XXIX

[243] Van den Dusen trug seit neuestem schwarze Augengläser, große Reliefe an Gummizügen. Es flimmerte ihm vor den Augen. Er sah fette rote Wolken aufsteigen und getragen dahingleiten. Er hatte entschieden zuviel in das gleißende Trugbild der Wasser gesehen, als wir damals mit Slim oberhalb des Wasserfalles mit den Reusen ausgezogen waren.

Auch ich hatte seit damals einen Klaps weg. Die Hitze war groß und unsere Organe erlitten Störungen. Ich fühlte einen seltsamen Ton im Ohre sitzen, einen unaussprechlichen Klang, der mich quälte. Wenn ich in mich versunken eine mechanische Arbeit verrichtete, ertappte ich mich plötzlich auf der Anstrengung, ihm eine Form zu geben. Es mißlang. Ich träumte ihn. Er schien von allem auszugehen. Mir graute; alles schien ihn nachzuahmen. Die[243] Enge, Einsamkeit und Hitze dieses Daseins brütete die geringste irrationale Empfindung zu einem Monstrum von Erscheinung aus.

Es war, muß ich sagen, ein niederträchtiger Ton. Er hatte etwas von dem Singsang einer lax gewordenen Saite. Auf irgendeinem Umwege des Gefühls brachte ich ihn übrigens mehr oder weniger willkürlich mit van den Dusen in Zusammenhang. Unser gegenseitiges Verhältnis verschärfte sich wieder. Wir waren eben beide von erheblicher Nervosität; wir verloren den Kopf, denn Slim fehlte an allen Ecken und Enden, und der Bau eines neuen Bootes ging nur langsam vonstatten. Es irritierte mich, daß van den Dusen eine pechschwarze Brille trug. Er hatte schlechte Augen! Gut. Das war eins. Es gab aber noch ein zweites. Dieses zweite war, daß er die Gläser nur aufnahm, um mich dahinter zu belauern. Er war kindisch geworden, der Alte, in diesem Mangel an Abwechselung. Ich wußte, daß seine Augen sich schämten; wie durch Schießscharten suchten sie mich aus ihrem schwarzen Schatten hervor, auch wenn er mit seinen Ovalen in eine andere Richtung blickte. Er spielte Verstecken wie ein kleiner Junge, er bildete sich gleichsam etwas auf ein Sondergeheimnis ein, dessen geheimnisvoller Ausdruck die halb verhüllenden, halb verräterischen schwarzen Gläser waren. Er machte fühlbar, daß er unsichtbare Augen besäße. Ich war im Rechte, es ihm zu verübeln. Er aber war bereits so verwildert, daß ihm diese Koketterie ein außerordentliches Vergnügen bereitete. Er trug das Ding wie ein Eingeborener, der sich damit noch begraben lassen würde. Darum standen wir auf unfreundlichem Fuße und unsere Gespräche waren voll von Launen.

Am wenigsten verstand er, daß ich an jenem Tage, als Slim ins Wasser fiel und ertrank, so schwächlich geblieben war. Ich hatte aber auch rein gar nichts gerudert! – Ich fühlte, wie er mich wieder von der Seite her ansah, während die dunklen Linsen an mir vorbeizublicken schienen. Das Blut stieg mir in den Kopf. Wir waren zu weit herabgerudert, die Strömung hatte uns fortgetrieben und wir hatten uns zu wenig gewehrt – van den Dusen sagte nur, daß ich zu wenig gerudert hätte. Er sagte sonst wirklich nichts. Und es legte sich mir aufs Herz, daß er vielleicht recht hätte. Der Zusammenhang wurde drohend und deutlich klar. Ich stand auf, um mich nicht zu vergreifen.

Wie ist eigentlich alles gekommen? Wissen Sie's? Nein. Und Sie? Ich auch nicht. Er verstand es nicht, wie Slim ertrinken konnte. Daß das Boot umkippte, gut, das war also auf unsere[244] Nachlässigkeit zurückzuführen. Aber Slim, war Slim nicht ein vorzüglicher Schwimmer? Er faßte nichts, rein gar nichts, er zuckte mit den Achseln und gestand, daß ihn sein gewohnter Scharfsinn hier verlasse. Nun war die Reihe an mir. Aufs Geratewohl setzte ich ihm zu; ich quälte ihn, bis sein Gesicht zuckte und der arme Mensch aufstand und mich allein ließ. Er war rückwärts gesessen – ja; aber er hatte genug mit sich selber zu tun gehabt, als er kopfüber ins Wasser sprang und mit ein paar kräftigen Stößen aus der Strömung herausschwamm. Er konnte es ja nicht ahnen, daß Slim Hilfe brauchte; Slim, dieser Mordskerl; und Slim hatte auch kein Wort mehr gesagt, kein Sterbenswörtchen mehr, man bekam weiter gar nicht Notiz von ihm, bis er da vorne an den Zinken hing. Wenn man wenigstens von der Leiche etwas zu sehen bekommen hätte! Das Boot war zersplittert unten angelangt und wurde Strecken abwärts ans Land gespült. Die Leiche aber blieb im Wasserwirbel zurück. Dort hielt sie vermutlich der Fall unter einem steifen Drucke fest, trat sie immer wieder zurück, wenn sie Auftrieb bekam, und spielte, ein formloser Sack Knochen, wie sie sein mochte, Fangball mit ihr bis in alle Ewigkeit.

Van den Dusen legte Wert auf die naturalistische Beschreibung ihres Zustandes. Man erkannte, daß er ein gutes und gesundes Gewissen besitzen mußte. Er ging höflich und voll Zartheit von mir hinweg. Aber ich sah wohl, daß er mich belauerte. Durch hundert Kleinigkeiten wurde er zum Verräter an sich; und anderseits ließ sein Benehmen keine Zweifel darüber, daß er mich durchschaue. Und dann gab es diese Überraschungen, wenn wir einander auf dieselben Gedanken kamen.

»Ich gehe heute jagen«, sagte ich. »Kommen Sie mit?« »Nun ja, warum nicht?« gab er zur Antwort, aber sie kam unbehaglich aus ihm heraus. Ich nahm Büchse und Kartusche um. »Na, wissen Sie, John, ich habe eigentlich heute keine Lust dazu. Bleiben Sie lange aus? Bis Abend, so? Also, ich bleibe lieber doch hier!« Ich schulterte und drang an irgendeiner Stelle in den Djungle ein.

Aber ich jagte nicht. Ich kauerte mich in das Gebüsch und spähte sorgsam auf den Lagerplatz hinaus. Dort kam nach einer Weile van den Dusen zum Vorschein. Man konnte bemerken, daß er sich über die Bagage beugte und mit den Händen tastete. Ich saß auf altbewährtem Posten, schien es mir. Wo und wann war ich genau an dieser Stelle hier im Gebüsch gesessen und hatte die Flußbank ausspioniert? Meine Augen blinzelten, und dieses Blinzeln[245] machte mich aufmerksam. Richtig; damals mußte ich etwas vor den Augen gehabt haben. Den Zwicker? Vielleicht; oder ein Fernglas? Oder –? Halt, ein Binokel! Die Erinnerung konzentrierte sich auf die Augen, die Nerven dort herum stellten sich auf einen alten Reiz ein; ich spürte zwei Rundungen vor den Augenhöhlen, plötzlich wuchs daraus das Bild eines Binokels hervor. Ach, damals war es Slim gewesen! Wie sich alles im Leben wiederholt, wie du doch immer wieder in die gleiche Situation gerätst! Da saß ich und führte denselben moralischen Kampf mit mir wie damals Slim. Denn schon seit einiger Zeit, da ich hier sitze, greift die Unruhe nach mir, und nun habe ich mich gegen irgend etwas zu verteidigen. In diesem Augenblicke richtet sich van den Dusen drüben in die Höhe. Slims Gewehr ist nicht zu finden. Unbegreiflich, wohin es verschwunden ist? Hähä! Merkwürdig! Am Ende hat es einer von den Indianern genommen, hä, und darum muß man diese Burschen näher in Augenschein nehmen, ob nicht einem von ihnen etwa das Gewehr aus der Tasche hervorstünde? He? Van den Dusen richtete seine beiden schwarzen Ovale deutlich wie Kanonenrohre auf die Indianer, die ihr Mittagsschläfchen hielten. Und doch hätte ich gewettet, daß er in diesem Moment einen Blick zu mir herüberschnellte, einen knappen dichten Blick, den ich ahnen sollte, um ihn nachdrücklicher wahrzunehmen. Er war überaus berechnend. Um mich zu betrügen, überließ er es mir, ihn zu erraten. Als er die Büchse nicht fand, schritt er rechter Hand den Fluß hinauf, gegen die Wasserfälle zu. Er schob den Revolver vor den Bauch, rückte den Gürtel praktisch zurecht. Jeder, der nun zum Beispiel schurkisch genug war, ihn im Gebüsch zu beaufsichtigen, war gewarnt.

