«

»Ich sah den jungen Geistlichen, den Johanna sich zum Lehrer gewählt hat.«[808]

»Sonst ein sehr verständiger, umgänglicher Mensch,« schaltete der Oberstlieutenant ein.

»Mag wohl sein« entgegnete ich, »aber ich kenne ihn schon lange, und er ist gerade der Verräther, der mich in die politischen Wirren hineinzog, dann aber, als mir jede Umkehr abgeschnitten war, die Rolle eines Spions übernahm, um selber keinen Verdacht auf sich zu lenken.«

»Der Herr Bernhard?« fragte mein Vormund heftig emporschreckend.

»Ja, der Herr Bernhard, und ich habe allen Grund zu vermuthen, daß ihm nur darum zu thun war, mich aus dem Wege zu räumen, um bei Johanna desto leichteres Spiel zu haben.«

»Er gehörte also mit zu der Verbindung und spielte demnächst den Verräther?« rief mein Vormund aus, der sich über das Gehörte gar nicht wieder beruhigen konnte.

»Sein Benehmen läßt sich wenigstens nicht anders deuten.«

»O, dann verschaffe mir Beweise, und so wahr ein Gott lebt, für seine Theilnahme an der Verschwörung will ich ihn dahin bringen, wohin er Dich zu bringen gedachte!«

»Er war zu listig, zu vorsichtig, ich glaube kaum, daß sich Beweise gegen ihn beschaffen lassen würden, und gelänge dies auch wirklich, so würden wir sie trotzdem nicht gegen ihn benutzen dürfen. Durch mein Ehrenwort bin ich verpflichtet, nie als Zeuge gegen ihn aufzutreten. Ich würde mich desselben Verbrechens schuldig machen, welches wir ihm zur Last legen.«

»Du hast recht, Junge, es geht nicht, es geht nicht,« versetzte der Oberstlieutenant, indem er, wie entkräftet, auf feinen Platz zurücksank, »und dann Johanna, bedenke Johanna, die in ihrer unglücklichen, religiösen Ueberspanntheit ihr ganzes Heil allein von seinen verdammten Lehren erwartet. Welche Folgen könnte es für sie haben, erführe sie, daß er – daß er – «

»Sprechen Sie es aus, Herr Oberstlieutenant,« fügte ich zähneknirschend hinzu, »sprechen Sie es ohne Rückhalt aus: erführe Johanna, daß der Herr Bernhard ein Schurke, ein Gotteslästerer fei, der nur nach einem tief angelegten, verbrecherischen Plan handelte. Mein Lebensglück hat der Verräther zerstört, indem er Johanna an den Rand des Grabes brachte, und ich habe nichts mehr zu verlieren. Aber eine Aufgabe bleibt mir noch, eine heilige Aufgabe, nämlich meine Hand in das Blut des Schurken und seines Mitschuldigen zu tauchen, in ihren letzten Lebensaugenblicken ihre Verbrechen aufzuzählen und ihnen in die ersterbenden Ohren zu schreien.«

»Du wirst das nicht thun, mein Sohn,« sagte der Oberstlieutenant entschieden, »Du wirst das nicht thun, wenn Dir die letzten Wünsche Deines greisen Vormundes noch etwas gelten. Ziehe hin in Frieden, gründe Dir in fernen Landen eine neue Heimath und gönne mir den Trost, Deiner als eines braven, von keiner unedlen Handlung besudelten Mannes gedenken zu dürfen.«

Ich schwieg, aber mein Entschluß, blutige Vergeltung zu üben, war noch nicht erschüttert, und um einen klaren Blick in Bernhard's verderbliches Gewebe zu gewinnen, bat ich den Oberstlieutenant, mir zu erzählen,[809] wie Johanna's trauriger Seelenzustand seinen Anfang genommen, und welchen Ursachen es vorzugsweise zuzuschreiben sei, daß die verheerende Krankheit mit so rasender Schnelligkeit um sich gegriffen und ihre Gesundheit unheilbar zerstört habe.

