Ewige Erkenntnis

[165] Da kamst du, totes Mütterlein,

und sahst mich an mit Liebesblick

und legtest zärtlich deinen Arm

um meine jugendstarke Brust, –

und von den lieben Lippen klang

der Jubelschrei:

O Gott, wie die Glückseligkeit

dem Kinde in den Augen glüht!


Und alles Leid, das zwischen uns

die Berge von Gilboa hob,

zerrann wie Tau im Morgenschein.


Nun siehst du, totes Mütterlein,

wie heilig deines Kindes Glück:

so weltenweit, so himmelhoch,

daß es aus Edens Gärten dich

hinab ins Tal der Schmerzen zog, –

daß dir, die Gottes Angesicht

und aller Himmel Glorien sah,[165]

in deines Kindes Augen erst

der ewigen Erkenntnis Blick

Vollendung ward der Seligkeit . . .


Nun schlafe, totes Mütterlein!


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 165-166.
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