Die Ernte

[173] Weiße flimmernde Sonnenflut

rings auf den wogenden Weiten ruht;

rüstige Mäher bei scharfem Schnitt – –

schwirrende Sensen singen mit:

Die Halme fallen.


Und hart am staubigen Straßenrain

schafft tief gebückt ein Mütterlein;

schon manche brennende Stunde lang

sirrt und surrt der Sichelklang – –

Die Halme fallen.


Da schaut aus schimmerndem Aehrenfeld

der Gutsherr auf zum Wolkenzelt:

– »Vorwärts, ihr Leute, die Stunde rinnt!

In den Klüften murrt der Gewitterwind –«

Die Halme fallen.


Und in den perlenden Abendtau

blickt so fröhlich die alte Frau;

sie wischt von der Stirne den hellen Schweiß

und zählt im Geiste der Garben Preis.

Die Halme fallen.


– »Vorwärts, ihr Knechte! die Stunde rinnt!

Mein Mahl bereitet das Ingesind;

mein Weib umrauscht ein seidener Flor – –

und der Jude wartet am Gartentor.«

Die Halme fallen!
[173]

Und müde legt nach des Tages Brand

das Weib die Sichel aus der Hand:

»Du goldner Segen auf schmalem Feld,

du gibst mir Brot und du schaffst mir Geld!« –

Die Halme fallen.


– »Vorwärts, ihr Hunde, verdient den Lohn!«

Er denkt an seinen fernen Sohn.

Der schnellste Reiter auf blachem Feld

und der Gott der Weiber – das kostet Geld! –

Die Halme fallen.


»Und all das Gold« – die Alte sinnt –

»in die Ferne schickt ich's dem einzigen Kind.

Sie trieben ihn fort von Haus und Huf,

nun harrt er drüben der Heimat Ruf:

Die Halme fallen.


Und kehrt er heim, wenn der Himmel loht,

wenn der Weizen reif und das Mohnfeld rot,

dann faßt er die Sense zu heißem Schnitt –

und ich laufe und sammle und jauchze mit:

»Die Halme fallen!«


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 173-174.
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