Ein Lebensabschnitt

[247] In die weitoffenen Bogenfenster

des Konsulats zu Napoli

sang der Golf.

Maisonnenbrand

glühte drüben

auf den Dächern der Straße

und tauchte in flackernden Goldschein

die Silberspitzen des Olivenbaums.

Am fernsten verblauenden Horizont

hingestreckt

lag dämmernd in träger Ruhe

Sphinx Capri –

Mir gegenüber

an dem eichgetäfelten

bücherbedeckten Bureautisch

stand ein junger, blonder, deutscher Beamter

und schrieb.

Schrieb meinen Namen

in sein Buch,

meinen Wohn- und Geburtsort

und den Tag,

an dem ich das Licht erblickt, –

und wie meine Eltern geheißen,

wo sie geboren und gestorben,

und meine Großeltern und Urgroßeltern,

und erforschte meine ganze Genealogie

bis ins dritte und vierte Glied

rückwärts hinauf.

Hinter ihm an der Wand,

– mit schwarzen Flecken besät[248]

wie ein Typhussterbender –

hing die Malariakarte;

und darunter

auf lederbeschlagenem Lehnstuhl,

schlief

die Norddeutsche Allgemeine Zeitung.

Neben mir aber

auf leichtem italischem Rohrgeflecht,

den Caprihut auf graumeliertem Kraushaar,

in den Augen die blaue Tiefe der Ostsee,

mein Lebensglück . . .

und der junge, blonde, deutsche Beamte

fragte auch ihn,

wie er heiße,

wo er geboren

wes Ranges und Standes er sei –

und seine Eltern gewesen seien –

und er erforschte auch seine Genealogie

bis ins dritte und vierte Glied rückwärts hinauf.

Wir aber saßen

dicht beieinander

und sahen uns an,

lächelnd und stumm.

Bis die Tür sich auftat

und ein hochgewachsener Mann

im hellgrauen Sommerjacket,

die rote Nelke im Knopfloch,

auf der Schwelle erschien –

und der Herr Generalkonsul

mit tönender Stimme

uns das Protokoll vorlas

und fragte,[249]

ob wir Mann und Frau sein wollten.

Wir sagten »Ja«.

Da brach ein mittagliches Flammenmeer

durch die Bogenfenster des Konsulats

und wob eine Gloriole

um das blonde Haupt des jungen deutschen Beamten;

über die Malariakarte

ging ein Schauer von Licht –

und in deine Augen

kam ein tiefes, blaues, seltsames Leuchten.

Du lüftetest den Caprihut

und gabst mir die Hand.

Und wir standen beide

eng aneinander,

Auge in Auge, Hand in Hand,

eines Wesens und Namens,

lächelnd und – stumm . . .


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 247-250.
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