An Karl Mayer

[757] Dem gefangenen, betrübten Manne

Hinter seinen dichten Eisenstäben,

Wenn ihm jemand deine holden Lieder

Aufs Gesimse seines Fensters legte,

Wo die liebe Sonne sich ein Stündlein

Täglich einstellt, handbreit nur ein Streifchen:

O wie schimmerten ihm Wald und Auen

Sommerlich, die stillen Wiesengründe!

O wie hastig irrten seine Schritte

Durch die tausend Lieblichkeiten alle,

Ohne Wahl, was er zuerst begrüße:[757]

Ob das Dörflein in der Sonntagfrühe,

Wo die frische Dirne sich im Gärtchen

Einen Busenstrauß zur Kirche holet;

Ob die Trümmer, wo das Laub der Birke

Herbstlich rieselt aufs Gestein hernieder,

Drüberhin der Weih im Fluge schreiend;

Und den See dort einsam in der Wildnis,

Übergrünt von lichten Wasserlinsen.


Wär ich, wär ich selber der Gefangne!

Sperrten sie mich ein auf sieben Monde!

Herzlich wollt ich dann des Schließers lachen,

Wenn er dreifach meine Tür verschlösse,

Mich allein mit meinem Büchlein lassend.


Aber wenn doch endlich insgeheime

Eine tiefe Sehnsucht mich beschliche,

Daß ich trauerte um Wald und Wiesen?

Ha! wie sehn ich mich, mich so zu sehnen!

Reizend wär's, den Jäger zu beneiden,

Der in Freiheit atmet Waldesatem,

Und den Hirten, wenn er nach Mittage

Ruhig am besonnten Hügel lehnet!


Sieh, so seltsam sind des Herzens Wünsche,

Das sich müßig fühlt im Überflusse.


Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 757-758.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1867)
Gedichte
Der Nacht ins Ohr. Gedichte von Eduard Mörike.Vertonungen von Hugo Wolf. Ein Lesebuch von Dietrich Fischer-Dieskau
Sämtliche Gedichte in einem Band
Die schönsten Gedichte (insel taschenbuch)
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)