[14] An Henriette.
Den 6. Julius, 1799.
Zur schönern Vorzeit flieht aus düstrer Hülle
Der Gegenwart mein sehnsuchtsvoller Blick,
Und goldnes Licht und heitre Lebensfülle,
Bringt schnell ihr Bild dem Trauernden zurück!
Im Rosendufte schwebt Erinnrung nieder,
Vom Immergrün des Mitgefühls geschmückt,
Und mild belebt ihr Hauch die Blüthen wieder,
Die Psyche der Vergangenheit entpflückt.
Die tief verhüllte Gegenwart verschwindet
Vor jenem Glanz – hin zu der süßen Flur
Des Vaterlandes schwebt der Blick und findet
Der Jugend Freuden unverwischte Spur.
Dort wandeln sie – die heiligen Gestalten
Die Hochgefühl der Liebe mir verband,
Die treu und schützend über mir zu walten,
Aus Tausenden des Herzens Stimme fand!
Ihr schönen Ideale jener Stunden,
Wo mich der Freundschaft holder Kreis umwand,
Ihr bleibt dem Trauernden stets neu verbunden,
Denn selbst sein Schmerz bürgt ihm, daß er euch fand!
[14]
Und in der Trennung tief verhüllten Tagen,
Aus jenem sel'gen Kreise weit verbannt,
Wird tröstend mir noch die Erinnrung sagen:
»Du hast das Höchste, Göttlichste gekannt!«
Umsonst mag dann die düstre Lethe winken,
Die welken Kränze ihrer Fluth zu weih'n;
Das Herz verschmäht Vergessenheit zu trinken,
Was durch Erinnrung lebt, bleibt ewig Mein!
Wenn jeder Lebensfreude Strahl verglühet,
Kein Hoffnungsstern die Zukunft uns erhellt,
Dann winkt Erinnerung, und schnell entblühet
In ihrem Schein uns eine schön're Welt.
(So fühlt das Herz, wenn Licht und Sterne fliehen,
Und dunkle Nacht auf Flur und Hainen liegt,
Bey Philomelens Zaubermelodien,
Sich in Elysiums Träume eingewiegt!)
Und wär' nicht ohne sie das Glück verloren,
Mit Jubelton, den nur Empfindung leiht,
Den Tag zu grüßen, der einst dich geboren,
Dich heut' auf's neu' dem süßen Daseyn weiht?
Sey glücklich! rief dir einst mit heitern Herzen
Der Knabe zu, vom Hoffnungstraum erfüllt,
Als einst ein Maskenspiel dir unter Scherzen,
Der Freunde Wunsch zum Wiegenfest enthüllt.
Ach! Jahre sind seit jenem Tag verschwunden,
Im raschen Flug, wie Rosen schnell verglühn. –
Die Kränze nur, die dir dein Werth gewunden,
Seh' ich stets frisch im Kreis der Deinen blühn!
[15]
Sey glücklich, Edle! ruft der Jüngling heute
Gerührt dir zu vom fernen Leine-Strand,
Sey glücklich, und die Himmelstochter Freude,
Schaff' rings um dich ein goldnes Feenland!
Und wenn dir – hochentzückt in deiner Nähe
– Der Deinen Kreis heut' frische Kränze schlingt,
Und hoher Jubel dich umtönt – verschmähe
Dieß Blümchen nicht, das die Erinnrung bringt!
Buchempfehlung
Robert ist krank und hält seinen gesunden Bruder für wahnsinnig. Die tragische Geschichte um Geisteskrankheit und Tod entstand 1917 unter dem Titel »Wahn« und trägt autobiografische Züge, die das schwierige Verhältnis Schnitzlers zu seinem Bruder Julius reflektieren. »Einer von uns beiden mußte ins Dunkel.«
74 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro