Alte Sehnsucht

[251] Und diese Sehnsucht nach dem grünen Meer

nach Capris duftgetränkten Trümmerfeldern,

nach seinen Vignen, schattig, traubenschwer,

nach seinen Oelbaum- und Cacteenwäldern:


Die alte Sehnsucht, die uns südwärts trieb

und nicht erlosch an Barjas Rosenborden,

die heiß lebendig uns im Herzen blieb

und ihre Netze spann im grauen Norden –


heut wird sie Herr! – Den vollen Becher Weins

bringe ich ihr. Wir wollen wieder wandern

und Südlands Sonne trinken, bis wir eins

erloschen und ertrunken sind im andern.


Dann senkt sie still das Haupt zum klaren Grund,

die bunten Muscheln schimmern ihr zu Füßen,

und den geschlossenen Sirenenmund

werden des Golfes kühle Lippen küssen.


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 251-252.
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