Und nun wollen wir einmal rechnen. Aufgepaßt, ihr, die ihr in Gebüschen sitzt und eure Mitmenschen belauert. Jetzt werdet ihr erleben, wie van den Dusen mit einem Revolver oben beim Wasserfall Jagd machen geht. Der Hauptspaß kommt aber erst. Ihr hinter dem Gebüsche, ihr schmutzigen Buschleute, habt jetzt in eurer Blamage nichts Eiligeres zu tun, als schleunigst von eurem schandbaren Posten zu verschwinden! Wartet! Tausend gegen eins, daß ihr jetzt Hals über Kopf zu den Wasserfällen hinausgaloppiert. Aber dort werdet ihr van den Dusen nicht vorfinden. Van den Dusen kennt eure Räsonnements, er riecht eure Indianerschliche; und kommt er jetzt wieder am Lager vorbei, so seid ihr schon längst auf und davon und treibt euch nutzlos am oberen Flußlauf herum.

Hm. Da wäre also wieder das Lager und unser Mann. Er[246] sieht strapaziert aus, er hat Gedanken. Verdammt, denkt er; sitzt hier nun einer im Busch oder nicht? Vielleicht habt ihr Buschleute doch zu wenig Gewissen gehabt, um euch aus eurer schmachvollen Position wegzurühren, da ihr nun einmal durchschaut seid. Dann sitzt so ein Lauerfritze jetzt da im Busch und schießt dem armen, gehetzten Charlie, weil er ein bißchen superklug im Rechnen ist, ein Loch in die Kleider. Vielleicht aber hattet ihr im Gegenteil soviel Gewissen, daß ihr nicht einmal die bösen Gedanken des anderen rechtfertigen wolltet und euch gar nicht im oberen Teil des Djungles herumtreibt, sondern nach dem unteren ausgerissen seid, gleichsam vor euch selbst und vor der Versuchung. Je nun, Gewissen habt ihr keines; damit kann man rechnen; wohl aber Schlauheit statt des, eine Schlauheit, die euch berechnet, daß der andere euch trotz eurer Schlauheit, gleichsam als aus Feinheit derselben, im Verdacht von Gewissen hat. Unter solchen Umständen wäret ihr schon Meilen weit über die Berge flußab, und die Luft hier herum wäre rein. Vorausgesetzt, euer Gewissen ist nicht derart verfeinert, daß ihr einen möglichen irrtümlichen Zusammenstoß vermeiden wollt, der aus einem Schritt mehr oder weniger im Denkprozeß des Gegners folgen kann. Das aber muß vermieden werden. Ihr könnt nicht ein Gewehr gegen eine Pistole konkurrieren lassen. Das Ganze ist eine Wahrscheinlichkeitsrechnung, he? Daß sich die Berechnungen zweier Menschen über ihre gegenseitigen Unternehmungen decken, ist einmal wahrscheinlich; daß der eine dem anderen aber um einen Punkt voraus oder zurück ist, ist beide Male wahrscheinlich. Die Chancen liegen also hier. Jemand, der sich zum Buschklepper talentiert weiß, flüchtet sich aus Gewissensfeinheit weitab vom Ort der Verführung. Er streicht freiwillig die letzte Möglichkeit, da er nicht erwartet, daß es der andere tut. Bei dieser Logik siegt der, der dem anderen den Vorsprung läßt; denn er hat ihn berechnet. Angenommen, ihr sitzt hier hinter dem Busch, so sitzet ihr gewiß nicht dahinter, denn ihr könnt es euch an den Fingern abzählen, daß man von euch erwartet, ihr sitzet dahinter. Da ihr aber gewiß nicht dahinter sitzet, muß man, um euch nicht zu treffen, sich dorthin begeben, wo ihr nach aller Wahrscheinlichkeit hingelaufen seid. Also los, Aufbruch flußab, um den armen Sünder nicht in Versuchung zu bringen, der hier, um den Gesetzen seines Triebes und vielleicht seines Fatums zu trotzen, hinter dem Busch sitzt. Man muß Rücksicht nehmen auf solche Veranlagung und ein bißchen entgegenkommend sein. Vorwärts marsch!