Der Oberstlieutenant, als ob es ihm lieb gewesen sei, sich ausschließlich mit der Vergangenheit beschäftigen zu können und dadurch andern auf ihn einstürmenden, peinigenden Gedanken zu entgehen, begann ohne zu zögern:

»Welch harter Schlag für uns Alle die Nachricht war, daß Du als Hochverräther verhaftet worden seift, um einem schmachvollen Loose entgegenzugehen, brauche ich Dir nicht zu schildern. Ich sah die schönsten Hoffnungen, die ich noch am späten Abend meines Lebens hegen durfte, durch Deinen unverantwortlichen Leichtsinn zerstört und betrachtete daher, wie es für einen Mann von loyalen Gesinnungen nicht anders möglich, jede fernere Verbindung zwischen uns auf ewig abgebrochen. Meine gute Lisette dachte ähnlich, doch hob sie Deine guten Eigenschaften hervor und behauptete, daß es nie so weit gekommen wäre, wenn Du über Religionssachen nicht so leichtfertig geurtheilt und Dir einen richtigen Begriff über das ewige Leben angeeignet hättest.«

»Du kennst ihre schwache Seite, sie hält viel auf Ohrenbeichte und Messen, und nur ihre hingebende Liebe zu mir war Ursache, daß es während unsers langen, glücklichen Ehestandes nie weiter, als zu einigen harmlosen Plänkeleien kam, bei welchen ich, da ich mich jedesmal festredete, stets den Kürzeren zog.«

»Anders, als wir Beide,« dachte Johanna. »Das liebe Kind, obwohl in tausend Aengsten, tadelte Dich und Deine Handlungen nicht nur nicht, sondern pries dieselben sogar als Beweise Deines edlen Charakters. Händeringend beschwor sie mich, Dir zur Flucht behülflich zu sein, und nicht eher beruhigte sie sich einigermaßen wieder, als bis ich, von ihrem Jammer überwältigt, heilig versprach, ihre paar Tausend Thaler zu Bestechungen und wer weiß was sonst noch zu verwenden und Dir aus den Weg nach Amerika zu helfen. Ursprünglich war meine Absicht, Dich zur Strafe für Dein Vergehen noch etwas länger warten zu lassen, dann die Gnade des Königs für Dich anzurufen, und erst wenn dies fehlschlagen sollte, zu andern Mitteln meine Zuflucht zu nehmen.«

»Eh' ich über das Wie und Wann der Erfüllung meines an Johanna gegebenen Versprechens mit mir im Reinen war, trat ein Umstand ein, der alle unsere Pläne wieder umstieß.«

»Zu den Plänen gehörte nämlich, daß Johanna mit Dir in irgend einer Hafenstadt zusammentreffen und als Deine Dir angetraute Frau Dich in's Ausland begleiten wollte. – Armes, armes Kind, nie hatte ich Dir so viel Muth zugetraut!«

»Eines Tages also, es mochte ungefähr acht Wochen nach Deiner Verhaftung sein, trat Johanna hastig in meine Stube. Ihre Augen waren verweint, ihre Locken zerrauft, ihr Gesicht glühte und dabei zitterte sie dergestalt, daß sie sich kaum aufrecht zu halten vermochte.«

»Onkel! rief sie laut aus und ihre Augen waren[810] so starr auf mich gerichtet, daß es mich förmlich erschreckte, wie sind meine Eltern gestorben?«

»Deine Eltern? fragte ich verwirrt zurück, denn gerade diese Frage hätte ich am allerwenigsten erwartet; Deiner Mutter mußt Du Dich noch erinnern können, fügte ich dann hinzu, und Dein Vater starb, als Du noch ein ganz kleines Kind warst. Aber was soll das, wie kommst Du daraus?«

