Helle Nächte

[167] Siehst du, wie tief schon die Sonne steht

und wie so rot ihr Licht?!

Ob sie in funkelnden Wassern zergeht,

uns beiden stirbt sie nicht.

Uns leuchtet die Nacht, die niedersinkt

und ladet zum letzten Genuß – –

und unsre lebendige Seele ertrinkt

jauchzend im Schöpferkuß!
[167]

Du und ich, wir beide

träumen in trunkner Nacht.

Von verblaßter Seide

sind wir überdacht.

Ein Flimmern wie vom Tage

fließt um den schwarzen Tann –

eine blasse süße Sage

sieht uns lachend an.


Sie singt: »wenn zwei sich finden,

die sich von je gehört,

ein Leuchten soll es künden,

das keine Nacht zerstört.

Ein Singen soll es sagen,

das nicht im Sturme zerrinnt« –

und in den Syringenhagen

säuselt Mittsommerwind.


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 167-168.
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