Da hatten wir das Malheur. Van den Dusen ging ein Stück[247] Weges flußab, kehrte sich plötzlich um und schwankte auf das Gebüsch zu. Was war geschehen? Hatte er eine Masche in seinen Berechnungen ausgelassen oder zuviel aufgenommen? Wie ein ertappter Dieb flog er ins Gebüsch herein, arbeitete rasend mit Händen und Füßen und sah sich mißtrauisch nach rückwärts hin um. In der nächsten Sekunde stand er vor mir. Verdammt. Was war da zu machen?

»Ach, guten Morgen«, sagte ich. Es war drei Uhr nachmittags. Sein Gesicht war aschfahl. Er zitterte und bekämpfte eine Schwäche in den Knien. »Ja«, sagte ich, »ich bin es wirklich. Sie sehen mich hier auf der Lauer nach unseren roten Spitzbuben. Ich möchte wissen, was das Gesindel treibt, wenn es unter sich ist. Unser Gepäck nimmt reißend ab. Außerdem, haben Sie es schon bemerkt, stecken Checho und Zana stets zusammen.«

Van den Dusen betrachtete mich mit Kennermiene, er schob seine Ovale wie auf Fühlhörnern vorwärts. »Ach so?« sagte er. »Da fällt mir ein, Slims Büchse ist verschwunden. Die hat gewiß das Pack geklaut.«

»Slims Büchse, wieso – ach ja, richtig, das ist mir auch schon aufgefallen. Das ist aber wirklich – es ist jammerschade, es war solch ein gutes Stück!«

»Ja, nicht wahr. Sie war ja ein unheimliches Prachtstück. Aber sie ging so leicht los. – Es war etwas nicht ganz in Ordnung damit. – Es war, glaube ich, gefährlich, damit zu hantieren – – – Slim selbst war ja vorsichtig. Aber wenn nun jemand dabei in der Nähe ist – stellen Sie sich vor, daß die Geschichte mir einmal aus der Hand gelaufen wäre, während wir zusammen jagten – ja, nicht wahr, denn schließlich wäre sie ja doch an mich gefallen!« Wir lachten beide laut und angeregt über seine verwegenen Spintistereien und schüttelten uns die Hände. Es wurde beschlossen, daß wir aufwärts zum Wasserfall hinaufgingen. Eine kleine Flußpromenade, ein Stückchen Naturschönheit, nicht wahr, haha. So lenkten wir denn unsere Schritte im Flußbett aufwärts.

Van den Dusen sah sich öfter um. Gegen das Ende des Weges zu wurden seine Schritte immer langsamer. Eigentlich war es hier ein bißchen fade! Er ging nicht gern herauf seit Slim tot war! Was war das für ein merkwürdiges Gebüsch? Er blickte alles aufgeweckt an, suchte nach Einfällen zu einem Gespräch und übertrieb. Das Leiden hatte ihn übermäßig geschärft; seine Phantasie war von Gewissensbissen gedrängt und konstruierte intellektuelle Ereignisse, unechte[248] Tatsachen, die sein Schuldgefühl weckten. War nun der Djungle wirklich so rot? Er beklagte sich, daß er unausgesetzt Prozessionen von roten Ringen und Ballen vor Augen sehe. Das käme vom Magen. »Merkwürdig ist das mit Slim doch zugegangen«, sagte er mittendrin. »Denken Sie, ich bin beinahe überzeugt, daß die Leiche trotzdem irgendwo ans Land gespült ist. Sie kann doch nicht immer im Wirbel geblieben sein, sie muß einmal einen faulen Augenblick benutzt haben, um aufzutreiben. Vermutlich ist der ganze Körper zertrümmert, der Kopf ist wahrscheinlich stark von Brüchen und Schürfungen entstellt. Ich sehe das vor mir – Sie nicht auch? Geht es Ihnen nicht auch so? Es kommt mir öfters in die Vorstellung. Wissen Sie, was ich mir in der letzten Zeit schon oft gedacht habe? Ich nehme an mir so etwas wie eine hellseherische oder telepathische Kraft wahr. Ich habe gehört, daß es das gibt. Manche Menschen sehen entfernte Personen vor sich; sie wittern sie von einer bestimmten Stelle im Raume ...«