»Onkel, Du verschweigst mir etwas, wohlan, so will ich es Dir sagen! fuhr sie mit einer Heftigkeit fort, die ich noch nie an ihr bemerkte, noch für möglich gehalten hätte. Meine Mutter hat sich an meinen! Vater versündigt und mein Vater hat Hand an sich selbst gelegt! Ich bin die Tochter einer Sünderin und eines Selbstmörders, und meine Eltern schmachten in der ewigen Verdammniß, während ich, anstatt ihre Schuld durch ein Gott gefälliges Leben und aufrichtige Buße zu sühnen, fröhlich in den Tag hineinlebe!«

»Wer hat Dir das Geheimniß verrathen? rief ich entsetzt aus, und dabei dachte ich an Dich.«

»Gott hat es mir durch einen himmlischen Sendboten kund thun lassen und ich – ich will meine armen Eltern aus der ewigen Verdammniß retten! kreischte sie laut auf und dann sank sie besinnungslos zu Boden. –«

»Als sie endlich auf ihrem Lager aus einer tiefen Ohnmacht erwachte, redete sie irre. Eine schwere Krankheit hatte sie befallen, und während einer Woche glaubten wir täglich, daß es mit ihr zu Ende ginge. In meiner Angst und in der festen Ueberzeugung, daß nur Du allein ihr die furchtbaren Mittheilungen gemacht haben könntest, schrieb ich an Dich, Es waren harte Worte, welche ich Dir sagte, die aber durch den schweren Verdacht, der auf Dir lastete, vollkommen gerechtfertigt waren. Erst nach langer, ruhiger Ueberlegung begann ich zu bezweifeln, daß Du den Frevel an Johanna begangen habest, und ich wurde darin bestärkt, durch einzelne ihrer Dich betreffenden Worte und durch die im Delirium wiederholte Erwähnung eines von einem himmlischen Boten an sie gerichteten Briefes.«

»Johanna's vielfache Fragen, ob Du Dich bereits auf freiem Fuße befändest, und meine auf's Neue erwachende Zuneigung zu Dir, den ich schließlich nur für einen leichtsinnigen, verführten Patron hielt, veranlaßten mich nunmehr, mit aller Macht für Deine Befreiung zu wirken. Mir allein wäre es schwerlich gelungen, doch war ich glücklich genug, die Theilnahme einer höchst achtbaren Familie, in deren Hause Johanna ihre erste Jugend verlebte, für Dich zu erwecken. Jenen treuen Freunden verdankst Du hauptsächlich, daß die Mauern des Kerkers Dich nicht mehr umschließen.«

»Ich war von Allem unterrichtet, was dort in Frankfurt geschah, und unsere Freunde erhielten wieder durch mich regelmäßige Berichte über meine arme Johanna. Wir Alle hofften. Du würdest Dich durch die Besorgniß vor Deiner Wiederverhaftung und durch die ernsten Rathschläge wohlmeinender Leute bestimmen lassen, so schnell als möglich dem nächsten französischer Hafen zuzueilen. Du Haft in dieser Beziehung unsern Erwartungen nicht entsprochen und wirft in Folge dessen eine um so trübere Erinnerung von hier mit[811] fortnehmen. Ich glaube wenigstens, daß Du, so wie ich Dich kenne, nicht von hier scheiden willst, ohne Johanna wenigstens heimlich gesehen zu haben.«

»Ich habe sie gesehen –«

»Du hast sie gesehen?« fragte der Oberstlieutenant erstaunt.

Ich erzählte darauf meine Erlebnisse vom vorhergehenden Abend bis in die kleinsten Einzelheiten, und fand einen gewissen schmerzlichen Genuß darin, nicht nur jedes Wort zu wiederholen, welches Johanna selbst gesprochen hatte, sondern auch der schmachvollen Reden der beiden Geistlichen Erwähnung zu thun. Dabei fiel mir auf, daß mein Vormund nur um die Besuche Bernhard's wußte, der andere Priester ihm dagegen vollständig fremd war. Ich erklärte mir daraus, daß dieser also wirklich zum ersten Male die Schwelle der Oberförsterei betreten habe.

