Der Schatten

[714] Von Dienern wimmelt's früh vor Tag,

Von Lichtern, in des Grafen Schloß.

Die Reiter warten sein am Tor,

Es wiehert morgendlich sein Roß.


Doch er bei seiner Frauen steht

Alleine noch im hohen Saal:

Mit Augen gramvoll prüft er sie,

Er spricht sie an zum letztenmal.


»Wirst du, derweil ich ferne bin

Bei des Erlösers Grab, o Weib,

In Züchten leben und getreu

Mir sparen deinen jungen Leib?


Wirst du verschließen Tür und Tor

Dem Manne, der uns lang entzweit,

Wirst meines Hauses Ehre sein,

Wie du nicht warest jederzeit?«


Sie nickt; da spricht er: »Schwöre denn!«

Und zögernd hebt sie auf die Hand.

Da sieht er bei der Lampe Schein

Des Weibes Schatten an der Wand.


Ein Schauer ihn befällt – er sinnt,

Er seufzt und wendet sich zumal.

Er winkt ihr einen Scheidegruß,

Und lässet sie allein im Saal.


Elf Tage war er auf der Fahrt,

Ritt krank ins welsche Land hinein:

Frau Hilde gab den Tod ihm mit

In einem giftigen Becher Wein.


Es liegt eine Herberg an der Straß,

Im wilden Tal, heißt Mutintal,

Da fiel er hin in Todesnot,

Und seine Seele Gott befahl.
[714]

Dieselbe Nacht Frau Hilde lauscht,

Frau Hilde luget vom Altan:

Nach ihrem Buhlen schaut sie aus,

Das Pförtlein war ihm aufgetan.


Es tut einen Schlag am vordern Tor,

Und aber einen Schlag, daß es dröhnt und hallt;

Im Burghof mitten steht der Graf –

Vom Turm der Wächter kennt ihn bald.


Und Vogt und Zofen auf dem Gang

Den toten Herrn mit Grausen sehn,

Sehn ihn die Stiegen stracks herauf

Nach seiner Frauen Kammer gehn.


Man hört sie schreien und stürzen hin,

Und eine jähe Stille war.

Das Gesinde, das flieht, auf die Zinnen es flieht:

Da scheinen am Himmel die Sterne so klar.


Und als vergangen war die Nacht,

Und stand am Wald das Morgenrot,

Sie fanden das Weib in dem Gemach

Am Bettfuß unten liegen tot.


Und als sie treten in den Saal,

O Wunder! steht an weißer Wand

Frau Hildes Schatten, hebet steif

Drei Finger an der rechten Hand.


Und da man ihren Leib begrub,

Der Schatten blieb am selben Ort,

Und blieb, bis daß die Burg zerfiel;

Wohl stünd er sonst noch heute dort.


Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 714-715.
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