»Das ist die Wirkung der Sonne. Es dürfte nur auf die verschärfte Innerlichkeit des Erlebens zurückzuführen sein. Die Inder behaupten diese Disposition zu besitzen. Aber es konnte nirgends bewiesen werden.«

»Das habe ich früher auch gedacht. Aber es beschäftigt mich nun schon seit mehreren Malen. Ein anderer Fall ist zum Beispiel die Leiche. Sie geht mir nicht aus dem Kopfe. Glauben Sie, daß die Leiche unversehrt ist – das heißt, sie ist natürlich verquollen und aufgeschwemmt, aber ich meine, glauben Sie, daß der Körper intakt sein könnte? Das Ruder, das ich gefunden habe, sah ganz gut – – –«

»Ah, Sie haben ein Ruder gefunden?«

»Ein Ruder? – Nun ja, allerdings. Ich sah es eines Tages da vorne am Sand liegen. Es war ganz erhalten, und man hätte es vielleicht auch benützen können; aber, aufrichtig gestanden, es hat mich davor ein bißchen gefroren. Es ist vielleicht kindisch, ich kann mir aber nicht helfen, und so habe ich es denn wieder in den Flußgang geworfen. Vielleicht ist es weiter unten im Seichten wieder aufgefahren. Man könnte es also noch finden!«

Als wir ein Stück weitergegangen waren, begann van den Dusen abermals von Slim zu sprechen. »Es ist doch seltsam, wenn man sich vorstellt, daß Slim tot ist; daß es fix und fertig ist mit ihm; da er doch ein Mensch voll Lebenskraft war – man kann es kaum fassen. Ich muß sagen, ich habe ihn eigentlich sehr gerne gehabt. Er war ein sympathischer Mensch, ein guter Kamerad und ohne alle Hinterlist.[249] Und dann hatte er auch brillante Ideen. Er war eine wirkliche Jägernatur, in jeder Beziehung. Finden Sie nicht?«

»O ja; ich denke es auch. Es hätte was aus ihm werden können. Es ist lächerlich, daß er so zugrunde ging. Er war besser als irgendein Mensch, er war stets sehr übertrieben, aber dabei besaß er doch eine eigentümliche Harmonie. Er hatte soviel überwunden. Und das Beste war, man konnte ihn hinstellen, wo man wollte, er paßte überall hinein. Ich speziell – –«

»Ja, seine Harmonie war wohl da; er sprach wenigstens immer davon. Aber er war doch auch sehr zerrissen, wie man so sagt, so kompliziert, er hatte eine Neigung zum Paradoxen. – Was ich noch sagen wollte: er hat da zum Beispiel diese eine Idee von den Tropen gehabt. Damit war er sicher im Rechte. Sie kennen sie doch, er sagte, der moderne nervöse Mensch sei eigentlich nur eine Art Wilder, ein Mensch mit geschärften Jägerinstinkten. Ich glaube, er hatte recht. Sollten Sie diese Zustände nicht kennen?«

»Nun ja. Ich weiß nicht recht. Ich kenne es möglicherweise schon, aber ich lege dem kein Gewicht bei. Sie überschätzen mich wahrscheinlich, haha, ich bin ein ganz simpler, normaler Kadaver mit Durchschnittsnerven. Ich bin Ingenieur, wie Sie wissen, also Realist, bei uns gibt es derlei Verwicklungen des praktischen Lebens nicht. In mir sehen Sie einen ehrlichen, geraden Kumpan mit menschlichen Instinkten, einen, der keinem Käfer was Böses tut, einen, der lebt und leben läßt. Das, was Slim über derlei Sachen dachte, ist gewiß sehr fesselnd und amüsant – ich für mein Teil habe aber durchaus keine Prätention zum Nervenmenschen. Sie fühlen sich also krank. Das kommt vom Magen, Charlie, wie Sie vorhin sehr richtig gesagt haben. Sie vertragen einfach diese langweilige Kost auf die Dauer nicht.«

