Aus Wüstenbrand

[188] Du, den ich ahnte in den heiligen Stunden,

da meine Sehnsucht nach den Höhen flog, –

den ich gesucht und den ich nicht gefunden,


du, dessen Hauch wie Sturmwind mich bewegt,

der aus des Hindufürsten Purpurgärten

den Blütenstaub in Schiras Kelche trägt, –


du, dessen Lied mir im Geraun der Wogen

mit Schmeichellauten in die Seele sang,

du, der mir rief und der mir stets gelogen . . . ..


den ich in Mitternächten toller Lust

auf meinen Brüsten zu verbrennen wähnte,

o du, o du, von dem ich nie gewußt:


– Schau her! Am Steingeröll und Dorngeheg

flattern die Fetzen meines Pilgerkleides.

blutige Spuren zeichnen meinen Weg.


Auf meinem Scheitel liegt der Staub der Wüste,

mein Auge späht, von Glut und Tränen blind,

vergeblich aus nach der verheißnen Küste.
[188]

Von finstern Schroffen, die kein Fuß erklomm,

aus brennendem Sand, den König Tod sich wählte

zum Sommersitz, klingt mir dein Lockruf: »Komm!«


Und diesen Weg, von Jammerlaut und Fluchen

erfüllt, vom Blut Verlorener gedüngt,

ich muß ihn wandern, denn ich muß dich suchen! –


O du, der mich wie blinkend Glas durchschaut,

der auf den trotzigen Trümmern meines Wollens

der eignen Stärke Hochburg lachend baut:


wenn dich ein Frauenschoß in Leid geboren,

wenn eine Mutter liebend dich geküßt,

so laß dich finden, sei mir nicht verloren!


So laß dich finden: deiner harrt die Kraft,

die Kraft der Höhen, die da Freiheit spendet,

die Kraft der Tiefen, die da Leben schafft!


Wenn schon dein Schatten mir ein flutend Leben,

dein blasses Abbild mir ein Höhenglück

und aller Schmerzen Herrlichkeit gegeben –


so komm du selbst! Komm eh die Kraft versagt

und über Bestien, die mein Herzblut trinken,

der fahle Wüstenhimmel tagt . . . . . . .

Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 188-189.
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Der Freiheit zu eigen: Gedichte 1884-1905