Das alte Lied

[37] Da klingt im Wind das alte Lied

voll Seufzer und voll Tränen –

durch meine müde Seele zieht

ein namenloses Sehnen;

es ist, als ging ich ganz allein

auf schneeverwehter Halde

und träumt vom goldnen Sonnenschein,

dem ersten Grün im Walde.


Du wonnesel'ge Jugendzeit,

heut laß mich dein gedenken,

in deine Tiefen all das Leid

des grauen Jetzt versenken, –

daß wie ein Blumenkelch betaut

mein Aug' noch einmal strahle;

du lockst so süß wie Glockenlaut

in meinem Heimattale.


So sei gegrüßt, mein Morgenstern,

um den die Nebel weben!

Du warst ein Traumbild, licht und fern,

doch wert ein ganzes Leben!

und ob ich abgrundtief in Pein,

in Schuld und Weh versänke:

Ich kann nicht ganz verloren sein,

so lang ich dein gedenke.

Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 37-38.
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