»Du hast Johanna gesehen,« nahm der Oberstlieutenant wieder das Wort, sobald ich geendigt, »und damit den Zweck, der Dich hierherführte, erreicht; Du kannst daher schon morgen Deine Weiterreise antreten.«

Auf diese Zumuthung antwortete ich nichts; ich hatte zu fest beschlossen, jene Gegend nicht eher zu verlassen, als bis ich betreffs Johanna's Lage einen entscheidenden Schritt gethan. Der Oberstlieutenant, mein Schweigen für Zustimmung nehmend, fuhr darauf fort:

»Wie Du Johanna gestern gesehen hast, sitzt sie, mit kurzen Unterbrechungen, bereits seit Monaten, nur daß ihre Kräfte sie mit erschreckender Schnelligkeit verlassen und sie, nach dem Ausspruch des Arztes, ihrer baldigen Auflösung entgegengeht. O mein Gott, diejenigen, welche ihr die grausamen Enthüllungen machten, haben eine schwere, eine furchtbare Verantwortlichkeit auf sich geladen! Das zarte Wesen war noch zu jung, zu schwach, um das schreckliche Geheimniß ertragen zu können, überhaupt erfahren zu dürfen. Doch wer auch immer die Schuld trägt, nicht zufrieden damit, ihr ganzes Erdendasein vergiftet zu haben, benutzte er auch noch ihre krankhafte Aufregung dazu, sie zu überzeugen, daß es ihr obliege, die Sünden ihrer Eltern abzubüßen. Den verhängnißvollen Brief hatte sie in ihrer ersten Verzweiflung vernichtet, doch ließ sich der Inhalt desselben aus ihrem späteren Benehmen leicht errathen.«

»Als sie nämlich ihre Krankheit so weit überstanden hatte, daß sie wieder aufrecht im Bette sitzen konnte, verlangte sie fortwährend nach einem katholischen Geistlichen. Meine Lisette, Du kennst sie ja, glaubte darin einen Fingerzeig Gottes zu entdecken und riech mir dringend, ihren Bitten zu willfahren. Lange weigerte ich mich hartnäckig; ich suchte Johanna durch freundliche Worte zur Vernunft zu bringen, allein vergeblich; das arme Kind flehte, daß es einen Stein hätte erbarmen mögen, ›was hilft mir meine Religion,‹ rief sie unter Thränen aus, ›die mir nur gestattet, für mein eigenes Seelenheil Sorge zu tragen? Verschafft mir einen rechtgläubigen katholischen Geistlichen, der mich lehrt, die Schuld meiner Eltern zu sühnen, oder ich sterbe in meinen Sünden, die doppelt schwer auf mir lasten, weil ich versäumte, eine mir auferlegte heilige Pflicht zu erfüllen.‹ O, mein Sohn, so manches liebe Mal habe ich dem[812] Tode in die Augen geschaut, wenn die feindlichen Feuerschlünde Verderben in unsere Reihen schleuderten, und ich habe nicht gezittert oder gezagt, höchstens den Faustriemen etwas fester um mein Handgelenk gedreht, allein die Veränderung zu beobachten, die innerhalb kurzer Zeit mit Johanna vor sich ging, das war mehr, als ein ganzes Regiment zu ertragen vermocht hätte. Und dennoch wäre ich, trotz meiner Lisette und trotz Johanna's Flehen, unerschütterlich geblieben, hätte der Arzt nicht die letzte Möglichkeit einer Rettung von der Erfüllung ihrer Wünsche abhängig geglaubt.«

»Wo Herr Bernhard, der bewußte Kaplan, so schnell herkam, nachdem ich meine Zustimmung gegeben, weiß ich mir heute noch nicht zu erklären; jedenfalls aber hielt ich ihn, nach ein oder zwei Unterredungen, für einen verständigen Menschen, der seiner schwierigen Aufgabe wohl gewachsen sei. Er besuchte von da ab Johanna fast täglich; meine Lisette war stets zugegen und enthielt von der kindlichen Frömmigkeit und christlichen Geduld, mit welcher er Johanna tröstete und ihr wenigstens nicht zurieth, schon jetzt, und zwar ohne vorher reiflich überlegt zu haben, zum Katholicismus überzutreten.«

