Spätsommer am Strand

[23] Da weht von Süd ein sanfter Hauch

aus sonnenlichten Tagen;

die goldbelaubten Aeste dehnt

der Ahorn voll Behagen.

Kein Vogelsang, – kein Blütenduft, –

die weiche, warme Sommerluft

säuselt in allen Hagen.


Nun schaun sich schier verwundert an

die schweigenden Zypressen;

es ist, als habe der flüchtige Lenz

sein Lebewohl vergessen

und ginge noch einmal über das Feld,[23]

die blasse, sommermüde Welt

an seine Brust zu pressen.


Durch nackte Zweige schweift der Blick

auf graue Wellenpfade:

die weißen Wasser tummeln sich

am träumenden Gestade;

sie flüstern und raunen wie Liebesgruß,

sie kosen und spielen um deinen Fuß,

leuchten und locken zum Bade.


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 23-24.
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