Die Liebe höret nimmer auf

[32] Zum Totenfest


Verklungene Lieder, verblaßtes Blau, –

wie kühl der Wind und die Welt wie grau!
[32]

Die letzte Rose am Hag verblüht,

ein Tränenregen vom Himmel sprüht.


So schal und dunkel des Jahres Rest –

die Glocken läuten zum Totenfest.


Der Mund, der schmeichelnd dich einst geküßt,

ward kalt und stumm, nun du elend bist –


der Arm, der schützend dein Haupt umschlang,

er ruht im Grabe und modert lang, –


und das Aug', das lächelnd das deine traf,

nun schläft es den tiefen, den ewigen Schlaf. –


Und was dich freute, und all, was dein,

das sollt für immer verloren sein?!


Was irdisch, wurde der Erde Raub;

bekränze den Hügel, – den Staub zum Staub.


Dann aber den tränenden Blick hinauf:

»Die Liebe, sie höret nimmer auf!«


Wer heiß geliebt und wer hoch gestrebt,

der ist nicht begraben und tot, der lebt –


Das Samenkorn, das wir der Erde vertraut,

wird keimen, sobald der Himmel blaut,
[33]

Und das Auge, das heut in Schmerzen weint,

wird lächeln, wenn wieder die Sonne scheint.


O Tag der Toten, du Tränentag:

Wie trüb der Himmel auch scheinen mag,


wie tief auch Hügel und Tal verschneit:

Ich glaub an die kommende Frühlingszeit, –


ich schlage das Auge zum Licht hinauf

und weiß: Die Liebe hört nimmer auf!


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 32-34.
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