»Wenn es mich nun auf der einen Seite erfreute, daß Johanna durch den religiösen Verkehr mit Herrn Bernhard ruhiger und ihr schrecklich aufgeregter Seelenzustand gewissermaßen geordneter wurde, so erfüllte es mich andererseits mit einem schwer zu beschreibenden Entsetzen, zu gewahren, wie sie von Stunde an dahinsiechte und ihr Geist sich fast ausschließlich mit dem vermeintlich trostlosen Zustande ihrer verstorbenen Eltern beschäftigte.«

»Betrachtete sie doch zuletzt jeden irdischen Ge danken, ja sogar die Erinnerung an Dich, ihren verlobten Bräutigam, als eine schwere Sünde, wie sie heute noch damit umgeht, mich, einen alten, bald siebenzigjährigen Kriegsknecht, der allein seligmachenden Kirche in die Arme zu führen, was, wenn es ihr gelänge, meiner guten Lisette allerdings ein ganz ungeheures Vergnügen bereiten würde. Uebrigens, Junge, muß ich Dir gestehen, so wenig ich auch sonst davon halte, die Cocarde zu wechseln, wenn ich meine arme Johanna dadurch wieder zu dem heitern Kinde machen könnte, als welches sie im vorigen Jahre in mein Haus einzog, dann soll mich der Teufel holen, wenn ich nicht zum Katholicismus oder jeder andern beliebigen Religion überträte.«

»So stehen also die Sachen; Du kannst daraus entnehmen, welch schwere Zeit ich hier verlebte. Dich noch einmal wiedergesehen zu haben, gereicht mir zum Trost und zur Beruhigung. Deinen leichtsinnigen Streich vergebe ich Dir, um des Kummers willen, welchen auch Du zu tragen bestimmt bist; ich verzeihe Dir doppelt gern, weil ich aus Deinem Munde vernommen habe, was mir auch Andere bereits versicherten, daß Du in üble Hände gerathen und gewissermaßen wider Deinen ursprünglichen Willen in den Strudel mit hineingerissen worden bist. Ich beiläge Dich innig und tief, ich beklage Dich, nächst Johanna, am meisten; aber Du bist ein Mann und wirft Dein Loos männlich zu ertragen wissen, und wohin das Geschick Dich verschlagen mag, und welche Wechselfalle des Lebens Dich treffen, erinnere Dich zuweilen Deines alten Vormundes und daß ich, wenn Dir[813] etwas daran gelegen ist, noch in meiner letzten Stunde Dir meinen Segen, über Länder und Meere fort, zusenden werde.«

»So, mein Sohn, ich bin zu Ende; was ich Dir zu sagen wünschte, das habe ich Dir mitgetheilt; nun erzähle auch Du mir offen und ehrlich Deine Erlebnisse, und dann wollen wir von einander scheiden, – aber trinke, – trinke einmal, Du siehst so bleich ans, Du dauerst mich, trinke ein halbes Gläschen, mein Kind.«

Dem alten Mann zu Liebe führte ich das Glas an die Lippen, aber zu trinken vermochte ich nicht. Ich vergegenwärtigte mir Johanna, die, mir wenig Schritte von mir entfernt, vielleicht vergeblich den Schlummer herbeisehnte.

