Im Dämmerschein

[35] Verronnen ist der schwüle Tag,

verrauscht ist Sturm und Wetterschlag,

und durch die regenfeuchte Luft[35]

weht träumerischer Lindenduft; –

es spinnt die Welt ein Zauber ein:

Ich harre dein!


Ich harre dein seit langer Zeit;

gewintert hat es und gemait, –

für jede Rose, die erblich,

entfaltet eine andre sich;

aus jeder Nacht bricht Frührotsschein:

ich harre dein!


Ich harre dein am alten Platz, –

und weißt du's noch, herzlieber Schatz,

weißt noch, wie du vor Jahresfrist

allabendlich gekommen bist?

Allabendlich im Dämmerschein

ich harrte dein!


Nun dünkt's mich fast ein süßer Traum;

vorm Haus der alte Lindenbaum,

die alte Sehnsucht in der Brust

nach Märchenzauber, Liebeslust –

und rings die Welt im Dämmerschein

und ich allein! –


Und unten tief im Böhmerland

ein Städtchen liegt an Bergesrand;

der letzte feuchte Abendstrahl

küßt Meeresstrand und Felsental –

es spinnt auch dich der Zauber ein:

Gedenkst du mein?

Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 35-36.
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