Sonnenandacht

[17] Du tauchst empor aus Tau und Tag,

du wandelst über Hain und Hag,

du liebe, leuchtende Sonne!

Du gibst dem Mai den Blütenschein

und schenkst dem Herbst den Feuerwein

und allem Leben Wonne.


Du bist das große reine Licht,

das sich in schillernden Sümpfen bricht

und Lilien lockt aus Tiefen . . . .

du bist die Schleierhebende,

die Zeugende, Belebende,

nach der die Keime riefen.


Große Mutter, in deinem Licht

werde ich fromm; mein Trotz zerbricht,

meine Lippen lernen das Beten.

Ich bin bereit, aus Nacht und Schuld

an deinen Tag, in deiner Huld

flammenden Kreis zu treten.


Große Mutter, mein Fehlen und Irr'n

bekenne ich dir: ich neigte die Stirn

vor den Schatten auf Erden.

Ich war so schwach, ich war so klein –

große Mutter, ich war nicht dein;

aber dein will ich werden!
[17]

In einen lauteren Goldpokal

fang ich jeden leuchtenden Strahl

der lebendigen Sonne . . . .

Meine Stirn wird klar, mein Arm wird stark:

ins Leben gießt du mir Glut und Mark

und ins Sterben mir Wonne.


Sterben? – Mutter, mein Lachen klingt!

Auf den Flügeln der Lerche schwingt

es sich hoch in ewige Bläuen.

Sterben mag, was da taub und blind . . . .

sonnengesättigt wird sich dein Kind

tönenden Lebens freuen.


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 17-18.
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