Nachdem ich sodann einen Blick auf Anton geworfen, der sich in der Nähe des mäßig geheizten Ofens niedergekauert hatte und eingeschlafen war, begann ich meinen Bericht. Ich schilderte nicht nur meinen Aufenthalt in Frankfurt, meine Flucht und meine Reise von dorther bis zur Oberförsterei, sondern auch Alles, was nur im Entferntesten in Beziehung zu Johanna oder mir gebracht werden konnte. Ich erwähnte unseres Zusammentreffens mit Bernhard bei dem Gesundbrunnen und der daselbst gewechselten Worte; dann Bernhard's ersten Besuchs bei mir und seiner Beredsamkeit, die damals mein ganzes Innerstes in wilde enthusiastische Flammen setzte. Ebenso gedachte ich Fräulein Brüsselbach's und ihrer Warnung, die sie auf dem Berge bei Rolandseck an mich ergehen ließ, woraus ich den Schluß zog, daß kurz vor mir Bernhard mit dem vorgeblichen Onkel an derselben Stelle gewesen und vielleicht von der Irrsinnigen belauscht worden sei. Des wilden Andres feindliche Gefühle gegen mich, und die Beweise dafür beschrieb ich, wie sie es verdienten, und vor allen Dingen vergaß ich nicht, die verdächtige Freundschaft zwischen Bernhard und Anton's Bruder hervorzuheben und die Unterredung zwischen denselben, welche ich am vorhergehenden Abend theilweise erlauscht hatte, zu wiederholen. Ueberhaupt ging ich mit größter Ueberlegung zu Werke, und wo es mir irgend von Wichtigkeit erschien, berichtete ich so ausführlich wie möglich. Ich hegte dabei die Absicht, meinem Vormunde, ohne offen als Kläger gegen Bernhard aufzutreten, ein so klares Bild von dem gegen uns gesponnenen Verrath zu verschaffen, wie es mir selbst vorschwebte.

Und es gelang mir; ich durfte es wenigstens aus den grimmigen Blicken entnehmen, mit denen er bald mich, bald Anton, bald die unangerührten vollen Gläser vor uns auf dem Tisch anstarrte, und aus der rücksichtslosen Heftigkeit, mit welcher er abwechselnd seine Augenklappe verschob und seinen ehrwürdigen Schnurrbart drehte, Heine Bewegung hier mit einem tiefen schmerzlichen Seufzer, dort mit einem langen rollenden Fluch begleitend. Und als ich dann geendigt, da richtete er sein unter der buschigen Braue fast verschwindendes Auge auf mich, als ob er mich mit demselben habe durchbohren wollen.

»Junge, merkst Du, was aus der ganzen Geschichte hervorgeht?« fragte er und zugleich legte er seine zitternde Hand auf meinen Arm, »wenn Du's nicht merkst, so will ich Dir's sagen, obwohl Du,[814] als Gelehrter und obenein als Jurist, es längst errathen haben müßtest. Die Sünden der Eltern sind an meiner armen Johanna heimgesucht worden, und zwar auf Anstiften desjenigen, der einst von meinem seligen Bruder die wohlverdiente körperliche Züchtigung erhielt. Ja, mein Sohn, der Gefährte Bernhard's ist Niemand anders, als jener verfluchte Pfaffe, der einst das Familienglück meines Bruders grausam zerstörte, um, wie sich die Leute ausdrücken, die Seele des Kindes dem Teufel zu entreißen! Nur er, der jene unglücklichen Verhältnisse, nächst mir, am genausten kannte, war im Stande, vor Johanna die traurige Vergangenheit zu enthüllen oder durch den Herrn Bernhard enthüllen zu lassen und ihr Gemüth durch die frevelhafte Vorspiegelung: daß nur die katholische Religion ihr Gelegenheit biete, ihre Eltern aus dem Fegefeuer zu retten, unheilbar zu zerrütten! Hahaha! ein schöner Sendbote Gottes! Wie er und seine Helfershelfer den Charakter des armen Kindes studirt haben müssen, um einen so sichern und unfehlbaren Streich nach demselben zu führen! Und wie schlau haben sie es verstanden, Dich aus dem Wege zu räumen! Ha, sie fürchteten sich vor Dir, vor mir nicht, denn sie wußten, daß ich meiner guten Lisette gern zu Gefallen lebe und lieber ein Auge zudrücke, als mich in religiöse Scharmützel einlasse. Hahaha! sehr schlau, sehr überlegt haben sie es angefangen, und das Ziel, welches sie im Auge hatten, es ist erreicht, glanzvoll erreicht! Und doch, was ist es im Grunde, was sie zu so beträchtlichen Opfern an Zeit und Geld veranlaßte? Was ist es, Junge, frage ich Dich?« rief der Oberstlieutenant auf dem Gipfel seiner Wuth aus, indem er mich heftig schüttelte; »der Wunsch, sich an den Verstorbenen in ihren Nachkommen zu rächen, ist es nicht allein,« beantwortete er schnell seine eigene Frage, »nein, nicht allein die Rache, sondern ihr fluchwürdiger fanatischer Eifer, durch solche schlagende Beispiele aus das verdummte Volk einzuwirken! Hahaha! ich höre sie schon, wie sie hingehen und mit triumphirender Miene verkünden, daß es ihnen, mit Hülfe eines ganzen Armeekorps von Heiligen und nach schweren Kämpfen mit dem Satan, endlich gelungen ist, diesem ein Opfer, welches er schon sicher in seinen mörderischen Krallen zu halten meinte, zu entwinden! Als ob Johanna, das unschuldige, sanfte Wesen überhaupt schon eine Sünde begangen hätte! Aber achte nur darauf, sie werden dem Volke beweisen, daß die Krankheit meiner Nichte ein Werk des Teufels gewesen, weil ihre Eltern sie nicht haben katholisch taufen lassen! O, Fluch, tausendfacher Fluch über diejenigen schwarzröckigen Schurken, gleichviel, welcher Confession sie angehören, die sich mit scheinheiliger Miene in das engere Familienleben einschleichen, um das irdische Glück in demselben zu tödten, und die sich anmaßen, nach Willkür über das Wohl und Wehe, den Glauben und die ganze Zukunft der einzelnen Mitglieder ihre Bestimmungen treffen zu dürfen!«