Van den Dusen sagte: »Aber Johnny, Sie sind ein Unglücksmensch, wenn Sie so gesund sind. Übrigens ist das erst die Frage. Jetzt wollte ich Sie dekorieren, ich glaube Slim aufs Wort, daß Nervosität ein Gradmesser der natürlichen Intelligenz ist. Der moderne Mensch läuft durchs Leben wie ein Indianer. Er ist immer am Sprunge. Er ist immer in Fühlung mit den Dingen. Er ist gleichsam der Scharfschütze – er hat den entferntesten Reiz wie eine Kugel im Lauf, er hat schon getroffen, bevor es noch losgeht. Sie verstehen, was ich meine. Für einen guten Schützen ist sein Gewehr zusamt der Flugbahn des Geschosses nur gleichsam ein langer Arm, er beherrscht die ganze Distanz wie ein Organ; wenn er zielt, wippt er mit der Distanz[250] wie mit einem Peitschenende – so geht es auch dem Nervenmenschen. Er hat alle Geschosse im Lauf – er ist ungeheuer voll mit Möglichkeiten, mit Treffern; er hat die Distanz in der Faust. Und nur ein solcher Kerl konnte das entwickeln, was wir Intelligenz nennen, nur ein solcher konnte die distanzüberwindende Maschine erfinden. Wollen Sie das nicht zugeben? Das ist doch klipp und klar?«

»Ach Gott, ja«, sagte ich, »ich bin doch selbst vom Bau, ich müßte das doch auch wissen. Ich bin in derlei Sachen ziemlich skeptisch. Woher wissen Sie denn das alles, wenn ich fragen darf? Wozu denn eine einfache Tatsache durch meilenweite Erklärungen romantisch gestalten? Ich bin prinzipiell dagegen. Woher nehmen Sie das alles?«

»Woher? Wenn Sie damit meinen, daß ich es von Slim habe – na ja, das ist wieder so ein Fall. Ist es Ihnen noch nie aufgefallen, daß man im Leben die Standpunkte innerhalb einer Situation wie Handschuhe wechselt? Es ist unerklärlich, aber es ist doch so. Ich habe da früher, als Slim noch lebte, seinen Ideen stets den Rücken gezeigt. Aber auf einmal denke ich darüber ganz anders und ich bin überrascht, daß ich bei Ihnen auf so prinzipiellen Widerstand stoße. Ich dachte nämlich bestimmt, Sie kännten das auch. Denn seit ich es kenne, und das ist nun schon ziemlich lange her, habe ich darüber nachgedacht. Die Maus zum Beispiel lebt in steter Angstneurose. Bei einem Pferde ist es ausgemacht, daß seine Scheubarkeit in geradem Verhältnis zu seiner Güte steht. Nun sehen Sie aber mal in einen Djungle hinein: wieviel krankhafte Aufmerksamkeit und Wachsamkeit hier herrscht. Wie hier alles auf den Zehen und als wandelndes Arsenal von Beobachtungen geht. Ein solches Tierherz hat keinen Augenblick Ruhe, es kommt aus dem Pochen nicht heraus. Es riecht, ja riecht überall den Feind. Es hat einen ganz subtilen, nahezu schon übersinnlichen, ja telepathischen Apparat in seinen verflixten Nerven. Und genau so wie diese Bestie aus den Tropen lebt heutzutage der Mensch, ein aufreibendes, gefährdetes, wildes Leben. Es sollte mich wundern, wenn Sie das nicht verstehen!«

»Nicht verstehen, davon ist keine Rede. Ich verstehe es wohl. Ich kann es aber nicht billigen. Ich finde, das ist alles – Jägerlatein.«

»Jägerlatein, ja, das ist es wohl. Da haben Sie einen Fund gemacht. Es gibt heute mehr Jägerlatein als je. Ich werde überhaupt ein Buch schreiben, das ›Jägerlatein‹ heißt. Das fügt sich gut, Sie treten mir doch das Wort ab? Das ist es ja gerade; gerade[251] weil heute das Jägerblut durchschlägt, gibt es auch mehr Jägerlatein, das gehört mit zur Sache. In diesem Worte haben Sie vielleicht den ganzen Slim. Seine Harmonie bestand darin, daß er alle diese negativen Dinge, dieses Krankhafte, Neurasthenische, Sinnliche und Barbarische in uns betonte. Er war einfach das gotische Prototyp.«

»Charlie, um Ihre Nerven zu beruhigen, schreiben Sie schnell ein Buch, das die ›Goten‹ heißt.«

