An die Geliebte

[771] Wenn ich, von deinem Anschaun tief gestillt,

Mich stumm an deinem heilgen Wert vergnüge,

Dann hör ich recht die leisen Atemzüge

Des Engels, welcher sich in dir verhüllt.


Und ein erstaunt, ein fragend Lächeln quillt

Auf meinem Mund, ob mich kein Traum betrüge,

Daß nun in dir, zu ewiger Genüge,

Mein kühnster Wunsch, mein einzger, sich erfüllt?


Von Tiefe dann zu Tiefen stürzt mein Sinn,

Ich höre aus der Gottheit nächtger Ferne

Die Quellen des Geschicks melodisch rauschen.


Betäubt kehr ich den Blick nach oben hin,

Zum Himmel auf – da lächeln alle Sterne;

Ich kniee, ihrem Lichtgesang zu lauschen.


Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 771.
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