Bei diesen Worten sprang der erbitterte alte Krieger so geräuschvoll empor, daß Anton erwachte, worauf er mit langen festen Schritten in der Stube auf und abzugehen begann.

So hatte ich ihn noch nie gesehen; sein Auge[815] glühte unheimlich, seine Brust hob und senkte sich unter den übereinandergeschlagenen Armen, als ob er von Krämpfen befallen sei, während sein sonst farbloses Gesicht sich hoch röthete.

Nachdem er das Gemach einige Male durchmessen, blieb er plötzlich vor mir stehen. »Den Andres schieße ich todt, so wie er sich in dem Forst betreffen läßt,« sagte er mit einer Ruhe, welche nichts Gutes zu verkünden schien, und dann setzte er seinen Gang wieder fort, ohne zu beachten, daß Anton, von Todesangst ergriffen, zuerst ihm und dann mir einen flehenden Blick zusandte.

»Und die Pfaffen Hetze ich bei ihrem nächsten Besuch mit den Hunden vom Hofe,« fuhr er fort, abermals vor mir stehen bleibend.

»Aber Johanna, die sich so sehr an Bernhard's Besuche gewöhnt hat, würde sein plötzliches Fortbleiben keine nachtheiligen Folgen für sie haben können?« fragte ich besorgt.

»Das ist Alles wahr genug,« entgegnete der Oberstlieutenant, »aber wie soll ich es machen, um das Gesindel los zu werden?«

»Wenn man Johanna vielleicht Ersatz böte?«

»Ersatz ist leicht gesagt, mein Sohn, aber wo gäbe es Ersatz für sie, die von irdischen Dingen nichts mehr hören oder sehen will?«

»Man hat doch vielfach erlebt, daß ein Gemüth, welches durch eine heftige Aufregung gebrochen und verwirrt wurde, durch eine ähnliche, aber aus entgegengesetzten Ursachen entspringende Bewegung Heilung fand; was meinen Sie, wenn ich urplötzlich vor Johanna hinträte? Vergessen hat sie mich nicht, dafür sind mir gestern Abend die schlagendsten Beweise geworden, und es ist fast mit Sicherheit vorauszusehen, daß mein Erscheinen nicht ohne entscheidenden Einfluß auf ihren Geist bleiben wird.«