»Die Goten sind nämlich die blonden Indianer. Ist die Ähnlichkeit dieser knochigen, langen, mit scharfen Nasen versehenen Profile denn ein Zufall? Ist die von den Römern bemerkte Schärfe der Augen denn ein Zufall? Ist es ein Zufall, daß sie beide lange federnde Knochensysteme haben? Ich wage die Behauptung, ein ähnlich sinnliches Volk, wie die Goten, hat es vorher nur als Indianer gegeben. Schauen Sie sich die alten germanischen Yankees, bevor die heutige Keltisierung noch eingesetzt hatte, an. Da ist gar kein Unterschied mehr bis auf den Teint. Und wenn Sie eine Reise mitten in die Tropen unter ein indianisches Volk hineintun, was erleben Sie da anders als eine Art Gotik? He? Ich frage einen Menschen, ob das nicht auffallende Dinge sind? Die Goten sind ein nervöses Volk von Urbeginn an. Als sie nach Europa kamen, Johnny, nehmen Sie Ihre Schulvergangenheit zusammen, was fanden sie da? Ja, da fanden sie den Bürger, den Ureuropäer, den Flachschädel, verstehen Sie? So lange sie sich rassekräftig hielten, hatten sie eine prachtvolle wilde Kultur, ein wunderschönes edles Ding von Leben. Dann aber ging die Rasse der Langschädeligen mit den monströsen Gehirnbildungen in der der Flachköpfe unter. Ihre hysterische Kultur versank in einem apathischen Mittelmaß. Aber die Zeit ist jetzt wieder vorüber. Die gotische Jägerrasse setzt sich siegreich im Mischblut der Kontinente durch. Slim, fürwahr, ist trotz seiner Unzen Afrika und Peru ein solcher Gote gewesen!«

»Zweifellos, zweifellos, das ist alles nicht unsympathisch. Ich glaube Ihnen auch gerne, daß Sie ein solcher Nervenmensch, ein solch gotischer Nervenmensch sind. Ich kann das ja nicht wissen, ob Sie an Angstzuständen leiden oder nicht. Und Slim ist zweifellos ein schwerer Hysteriker gewesen. Er hat es mir selbst einmal gesagt, er hat eine fabelhafte Berechnung für die seelischen Prozesse seiner Umgebung gehabt. Aber es ist mir unverständlich, was das mit diesen Indianern zu tun hat. Das ist alles Aas. Das faulenzt – wo bleibt die Entwickelung, die Technik, das Geistige?«

»Ich sehe wohl«, sagte van den Dusen, »hier fehlt es mir an[252] Studium. Ich weiß das noch nicht. Aber wissen Sie etwas von dem Sittensystem dieser Leute, von ihrer Erotik, ihrer Kunst – – das alles mag sich ja nach einer anderen Richtung entwickelt haben, durch einen Zufall aber überhaupt nicht. Und dann sind Sie diesmal ein schlechter Psychologe. Der Indianer wäre zu stolz, um den Goten etwas abzunehmen, das nicht aus ihm selber kommt. Unterschätzen Sie diesen Stolz nicht. Nehmen Sie bloß den einen Fall an: zwei Menschen gehen nebeneinander und der eine hat einen Einfall, der andere hat ihn nicht und erkennt ihn deswegen als für sich ungültig an. – – Oder der andere hat ihn auch, jetzt geschieht aber das Unglück, daß der andere ihn früher äußert – –«

»Sie sind ein Schüler Slims!«

»Mhm! das mag sein. Ich habe Slim vielleicht beerbt. Es gibt doch ganz merkwürdige Beziehungen. Adieu, Johnny! Ich kehre jetzt um, ich glaube, ich bekomme wieder Fieber. Am besten ist es, Sie gehen gleich hier in den Djungle. Beim Wasserfall müßten Sie über die Felsen. – Bessern Sie sich, Johnny!«

Wir sahen uns an. Ich trat als wurmartiges tintenfarbiges Wesen mit einem kugelrunden Kopfe in seine Ovale. Sein Mund schien schmerzlich verzogen. Er ging mit eigenen Schritten den Weg zurück, mit parallel gestellten Füßen und gewölbten Schenkeln, so daß die Hosen prall anlagen. Es war etwas Neuartiges in seinem Gang, etwas Schleichendes, das an Slim erinnerte. Und nun sah ich ihm gleichsam von hinten her sein Gesicht an, es war bärtig, aber hinter dem Bart hatten sich lange strähnige Falten gebildet. Es war das Gesicht, wie es rasch lebende, gespannte, hysterische Rassen besitzen. In der Tat, er hatte jetzt einige Ähnlichkeit mit Slim.

Quelle:
Robert Müller: Tropen. München 1915, S. 243-253.
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