Das erste Lied

[18] Das erste Lied, das ich gesungen, –

um die Kritik war mir nicht gram, –

von meinen Lippen ist's geklungen

so frisch, wie's mir vom Herzen kam.
[18]

Ich reimte »sehnen« mit »erkennen«

und »dich« mit »nicht« und »Tag« mit »Nacht«;

doch kann kein Fürst sich reicher nennen,

als mich mein erstes Lied gemacht.


Das Kunstgefühl für Maß und Einheit

hat mich kein Menschenmund gelehrt,

mit Silbenzahl und Formenreinheit

hatt' ich mir nie das Herz beschwert . . . .


Ich ahnte nur, daß tief im Grunde

der Zukunft weltverloren schlief

ein Etwas, das mir jede Stunde

ein »Singe!« in die Seele rief!


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 18-19.
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