»Zu spät, mein Sohn, zu spät,« antwortete mein Vormund schmerzlich bewegt, denn es war ihm nicht entgangen, daß, während ich ruhig sprach, der namenloseste Schmerz meine Brust zerriß; »sei auf das Schlimmste gefaßt, mein Kind, Johanna's Leben zählt nur noch nach Tagen, obwohl ich zugebe, daß Dein plötzliches Erscheinen ihren Geist möglicher Weise beruhigen kann. Und dann denke auch an Dich; Feinde von Dir lauern ringsum, jede weitere Stunde Deines Verweilens in dieser Gegend, vergrößert die Gefahr, welche Dir droht.«

»Erreichte ich auch weiter nichts, als daß Johanna ihre letzten Lebenstage in stillem Frieden verbrächte und nicht mehr heimgesucht von den sie marternden Priestern – weiter nichts, als daß sich noch einmal ihr liebevolles Lächeln, zum Andenken für's ganze Leben, in meine Seele eingrübe, ich wollte diesen Erfolg ja so gern, so unbeschreiblich gern mit meiner Freiheit bezahlen. Was bleibt mir noch, wenn Johanna von uns scheidet? was bleibt mir, das meinem Leben auch nur noch den geringsten Reiz zu verleihen vermöchte?«

Wiederum durchmaß mein Vormund das Gemach mit festen Schritten, worauf er sich nach einer Weile mir wieder zuwendete.

»Gustav, Du kannst recht haben,« hob er an, »für Dich, für mich, für uns Alle wäre es eine Wohlthat, für Johanna selbst aber am meisten, erfreute[816] sie sich vor ihrem Eure noch einiger lichten Tage. Sie soll Dich sehen, aber ich muß mir die Sache überlegen; es muß so geschehen, daß nicht, während Du Dich bei dem armen Kinde befindest, die Pfaffen hingegen und Dich verrathen. Laß mich daher allein; kehre in Dein Versteck zurück, wo Du am sichersten aufgehoben bist, und sende jeden Abend, sobald es dunkel geworden, den Anton zum Rapport. Nimm Dir auch noch diese Decken mit, denn die Nächte sind kalt, und dann dies Körbchen mit Wein und Speisen, ich habe Alles eigenhändig ans Speisekammer und Küche stehlen missen, um nicht mit Fragen belästigt zu werden. Nun gehe mein Kind, hoffe das Beste und sei vorsichtig. Deine Gefangennahme wäre ein Nagel mehr zu meinem Sarge, also auf Wiedersehen.«

So sprechend, begleitete er mich bis an die Hausthür; zu antworten vermochte ich nicht, nur die Hand drückte ich meinem alten theuern Wohlthäter, er aber wußte, was ich damit sagen wollte.

Wir waren schon längst vom Hofe herunter und dicht vor der ersten Biegung der Landstraße angekommen, da erkannte ich, rückwärts schauend, in der geöffneten Thür vor dem schwachen Lichtschimmer, der aus der Stube auf die Hausflur fiel, noch immer die hohe regungslose Gestalt meines Vormundes.

Quelle:
Balduin Möllhausen: Die Mandanenwaise. In: Deutsche Roman-Zeitung, 2. Jg., Band 2, Berlin 1865, S. 806-817.
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Die Mandanen-Waise. Erzählung aus den Rheinlanden und dem Stromgebiet des Missouri. Roman
Die Mandanenwaise
Die Mandanenwaise. Erzählung aus den Rheinlanden und dem Stromgebiet des Missouri von Balduin Möllhausen

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Stifter, Adalbert

Bunte Steine. Ein Festgeschenk 1852

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Noch in der Berufungsphase zum Schulrat veröffentlicht Stifter 1853 seine Sammlung von sechs Erzählungen »Bunte Steine«. In der berühmten Vorrede bekennt er, Dichtung sei für ihn nach der Religion das Höchste auf Erden. Das sanfte Gesetz des natürlichen Lebens schwebt über der idyllischen Welt seiner Erzählungen, in denen überraschende Gefahren und ausweglose Situationen lauern, denen nur durch das sittlich Notwendige zu entkommen ist.

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Große Erzählungen der Spätromantik

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