Heidelberger Strophen

1.

[214] Die Nacht ist klar und heiter,

Der Himmel sternenhell,

Kein Lüftchen schlägt an Kräuter,

Nur rauscht des Neckars Well'.


Zum heil'gen Berge steiget

Der Mond herab mit Lust,

So rund und weiß, er gleichet

Des schönsten Fräuleins Brust.


Da klingt an ihren Köcher

Die schwere Mitternacht,

Das Licht stirbt der Gemächer

Und auf der Burg der Wacht.


Da taumelt neu geboren

Die Dämm'rung aus dem Hain –

Was schlägt zu meinen Ohren?

Was weinet hier allein?


O Mädchen hier am Steine,

Was weinst Du? Sag' es mir!

Starb Deine Mutter? Deine

Vertraute, starb sie Dir?


»Die Mutter nicht, auch keine

Gespielin schied in's Grab.

Von mir schied nur der Eine,

Den ich geliebet hab'.«


2.

Oed' liegt die weite Schöpfung

Vor ihr. Der Seele Weh

Beklemmt die Brust – sie stöhnet.

So stöhnt das zarte Reh,


Das von dem hohen Ufer,

Woran es sicher sprang,

Hinunter stürzt in Fluten.

Des Stromes rascher Gang


Reißt's fort! die Hügel fliehen,

Wo es sonst weidend ging,

Der Busch, in dem es zärtlich

An Mutterbrüsten hing.


Verloren, hülflos schwebt es

Vor Schrecken stumm und taub

Im nassen Grab. – So wird sie

Jetzt der Verzweiflung Raub.


3.

Faßt auf das letzte Tränlein,

Das ihr im Auge blinkt,

Und tragt's zum Stern der Liebe,

Der tief in Trauer sinkt!


Ach, tausend Herzen fühlten

Des Schicksals herben Streich,

Verletzter Schwüre Opfer

Vielleicht Dir Holden gleich.


Doch keine naht an Reinheit,

An Zärtlichkeit und Huld

Dir Muster hoher Treue

In Sanftmut und Geduld.


Nie soll Dein Ruhm veralten!

Mit jedem neuen Lauf

Der Jahre blühe künftig

Dein Name schöner auf.


Bei Deiner Klage schlage

Das Herz der zarten Braut,

Des Mädchens banger Busen

In heißer Wehmut taut.


Dir winde Kränze künftig

Des besten Jünglings Hand,

Der Gatte mit der Gattin,

Geknüpft an's holde Band


Der Treue, streue Blumen

Der sanften Trauer Dir!

O gerne weilt' ich immer

Mit reichen Klagen hier


In süßem Wehmutswechsel

Mit Dir, geliebtes Bild!

Des Mitleids holde Seele,

Die meine Töne mild


Mit leisem Ach begleitet –

O, teurer mir als Gold!

Die Rührung schöner Seelen

Ist edler Sänger Sold.

Quelle:
Friedrich Müller (Maler Müller): Werke. Band 1, Mannheim und Neustadt/Hdt. 1918, S. 214-215.
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